Donnerstag, 25. April 2024

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"Wissenschaftsfreiheit geht weiter als Meinungsfreiheit"

Patrick Honecker: Spitzenwissenschaftler stehen unter scharfer öffentliche Beobachtung. Das hat unlängst erst die Diskussion über die Folteräußerungen des Münchner Bundeswehrhistorikers Michael Wolffsohn belegt. Was es heißt, an prominenter Stelle zu forschen und gleichzeitig unpopuläre Äußerungen zu machen, muss derzeit auch der Kirchenhistoriker Gerhard Besier erfahren. Als Leiter des Dresdner Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung hat er sich mehrfach als Apologet von Scientology geoutet. Jetzt will sich das Kuratorium des Instituts mit möglichen personellen Konsequenzen beschäftigen. Am Telefon ist der Präsident des deutschen Hochschulverbands Professor Bernhard Kempen. Der Jurist lehrt Öffentliches Recht an der Universität Köln. Herr Kempen, was sind die Haupttugenden für den Leiter einer wissenschaftlichen Einrichtung?

Moderation: Patrick Honecker | 18.06.2004
    Bernhard Kempen: Die Haupteigenschaft eines Leiters einer wissenschaftlichen Einrichtung muss seine wissenschaftliche Unabhängigkeit sein. Das gilt für die Professoren, die in den Universitäten Institute und Lehrstühle inne haben genauso, wie für diejenigen, die als Leiter eines Aninstituts oder eines Technologie-Transfer-Unternehmens tätig sind.

    Honecker: Gehört politische Konformität zu den Grundvoraussetzungen?

    Kempen: Überhaupt nicht. Politische Konformität führt dazu, dass die Sache wissenschaftlich steril beziehungsweise unfruchtbar wird. Politische Konformität ist geradezu der Feind jeder Wissenschaft.

    Honecker: Darf sich denn ein leitender Wissenschaftler offen für eine umstrittene Gemeinschaft wie Scientology aussprechen?

    Kempen: Ich finde, Wissenschaftler müssen nachdenklich sein und sie müssen auch das Recht haben, über unbequeme Dinge und Themen, die die Menschen bewegen, laut nachzudenken. Das ist ihre Aufgabe. Auch wenn das mal vorübergehend nicht in den Kram passt, wenn das politisch sozusagen "incorrect" ist, muss es trotzdem dabei bleiben, dass Wissenschaftler über solche Dinge nachdenken und das beleuchten dürfen. Wenn Sie sich die Vorgänge anschauen, ob das nun der Fall Wolfssohn ist oder der Fall Besier, dann werden Sie sehen, dass die beiden eigentlich nicht einseitig Partei ergriffen haben oder eine feste Position eingenommen, sondern sozusagen einen Stein ins Wasser geworfen haben, um einen Prozess des Nachdenkens in Gang zu setzen.

    Honecker: Um das noch einmal ganz deutlich zu machen: Professoren können sich neben der Freiheit von Forschung und Lehre auf das Grundrecht der freien Meinungsäußerung berufen. Wird dieses Grundrecht an exponierter Stelle aufgehoben?

    Kempen: Nein, das kann nicht ohne weiteres aufgehoben werden. Wenn Wissenschaftler tätig sind, sei es in Vortragsveranstaltungen oder in Interviews, dann haben sie das Recht der Forschung und Lehre, der Wissenschaftsfreiheit im weiteren Sinn. Das geht viel weiter als die allgemeine Meinungsfreiheit, die jedermann zusteht. Die Wissenschaftsfreiheit unterliegt bei weitem nicht so weit reichenden Schranken wie die Meinungsfreiheit, und das ist auch gut so. Nur auf diese Weise können wissenschaftliche Prozesse in Gang gehalten werden und kann die Wissenschaft in Gang gehalten werden.

    Honecker: Treten Forscher leichter in Fettnäpfchen, weil sie daran gewöhnt sind, im Rahmen enger Disziplinen zu denken?

    Kempen: Die Frage muss doch eigentlich die sein: Wer stellt die Fettnäpfchen auf und nicht, wer tritt hinein. Es ist bei uns so, dass die Gesellschaft die veröffentlichte Meinung überhaupt der Willensbildungsprozess in der Republik mittlerweile eine Form angenommen hat, dass wir uns gegenseitig darin übertreffen, Fettnäpfchen in irgendwelche Ecken zu stellen und darauf zu warten, dass jemand hineinstolpert. Ich glaube, das ist das eigentliche Problem. Dass Wissenschaftler lau t nachdenken, das ist gut so. Wir verlieren an wissenschaftlicher Exzellenz und an wissenschaftlicher Leistung, wenn wir überall Tabuzonen errichten, Gedankenverbote. Das kann auf keinen Fall in unserem Sinne sein.