Donnerstag, 28. März 2024

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Witwe für ein Jahr

John Irving liebt lange Romane. Unter siebenhundert Seiten hat er es wieder nicht gemacht. "Witwe für ein Jahr" - ein Schmöker. Der beste seit "Hotel New Hampshire", um das gleich zu sagen. Irving sagt, das Schreiben sei wie ein Kampf. Irving ist Ringer und trainiert täglich drei Stunden in seiner Turnhalle. Man müsse auf eine Geschichte zugehen wie auf einen Gegner." Doch der Gegner sei dieses Mal ein Leichtgewicht gewesen. Irving bekennt sich zu seiner Rolle als allwissendem Erzähler. Er finge gar nicht erst an zu schreiben, wenn er das Ende des Romans nicht kenne. Autoren, die so tun, als könnte man seine Geschichte im Prozeß des Schreibens entwickeln, mißtraut er. Und wen er noch weniger schätzt, sind jene Kollegen, die mit theroretischem Rüstzeug an die Arbeit eines Romans gehen."Ein guter Romanautorr hat keine Theorie". Die Selbstverständlichkeit, mit der Irving sein literarisches Credo vorträgt, befremdet und fasziniert zugleich: "Nein, ich habe für meine Romane überhaupt keine Theorie. Am Anfang meiner Romane stehen die Figuren, wie sich ihre Wege kreuzen, ein ganzes Leben lang. Mich interessieren Lebensgeschichten. Wer Theorien zum Leben hat, sollte Sachbücher schreiben und keine Romane. Romane handeln nicht von etwas. Romane sind die Form für eine gut gebaute Geschichte. Romane, die mir gefallen, haben keine tiefere Bedeutung. Was zählt, ist allein das, was auf dem Papier steht."

Hajo Steinert | 10.03.1999
    Das Credo eines Erzählers, der seine Intelligenz mit vorgespielter Naivität tarnt. Irving gefällt sich in der Rolle des Anti-Intellektuellen, und sei es, daß er sie nur spielt, weil er keine Lust hat, die immergleichen Fragen gestellt zu bekommen. Journalisten gehören nicht unbedingt zu den Lieblingsmenschen John Irvings. Daß er dieses Mal eine gute Geschichte geschrieben habe, davon ist er so überzeugt wie von seiner Leistungsstärke als Ringer, auch wenn der 56jährige heute nur noch in der Seniorenklasse mithalten kann. Der Mann zeigt Muskeln, in jeder Beziehung und jedem, der sie sehen will. "Die Geschichte ist einfach gut", so John Irving. "Flott erzählt. Dabei ist sie viel leichter zu verstehen als irgendeiner meiner letzten vier Romane. Eine chronologische Erzählweise - das ist für mich, den Autor, wie auch für den Leser eine leichtfüßigere Angelegenheit als jene Romane, die eigentlich erst in der Mitte richtig zur Sache kommen. Romane, die ihren Handlungsverlauf mit Rückblenden unterbrechen müssen, um in der Geschichte voranzukommen. Denken Sie nur an meine früheren Romane: ‘Zirkuskind’, ‘Gotteswerk und Teufels Beitrag’, ‘Owen Meaney’. Einen streng chronologisch erzählten Roman habe ich seit ‘Hotel New Hampshire’ nicht mehr geschrieben. ‘Witwe für ein Jahr’ ist meine Rückkehr zu einer simpleren Form des Erzählens. Neu ist allerdings: Der Roman ist wie ein Theaterstück aufgebaut."

    Irving erzählt in "Witwe für ein Jahr" eine Familiensaga. Im Zentrum steht eine gewisse Ruth. Wir erleben sie als vierjähriges Mädchen im Jahre 1958, als 36jährige Frau Anfang der neunziger Jahre und, im dritten Kapitel, als 41jährige. Ruth ist Schriftstellerin, sie verkörpert John Irvings bis heute entschiedensten Schritt, eine Frau zur Hauptfigur eines Romans zu machen. Vieles, was Ruth sagt, über Journalisten, Literatur und die Frankfurter Buchmesse zum Beispiel, könnte auch aus dem Munde Irvings stammen. Aber warum eine Frau als Hauptfigur? "Nun, niemand würde es gewagt haben, Tolstoi zu fragen, warum er 'Anna Karinina' geschrieben hat, oder Flaubert ‘Madame Bovary’, statt ‘Mister Bovary’. Ein Autor, der nicht in die Rolle des anderen Geschlechts schlüpfen kann, sollte keine Romane schreiben."

    In ihrem Beruf ist Ruth äußerst erfolgreich, ihr Privatleben ist eine einzige Katastrophe. Das hängt mit ihren Kindheitserfahrungen zusammen. Ihre Mutter Marion geht aus dem Haus, als Ruth vier Jahre alt ist. Ihren Kummer über den tödlichen Autounfall zweier Söhne und die Trostlosigkeit der Ehe mit einem seelisch angeknacksten Kinderbuchautor versucht Marion vermöge einer gezielten Inanspruchnahme der körperlichen Vorzüge eines 16jährigen Jünglings zu bekämpfen. Sie macht Eddie zu ihrem Gespielen.Täglich läßt sie ihn, den allein schon die unrasierten Achselhaare Marions in Raserei versetzen, ran. "Ich bin sicher, daß Frauen meinen neuen Roman mehr lieben als Männer. Das trifft ja auf alle literarisch ambitionierten Romane zu: Frauen sind die besseren Leser, sie vertrauen literarischen Fiktionen mehr als Männer. Jeder erfolgreiche Schriftsteller auf der Welt hat mehr Leserinnen als Leser - wenn du nicht gerade so ein Zeug schreibst wie Tom Clancy oder John Grisham. Die mögen in der Tat mehr Leser als Leserinnen haben. Geschenkt. Aber was die schreiben, hat ja wohl nichts mit Literatur zu tun."

    Von einem Tag auf den anderen verschwindet sie aus Bridgehampton, Long Island, und verabschiedet sich somit nach dem ersten Drittel des Romans (beinahe) auf Nimmerwiedersehen. Eddie kann bis ins gestandene Mannesalter hinein Marion nicht vergessen. Und Ruth, wie geht sie mit dem Trauma des Verlusts ihrer Mutter um? - Sie schreibt Romane. Sehr erfolgreiche Romane. Der, von dessen Zustandekommen in "Witwe für ein Jahr" die Rede ist, handelt vor allem von Sexualität.

    Der dramatischste Teil des Romans spielt im Rotlichtbezirk in Amsterdam. Hier hat John Irving ausgiebigst recherchiert. Um sich der Banalität, des Gewöhnlichen, des Sexus im Zeitalter seiner universellen Käuflichkeit zu vergegenwärtigen, zwingt sich Ruth dazu, buchstäblich Augenzeuge des Geschäfts zwischen Hure und Freier zu sein. Für sie ist Sex - im Gegensatz zu ihrer vermißten Mutter - alles andere als gewöhnlich. "Unterschätzen Sie nicht Ruths sexuelle Situation", so Irving. "Sie ist sehr verunsichert und gleichzeitig offen für alles. Ihr Vater hat mit ihrer besten Freundin gevögelt. Für den Mann, der sie heiraten will, entwickelt sie nicht die körperlichen Gefühle wie für jenen Kerl, den sie an der Bushaltestelle kennenlernt. Der allerdings vergewaltigt sie am Ende. Ruths Sex-Leben ist der totale Streß. Einer Prostituierten beim Vögeln zuzuschauen - das ist nicht ihr wirkliches Interesse. Sie will nur wissen, wie man es macht. Vor allem: wie gewöhnlich der Sex ist."

    Ruth will alles beobachten. Ruth darf sich in einem ausgewählten Etablissement hinter dem Schrank verstecken und zusehen. Zusehen darf auch der Leser. Er wird regelrecht zum Voyeuer, so akribisch leuchtet John Irving das Ambiente aus. Doch auch hier, wo der Sex endgültig zu einer Form des nach strengen Regeln geordneten Publikumsverkehrs geworden ist, macht Ruth die Erfahrung, daß Sex und Gewalt nicht voneinander zu trennen sind. Sie wird zufällig Zeuge, wie jemand eine Prostituierte in der Liebeskoje ermordet.

    John Irving interessiert nicht, wer der Täter ist, ob er gefangen wird. "Witwe für ein Jahr" ist kein Krimi. Vielmehr eine subtile psychologische Studie über einen Menschen, der sich freiwillig in Extremsituationen bringt, um sich von der Last seiner Vergangenheit und seinen aktuellen seelischen Verkrustungen zu befreien. Doch auch hier, da ein Exkurs über Psychologie, über Freud mithin (Irving hat einige Semster in Wien studiert) anheben könnte, block Irving ab. "Sigmund Freud ist als Autor interessant, nicht als Denker. Seine Ideen haben mich nie sehr beeindruckt. Er kann gute Geschichten erzählen. Er ist für mich ein Romanautor."

    Und wieder zwingt er alle Anstrengungen des Interviewers, auf die Idee hinter seinem Roman zu kommen, auf die Matte. "Ich habe keine Ideen." Wer's glaubt, wird selig. Aber vielleicht sollten wir uns für dieses Mal mit dem Resumée begnügen: Irving kann wie kaum ein anderer Romancharaktere entwerfen, die einen nachhaltig beschäftigen, einen fesseln. Er ist in der Tat ein 'geborener Erzähler'. Seine literarischen Kunden ziehen Kreise. "Ich war wieder in Holland, als das Buch dort veröffentlicht wurde. Als ich durch den Rotlichtbezirk ging, hat man mich wiedererkannt. ‘Hey, warum hast du nicht mit mir geredet!’, riefen die Mädels mir zu. Dieselben übrigens, die sich mir bei der Recherche zum Roman verweigert hatten. Jetzt wußten sie, wer ich bin. Eine war sogar eine richtige Leserin. 'Olalà, sie sind dieser John Irving!’"