Irving erzählt in "Witwe für ein Jahr" eine Familiensaga. Im Zentrum steht eine gewisse Ruth. Wir erleben sie als vierjähriges Mädchen im Jahre 1958, als 36jährige Frau Anfang der neunziger Jahre und, im dritten Kapitel, als 41jährige. Ruth ist Schriftstellerin, sie verkörpert John Irvings bis heute entschiedensten Schritt, eine Frau zur Hauptfigur eines Romans zu machen. Vieles, was Ruth sagt, über Journalisten, Literatur und die Frankfurter Buchmesse zum Beispiel, könnte auch aus dem Munde Irvings stammen. Aber warum eine Frau als Hauptfigur? "Nun, niemand würde es gewagt haben, Tolstoi zu fragen, warum er 'Anna Karinina' geschrieben hat, oder Flaubert ‘Madame Bovary’, statt ‘Mister Bovary’. Ein Autor, der nicht in die Rolle des anderen Geschlechts schlüpfen kann, sollte keine Romane schreiben."
In ihrem Beruf ist Ruth äußerst erfolgreich, ihr Privatleben ist eine einzige Katastrophe. Das hängt mit ihren Kindheitserfahrungen zusammen. Ihre Mutter Marion geht aus dem Haus, als Ruth vier Jahre alt ist. Ihren Kummer über den tödlichen Autounfall zweier Söhne und die Trostlosigkeit der Ehe mit einem seelisch angeknacksten Kinderbuchautor versucht Marion vermöge einer gezielten Inanspruchnahme der körperlichen Vorzüge eines 16jährigen Jünglings zu bekämpfen. Sie macht Eddie zu ihrem Gespielen.Täglich läßt sie ihn, den allein schon die unrasierten Achselhaare Marions in Raserei versetzen, ran. "Ich bin sicher, daß Frauen meinen neuen Roman mehr lieben als Männer. Das trifft ja auf alle literarisch ambitionierten Romane zu: Frauen sind die besseren Leser, sie vertrauen literarischen Fiktionen mehr als Männer. Jeder erfolgreiche Schriftsteller auf der Welt hat mehr Leserinnen als Leser - wenn du nicht gerade so ein Zeug schreibst wie Tom Clancy oder John Grisham. Die mögen in der Tat mehr Leser als Leserinnen haben. Geschenkt. Aber was die schreiben, hat ja wohl nichts mit Literatur zu tun."
Von einem Tag auf den anderen verschwindet sie aus Bridgehampton, Long Island, und verabschiedet sich somit nach dem ersten Drittel des Romans (beinahe) auf Nimmerwiedersehen. Eddie kann bis ins gestandene Mannesalter hinein Marion nicht vergessen. Und Ruth, wie geht sie mit dem Trauma des Verlusts ihrer Mutter um? - Sie schreibt Romane. Sehr erfolgreiche Romane. Der, von dessen Zustandekommen in "Witwe für ein Jahr" die Rede ist, handelt vor allem von Sexualität.
Der dramatischste Teil des Romans spielt im Rotlichtbezirk in Amsterdam. Hier hat John Irving ausgiebigst recherchiert. Um sich der Banalität, des Gewöhnlichen, des Sexus im Zeitalter seiner universellen Käuflichkeit zu vergegenwärtigen, zwingt sich Ruth dazu, buchstäblich Augenzeuge des Geschäfts zwischen Hure und Freier zu sein. Für sie ist Sex - im Gegensatz zu ihrer vermißten Mutter - alles andere als gewöhnlich. "Unterschätzen Sie nicht Ruths sexuelle Situation", so Irving. "Sie ist sehr verunsichert und gleichzeitig offen für alles. Ihr Vater hat mit ihrer besten Freundin gevögelt. Für den Mann, der sie heiraten will, entwickelt sie nicht die körperlichen Gefühle wie für jenen Kerl, den sie an der Bushaltestelle kennenlernt. Der allerdings vergewaltigt sie am Ende. Ruths Sex-Leben ist der totale Streß. Einer Prostituierten beim Vögeln zuzuschauen - das ist nicht ihr wirkliches Interesse. Sie will nur wissen, wie man es macht. Vor allem: wie gewöhnlich der Sex ist."
Ruth will alles beobachten. Ruth darf sich in einem ausgewählten Etablissement hinter dem Schrank verstecken und zusehen. Zusehen darf auch der Leser. Er wird regelrecht zum Voyeuer, so akribisch leuchtet John Irving das Ambiente aus. Doch auch hier, wo der Sex endgültig zu einer Form des nach strengen Regeln geordneten Publikumsverkehrs geworden ist, macht Ruth die Erfahrung, daß Sex und Gewalt nicht voneinander zu trennen sind. Sie wird zufällig Zeuge, wie jemand eine Prostituierte in der Liebeskoje ermordet.
John Irving interessiert nicht, wer der Täter ist, ob er gefangen wird. "Witwe für ein Jahr" ist kein Krimi. Vielmehr eine subtile psychologische Studie über einen Menschen, der sich freiwillig in Extremsituationen bringt, um sich von der Last seiner Vergangenheit und seinen aktuellen seelischen Verkrustungen zu befreien. Doch auch hier, da ein Exkurs über Psychologie, über Freud mithin (Irving hat einige Semster in Wien studiert) anheben könnte, block Irving ab. "Sigmund Freud ist als Autor interessant, nicht als Denker. Seine Ideen haben mich nie sehr beeindruckt. Er kann gute Geschichten erzählen. Er ist für mich ein Romanautor."
Und wieder zwingt er alle Anstrengungen des Interviewers, auf die Idee hinter seinem Roman zu kommen, auf die Matte. "Ich habe keine Ideen." Wer's glaubt, wird selig. Aber vielleicht sollten wir uns für dieses Mal mit dem Resumée begnügen: Irving kann wie kaum ein anderer Romancharaktere entwerfen, die einen nachhaltig beschäftigen, einen fesseln. Er ist in der Tat ein 'geborener Erzähler'. Seine literarischen Kunden ziehen Kreise. "Ich war wieder in Holland, als das Buch dort veröffentlicht wurde. Als ich durch den Rotlichtbezirk ging, hat man mich wiedererkannt. ‘Hey, warum hast du nicht mit mir geredet!’, riefen die Mädels mir zu. Dieselben übrigens, die sich mir bei der Recherche zum Roman verweigert hatten. Jetzt wußten sie, wer ich bin. Eine war sogar eine richtige Leserin. 'Olalà, sie sind dieser John Irving!’"