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Wladislaw Hedeler(Hg.): Stalinscher Terror 1934-41

Vor wenigen Wochen jährte sich ein Datum zum 50. Mal, das nicht nur für Russland, nicht nur für die Nachfolgestaaten des untergegangenen Sowjetimperiums von bleibender Bedeutung gewesen ist. Denn schon kurz nach Josef Stalins Tod Anfang März 1953 zeigten sich erste Haarrisse im vermeintlich monolithischen kommunistischen Block - auch wenn es dann noch mehr als drei Jahrzehnte dauern sollte, ehe Stalins auf blutiger Unterdrückung errichtetes System endgültig in sich zusammenfiel. - Anfang der 90er Jahre öffneten sich sich viele, bis dahin strikt unter Verschluß gehaltene Archive in Russland, in den Republiken der Ex-UdSSR. Jetzt legten 15 Wissenschaftler und Publizisten eine äußerst lesenswerte Forschungsbilanz vor. Sie haben sich für den - so der Titel des Bandes - Stalinschen Terror interessiert.

Autoren-Gespräch |
    Von Wladislaw Hedeler - er ist einer der Autoren und zugleich Herausgeber des Bandes - wollte ich zunächst aber wissen, ob die seit der Gorbatschow-Zeit tätige Jakolew-Kommission zur Rehabilitierung der Stalin-Repressierten endlich genaue Opferzahlen vorlegen kann:

    Hedeler: Es ist bis heute durch die Kommission nicht zu beantworten, wieviele Häftlinge denn unterwegs auf dem Transport verstorben sind, wieviele erschossen wurden in den Lagern, denn die Urteile wurden ja auch in den Lagern vollstreckt. Es ist ein Problem, ob es politische oder kriminelle - wie man sagte -Häftlinge waren. Hier tut sich also ein unheimliches Forschungsfeld auf, auf das man heute so reagieren muss, dass man immer noch die Fakten sammelt, das Material zusammenträgt aber noch nicht zu endgültigen Zahlen kommmen kann, so bitter, wie das ist.

    Baag: Hat die russische Seite ein Interesse daran, endgültige Transparenz in diese Zahlen hineinzubringen?

    Hedeler: Die russische Seite hat sicher ein Interesse, schon aus der Rechtslage heraus, etwas zur Aufklärung beizutragen. Das ist auch im Rehabilitierungsgesetz, das von Jelzin damals eingebracht und auch verabschiedet wurde, enthalten. Das Problem besteht ganz einfach darin, dass in diesem Rehabilitierungsgesetz auch von den Rechten der Sicherheitsdienste die Rede ist, und viele Materalien, auf die man zurückgreifen muss, werden von den Diensten als operatives Material zurückgehalten und sind damit für die Forschung nicht nur nicht zugängig sondern auch nicht einsehbar. Andererseits ist es natürlich so, und das hängt auch mit dieser Öffnung und mit der Archiv-Politik zusammen, dass zum Beispiel aus dem Zentralarchiv des FSB, also des Föderativen Sicherheitsdienstes der Russischen Föderation, Materialien an das Russische Staatsarchiv übergeben werden. Die sind für die Forscher zugänglich, für die russischen Kollegen zugänglich, und wir haben sie also auch als Autoren für unseren Band gewinnen können.

    Baag: Welchen Sinn hat es eigentlich, sich heute noch mit dem Phänomen Stalinismus zu befassen?

    Hedeler: Für mich war es zum Beispiel ausgesprochen verblüffend zu erfahren, dass Grundmuster aus dem kurzen Lehrgang der Geschichte der KPDSU(B), also einer Schrift, die Stalins Gedankengut direkt transportiert, erst in den 70er Jahren endgültig sozusagen vom Tisch waren. Bis dahin wurde nur halbherzig revidiert und das ein oder andere korrigiert, aber die Grundmuster blieben erhalten. Und eines der Grundmuster war die Partei neuen Typus und die Vorstellung, wie diese Partei eine Gesellschaft gestaltet, wie sie diese Gesellschaft prägt und wie die Funktionäre, die es dann gibt, innerhalb dieses Systems wirken. Das war Stalinismus pur.

    Baag: Auf eine Formel zusammengefasst, könnte man dann aber als Arbeitshypothese formulieren, dass der Stalinismus so eine Art tödlicher Betriebsunfall der Geschichte war? Ein unvermeidbares Ergebnis einer linken kommunistischen Utopie? Würden Sie so einer Ansicht zustimmen?

    Hedeler: Bis Mitte der 20er Jahre gab es die Möglichkeit, diesen Kurs zu ändern. Es gab durchaus Alternativen im Rahmen eines Marxschen Denkgebäudes etwas anders zu machen. Diese Chance ist sowohl von den russischen Kommunisten als auch von den anderen, die im Rahmen der Komintern organisiert waren, leider verspielt worden.

    Baag: Verspielt worden, oder hat man sich einfach letztlich dem Stalinschen Machtanspruch ergeben?

    Hedeler: Nein. Ich glaube, das System war Mitte der 20er Jahre soweit in seiner Entwicklung, dass es - unabhängig von der Kritik an Stalin oder jetzt von der Kritik an den Stalinistischen - sage ich jetzt mal zugespitzt - Führungsstrukturen - schon nicht mehr in der Lage war, diesen Mann zu ersetzen, sondern Stalin hat ja gerade dadurch gewonnen, dass er wissend um diese gegen ihn vorhandenen Meinungen und Stimmungen und Oppositionellen, dass er damit geschickt gespielt hat, dass er laviert hat, dass er diese oppositionellen Kräfte gegeneinander ausgespielt hat bishin zu der Tatsache, dass er sechsmal mit seinm Rücktritt gedroht hat. Und die Partei, die Parteiführung war in dieser Zeit so strukturiert und so organisiert, dass sie ihn - wenn Sie so wollen - auf Knien gebeten hat, nicht zurückzutreten, sondern am Ruder zu bleiben. Und innerhalb dieser Entwicklung ist es Stalin gelungen, bis Mitte der 30er Jahre diesen Prozess unumkehrbar zu machen.

    Baag: Was stimmt denn Ihrer Ansicht nach an der These, die zwar nicht neu, sondern immer wieder gern wiederholt wird, Zitat: Ohne Terror - als Stalinsches Grundprinzip seiner Herrschaft - hätte Stalin das Land nicht zu einer Supermacht machen können.

    Hedeler: Da könnte ich nur zustimmen. Das ist auch ein Resumée dieser Untersuchung, dass dieses System sich über den Terror, durch den Terror gehalten hat und sich auch weitgehend über den Terror definieren lässt. Die Untersuchungen, auch auf die wir uns gestützt haben, und die russischen Kollegen, die wir gewonnen haben, gehen von einer Bedrohung des Terrors aus, und zwar eines Terrors, der sich - auch davon ist im Band die Rede - ja nicht nur gegen irgendwelche Eliten gerichtet hat oder gegen einzelne Gruppen, sondern es war ein Terror, der richtete sich gegen das Volk als Ganzes, und dazu gab es entsprechende Befehle, entsprechende Weisung, das ist ja eigentlich der Irrsinn der Geschichte - ,die dann im Führungszirkel der Kommunistischen Partei formuliert und mit Hilfe der Justiz und des Sicherheitsdienstes dann auch durchgesetzt wurden.

    Baag: Wie lässt sich dann das letztlich passive Verhalten der Bevölkerung über knapp gerechnet zwei Generationen hinweg, angesichts des Massenterrors bewerten?

    Hedeler: Es gab einen Befehl des NKWD, der sich zum Beispiel, wie es hieß, gegen die Kulaken richtete oder gegen die Volksfeinde. Dann gab es einen Folgebefehl, der besagte, dass also auch die Angehörigen, also die Frauen und die Kinder der Volksfeinde, verhaftet und in Arbeitslager geschickt werden müssen. Woraus resultiert dieser Folgebefehl? Der Folgebefehl resultiert ganz einfach daraus, dass sich die Frauen oder die Mütter nicht mit dem Urteil zufrieden gaben, sondern dass sie von Gefängnis zu Gefängnis gelaufen sind, dass sie von Behörde zu Behörde gelaufen sind, das war sehr wohl schon eine Form von Widerstand.

    Baag: Gibt es eigentlich soziologische Erkenntnisse darüber, was jemanden bewogen hat, in der Sowjetunion der 30er Jahre bis zu Stalins Tod und darüber hinaus, dem Unterdrückungsapparat beizutreten?

    Hedeler: Da könnte ich jetzt auch auf meinen Beitrag zu sprechen kommen in dem Band über die Kommandanten dieses Besserungs-Arbeitslagers KarLag. Anhand dieser Biographien lassen sich natürlich Leitlinien, Verallgemeinerungen ziehen und auch formulieren, die erklären, wieso diese jungen Leute damals - die waren 20 oder 30 Jahre alt - wie sie durch den Bürgerkrieg geprägt, mit einem bestimmten Feindbild ausgerüstet, dann in diesen Lagern überhaupt als Kommandanten agieren konnten. Wir haben in dem Band einen Beitrag drin, der der Frage nachgeht, wie denn der Stalinsche Terror vor Ort funktionierte, also in einer Kreisdienststelle des NKWD, in der ja bekanntlich fünf, sechs NKWD-Offiziere das von oben, also vom Politbüro vorgegebene und dann in die einzelnen Kreise durchgestellte Plansoll an zu Erschießenden und zu Verurteilenden liefern mussten. Also die Forschung beginnt, aber die Zahl der Historiker, die überhaupt heute Zugang zu solchen Akten hat, und in Russland oder in den Nachfolgestaaten der GUS an solchen Themen sitzt, die können sie am Finger meiner Hand abzählen.