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WM 1978
"Wenn sie gewonnen haben, dann verlieren wir"

Die letzte WM auf südamerikanischem Boden fand 1978 in Argentinien statt. Zwei Jahre zuvor hatte sich dort das Militär an die Macht geputscht. Die WM fand trotzdem statt, und der Weltmeister hieß Argentinien.

Von Sandra Schmidt | 01.06.2014
    Fünf argentinische Nationalspieler im Sportdress halten den Weltmeisterpokal, küssen ihn und jubeln.
    Spieler der argentinischen Nationalmannschaft jubeln über ihren Weltmeistertitel 1978 im eigenen Land. (picture alliance / dpa / epa anp)
    "Im ersten Moment, als die WM begann, hatte ich das Gefühl, dass diese WM eine Chance bergen könnte, eine Chance, dass die Menschen wieder auf die Straßen gehen. Und ich hatte die Phantasie, den Wunsch, dass das die Diktatur zersetzen könnte."
    Horacio Verbitsky lebt 1978 in Buenos Aires im Untergrund. Er betreibt die geheime Nachrichtenagentur ANCLA, die über die Verbrechen der Militärs informiert.
    "Es wurde diskutiert, ob man die WM boykottieren sollte oder nicht. Wer dagegen war, glaubte, dass sie eine Möglichkeit sein würde, die Diktatur zu lockern, ein Moment, sich wieder öffentlich zu treffen, und auch, dass die vielen ausländischen Journalisten, die kommen würden, beschreiben würden, was hier geschah. Die anderen glaubten, dass die WM von der Diktatur genutzt werden würde, um zu demonstrieren, dass hier alles in Ordnung wäre, dass sie ein Teil der Propaganda werden würde."
    Die Studentin Graciela Daleo wird im Oktober 1977 in einer U-Bahnstation von Buenos Aires entführt und verschwindet in der Escuela de Mécanica de la Armada, der ESMA. Es ist das größte Geheimgefängnis und Folterzentrum der Diktatur. Über 5000 Menschen werden über die Jahre hierher gebracht, etwa 200 von ihnen überleben.
    "Zum einen sah ich die Spiele, es spielten die argentinischen Fußballer, die, die man kennt, die man mag, mit denen man sich identifiziert und ja, natürlich, wünschte ich mir, dass es für sie gut läuft, dass sie gewinnen. Im gleichen Moment aber wusste ich, dass die Diktatur das ausnutzen würde. Es waren sehr widersprüchliche Gefühle, mit denen ich nur sehr schwer zurecht kam."
    Die Bevölkerung feiert ausgelassen die Siege des Teams von César Luis Menotti auf den Straßen von Buenos Aires. Der Diktatur spielt die nationale Begeisterung in die Hände. Stimmen von internationalen Menschenrechtsorganisationen, welche die Verbrechen in Argentinien anprangern, werden von den Militärs als "antiargentinische Kampagne" bezeichnet. Auch im ESMA-Gefängnis werden die Spiele angeschaut. Hier leben die Gefangenen mit den Militärs unter einem Dach. An den Spieltagen Argentiniens müssen sich einige von ihnen gemeinsam mit ihren Folterern und Vergewaltigern vor den Fernseher setzen:
    "Ich habe die Spiele der WM gesehen. Nicht etwa, weil ich mich besonders für Fußball interessiert hätte. Es war etwas, das geschah, ich gehörte zu denen, die schauen mussten. Wir haben die WM-Spiele angeschaut und ich würde sagen, für die Mitgefangenen, auch für einige Frauen, aber mehr für die Männer, alle Fußballfans natürlich, war es ein Moment des Vergnügens, sie schauten eben gerne Fußball."
    Am 25. Juni 1978 gewinnt Argentinien das WM-Finale gegen die Niederlande, Junta-Chef Jorge Videla persönlich übergibt den Pokal. Und es ist gelungen, genau das Bild von Argentinien zu produzieren, das sich die Militärs so sehr gewünscht haben: das Bild eines friedlichen und erfolgreichen Landes, das feiert. Verbitsky sieht das Finale mit den zwei kleinen Kindern eines befreundeten Paares, das Monate zuvor von den Militärs entführt und erschossen wurde. Nach dem Spiel bringt er die Kinder zurück zu ihren Großeltern, bei denen sie seit dem Tod der Eltern aufwachsen.
    "Die Großeltern saßen vor dem Fernseher und sahen den Feiern auf den Straßen zu. Die Oma der Kinder begann zu tänzeln, sie lächelte und dann sagte sie: 'Jetzt gehe ich auch auf die Straße feiern, damit sie in Europa sehen, dass hier in Argentinien kein Blut vergossen wird.' Ich sah sie an und sagte: 'Hier wird kein Blut vergossen?' Und dann – als würde sie aus einer Hypnose aufwachen, kam sie wieder zu sich, war wieder die Mutter, deren Sohn neun Monate zuvor ermordet worden war. Die Diktatur sprach aus ihr. Die Botschaft der Diktatur sprach sogar aus der Mutter eines Ermordeten. Für mich persönlich war das die beeindruckendste Erfahrung der ganzen Diktaturjahre: wie gut die Manipulation funktioniert hat, wie die Diktatur die Leidenschaft der Massen für den Sport als Mittel genutzt hat."
    Graciela Daleo sieht den Sieg der argentinischen Mannschaft in der ESMA:
    "Als das Spiel vorbei war und der Offizier rief 'Wir haben gewonnen!', da war ich ganz sicher: Wenn sie gewonnen haben, dann verlieren wir."
    Über das, was danach geschieht, möchte sie heute nicht mehr sprechen, sie hat es aufgeschrieben:
    "Eine der Wachen kam und las eine Liste vor: 'Machen Sie sich zum Ausgehen fertig!' ordnete er an. Dann haben sie uns in Autos gesetzt, mich in einen moosgrünen Peugeot 504. Die Schranken des Gefängnisses gingen auf. Draußen sprudelten Menschen von überall her auf die Straßen, sie sangen und tanzten. 'Wer erinnert sich schon an Euch!' sagte einer der Offiziere zu mir. Ich durfte das Schiebedach öffnen und hielt den Kopf in die kalte Juniluft. Wenn ich jetzt schreie, dass ich eine Verschwundene bin, niemand würde Notiz davon nehmen – das war absolut sicher. Wir fuhren in ein Restaurant, es war ein einziges Fest. Tische wurden zusammengerückt und da saßen wir: Folterer und Gefolterte, 12 oder 15 von ihnen und drei oder vier von uns. Wir saßen da, wie all die anderen, die diesen Sieg feierten. Eine Stunde später sperrten sie mich wieder ein."
    Graciela Daleo wird 1979 freigelassen. Heute unterrichtet sie am Lehrstuhl für Menschenrechte der Universität Buenos Aires. Für die Soziologin bleibt rückblickend eine entscheidende Frage:
    "Wenn man davon ausgeht, dass die ganze Bevölkerung ja wusste, dass es am 24. März einen Militärputsch gegeben hat, dass alle ihre Rechte beschnitten worden waren etc., dann ist die Frage nicht, ob man wusste oder nicht wusste, sondern was man wusste und vor allem, und das ist die zentrale Frage: Was hat man mit diesem Wissen getan?"
    Horacio Verbitsky ist heute Vorsitzender der argentinischen Menschenrechtsorganisation CELS und einer der angesehensten Journalisten des Landes. Er ist überzeugt:
    "Die WM 1978 war die wichtigste Propaganda-Operation der argentinischen Diktatur. Ab dem Moment, in dem die hier stattfindenden Menschenrechtsverletzungen bekannt wurden, haben die Militärs viele Versuche der Verschleierung unternommen, aber keine Aktion war so erfolgreich wie die Fußball-WM."