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Wo die Antarktis Grund verliert

Die Antarktis schmilzt. Und neuesten Untersuchungen amerikanischer Ozeanographen zufolge schmilzt sie schneller als bislang angenommen. Dennoch ist die Studie, die in der jüngsten Ausgabe des Wissenschaftsmagazins "Science" erscheint, noch kein Grund, Alarm zu schlagen. Denn die Geologen sind gerade erst dabei, sich ein Bild darüber zu verschaffen, welche Schmelz- und Gefrier-Prozesse am Südpol ablaufen und wovon sie abhängen. Rückschlüsse auf den Einfluss des Klimawandels lassen ihre Daten nicht zuverlässig zu.

    Von Grit Kienzlen

    Wer das Schmelzen der Antarktis verstehen will, dem ist wenig damit gedient, die allgemeine Schmelzrate zu analysieren. Für die Eiszungen, die sich auf allen Seiten der Antarktis ins Meer schieben, liegt sie bei rund 40 Zentimeter Dicke pro Jahr. Allerdings schmilzt das Eis keineswegs überall gleich stark. An manchen Stellen entsteht unter der Zunge sogar neues, so genanntes Meereis. Sehr schnell schreitet der Schmelzprozess dagegen an den Grundlinien voran, also dort, wo die Eiszungen, die unter Wasser polwärts immer dicker werden, schließlich den Meeresgrund berühren, so dass zwischen dem Grund und dem Eis kein Wasser mehr Platz hat. Stanley Jacobs von der Columbia Universität in New York und seine Kollegen am California Institut of Technology in Pasadena haben sich neuester Satelliten-Radar-Technologie bedient, um die genaue Position der Grundlinien festzustellen. Die Radar-Bilder lieferten ihnen ein charakteristisches Fransenmuster für das Eis, das am Rand der Antarktis ins Meer fließt:

    Dort wo das Eis schwimmt, bewegt es sich mit den Gezeiten auf und ab. Wo es direkt auf dem Meeresgrund aufsitzt, nicht. Dadurch entsteht in den Radarbildern ein Muster, mit dem man die Position der Grundlinie bestimmen kann. Was die Technik gezeigt hat, ist, dass viele der Grundlinien ganz woanders verlaufen als bislang angenommen. Und meistens waren sie weiter im Inland und tiefer gelegen.

    Je nach Eisschelf dehnt sich der schwimmende Teil des Eises 75 bis sogar 700 Kilometer ins Meer aus. Unter dem Eis sorgen besondere Strömungen dafür, dass die Grundlinie weiter und weiter nach innen rutscht. Das Meer schmilzt sich also immer tiefere Höhlen in das kontinentale Eis hinein. Das hat wohl zum einen damit zu tun, dass das Meerwasser wärmer wird. Aber die Sache ist komplexer. Der Meeresboden sinkt zum Zentrum der Antarktis hin nämlich ab. Das bodennahe Eis steht also nach innen hin unter immer größerem Druck. Und bei hohem Druck schmilzt das Eis schon bei geringeren Temperaturen. Das ist die Ursache dafür, dass sich gerade an der Stelle der Grundlinie am meisten Eis in Wasser verwandelt. Jacobs:

    Wir haben jetzt zum ersten mal einen relativ einfachen Zusammenhang herstellen können zwischen der Schmelzrate einerseits und der Ozeantemperatur und der Tiefe der Gletscher unter dem Meeresspiegel andererseits.

    Danach schmelzen die Gletscher an ihren Grundlinien zwischen vier und 40 Metern pro Jahr; abhängig eben von der Tiefe der Grundlinie und der Temperatur des zirkulierenden Wasser. Die spannende Frage ist nun aber nicht, ob dieser Schmelzprozess wegen des Klimawandels stattfindet, sondern ob er sich deshalb beschleunigt. Schmelzen tun die Gletscher an ihrer Grundlinie schon seit Jahrtausenden. Jacobs:

    Vor mehreren Tausenden Jahren befanden sich die Grundlinien viel weiter im Norden. Es gab einige Arbeiten dazu von Meeresgeophysikern im offenen Meer vor dem Ross-Eisschelf. Und in den Meeressedimenten fanden sie Hinweise auf alte Grundlinien, als die Grundlinien also viel weiter im Norden verliefen, wo heute Meer ist.

    Mehr Daten brauchen die Ozeanographen, wenn sie wissen wollen ob sich die Grundlinien jetzt schneller polwärts schieben als noch vor 30 Jahren. Schlussendlich hängt das von der Zirkulation des Meerwassers von außen in die Antarktisregion und von der Zirkulation unter den Gletschern ab. Stellt man sich das antarktische Eis als Eiswürfel in einem Limonadenglas vor, dann wird das deutlicher: je mehr und effektiver wärmere Limonade zugegossen wird, desto schneller schmilzt das Eis. Wenn die Limo schon sehr kalt ist und keine frische dazu kommt, dauert das Schmelzen dagegen lange. Jacobs:

    Neben der Temperatur des Wassers ist ein wichtiger Faktor, wie effektiv die Temperatur-Schwankungen zur Grundlinie des Eises hin weitergeleitet werden. Das hängt von der Ozean-Zirkulation ab. Wir wissen aber nur sehr wenig über eventuelle Gebirge im Meer unter dem Eis, die die Zirkulation behindern könnten. Deshalb sind für kommenden Februar Experimente geplant, wo die Gegend unter dem Pine Island Gletscher mit unbemannten kleinen U-Booten kartiert wird.

    Stanley Jacobs will die Gletscher im Auge behalten. Die Daten, die er heute sammelt, werden in zehn oder 20 Jahren noch wertvoller werden, weil sie dann Vergleiche und Aussagen über Entwicklungen der Schmelzprozesse mit der Klimaerwärmung ermöglichen.