Talmont. Es besteht aus vielleicht zwei Dutzend, niedrigen, aus hellen Steinen gemauerten Häuschen. Es läutet uns die kleine romanische Pilgerkirche Ste. Radegonde. Über dem Eingang eine Skulptur, oben. Mit etwas Fantasie könnte es ein thronender Jesus als Weltenrichter sein. Jüngstes Gericht - könnte damals auch für eine gewisse Endzeitstimmung sprechen. Und falls die Welt untergegangen wäre, könnten gewiefte Discount-Sünder gedacht haben, wäre das nicht günstig, wenn man dem Weltenrichter mit Pilgerhut und Jakobsmuschel gegenüber tritt, was vorzeigen kann.
Zurück in die Zeit, als Talmont schon "a la carte", also auf der Karte der südwestlichsten Ecke von Aquitanien eingezeichnet ist. Wie mögen die Menschen damals visuell und mit anderen Sinnen dieses Talmont erfasst haben? Riechen sie schon die salzige Luft, das nahe Meer? Dann erkennen sie eine Bucht. Und hoch auf einer Klippe, die steil zur Gironde abfällt, trutzt das kleine Kirchlein. Und ein Schriftsteller notiert es noch prosaischer:
"Die Pilgerkirche über der dunklen Gironde gleicht, gegen die Sonne und den dunklen Wolken über dem Meer, einer gigantischen Welle im Augenblick des Aufpralls an dieser Steilküst. Wie die Welle zu einem hellen Sandstein erstarrt."
Trefflich formuliert! Zurück zum Eindenken in diese Pilger. Wer ist hier unterwegs, Michael Kleu?
"Kritiker sagen, man muss es nicht nur spirituell sehen. Man nannte sie auch die Vagabunden Gottes. Es sind auch damals Entertainer, Musiker dabei, die Abends in den Pilgerlagern aufspielen. Wir sind ja auch in Aquitanien, dem Land der Troubadoure. Diese Spielleute haben auch das Heldenepos des Roland-Liedes im Repertoire. Und nebenbei, das Roland-Lied hat ja im politischen Kern auch mit Santiago de Compostela zu tun. In der Wallfahrtsbewegung und in dem Roland-Lied geht es vor tausend Jahren um die militärische Befreiung Spaniens von den arabischen Heiden, den Sarazenen."
Weltuntergangsstimmung, damals, wie kam die zustande?
"Die wurde von den Kanzeln herab gepredigt und in düsteren Bildern prophezeit. Dahinter steht für das Christentum der Verlust Spaniens an die Araber. Und so pilgern die Abendländler wie eine Art Demo. Motto: Der Weg an das Jakobusgrab gehört uns. Das ist eine christliche Marke."
Und diese Frömmigkeit bedeutet kein Trübsal-Blasen, erlaubt am Abend in Talmont oder in Bordeaux auch lockere Event-Stimmung. Talmont grenzt ja fast an den Weinlagen von Cognac und des "Bordelais". Da wird natürlich auch getrunken. Getrunken um das Öffnen der Fußblasen oder die brennenden Schmerzen von wund geriebenen oder gelaufenen Innenseiten der Oberschenkeln ertragen zu können. Wenn also die Pilger, in der Sprache von uns Automenschen, abends Öl wechseln, ihre spirituellen Zündkerzen prüfen, was hat der deutsche Pilger bis Talmont in sein Fahrtenbuch eingetragen?
"Bis hierher haben die aus dem Norden und aus der Mitte Deutschlands rund drei Monate und etwa 1.500 Fußkilometer in den Beinen. Ihr letzter Etappenort war gestern die Stadt Saintes, übersetzt die Stadt der Heiligen. Und in Saintes hat es für die Pilger spirituell 'gewummert'. Saintes bietet drei Kathedralen an, davon zwei, die auf die Jakobswanderer spezialisiert sind. Und örtliche Führer geleiten die Wallfahrer in Prozessionen so ausgetüftelt durch die Stadt und vorbei an den frommen Sehenswürdigkeiten, dass nirgendwo ein Stau, ein Abfall der übersinnlichen Stimmung entstehen soll. So kommen alle an den Anbetungsfiguren, an den hochwertigen Reliquien, an den wertvollen Schreinen vorbei. Sie bekommen reichlich Segnungen. Sie können ihre Sünden beichten. Können Kerzen anzünden, können Spenden einwerfen. Sie können etwas erleben, vielleicht ein Wunder. Ein Lahmer wirft die Krücken weg. Eine Teufelsaustreibung. Es ist, profan gesprochen, wie die Teilnahme an Glück, Teilnahme an einem Gotteszeichen aus nächster Nähe. Die Pilger sind schließlich erschüttert, aufgewühlt. Natürlich sind sie nach weiteren 35 Tageskilometern bis Talmont wieder platt."
Eine wichtige Entscheidung steht für die Pilgrims in Saintes an. Gehen sie weiter auf dem Hauptweg nach Compostela über Bordeaux? Dafür aber vier, fünf, sechs Tage länger unterwegs? Oder wagen sie die scheinbar kürzere "Wasseretappe" über Talmont und über die Gironde?
"Man kennt damals schon Pilger-Reiseführer, wenn der Analphabet denn lesen kann? Beispielsweise der Weg Köln-Tours-Saintes preist nur die Orte mit hoher Reliquiendichte an. Sie sind wie ein Werbeprospekt geschrieben. Sie verschweigen aber die Gefahren, die Räubereien, die Tricksereien. Talmont ist ein Vabanquespiel."
Sie zeigen mir zeitgenössische Zeichnung. Zwei Pilger mit Jakobsmuschel am Hut ... stolpern durch eine einsame, felsige Gegend. Die haben ihre Familie, ihren Besitz, vielleicht einen Bauernhof und jede Bindung an Heimat, was immer das ist, haben die ja aufgegeben ...
"Und die ahnen, spätestens hier in Talmont, auf dem Zahnfleisch angekommen, auf was sie sich eingelassen haben. Und die Hölle steht ihnen auf der Route ab Talmont noch bevor. Da erwarten sie 250 Kilometer Extremstrecke, dann folgt der Anstieg durch die Pyrenäen, dann noch der lange Weg durch Spanien. Zusammen noch mal 1.100 Kilometer. Das ist die Nord-Südentfernung Flensburg - München. Und noch einmal 350 Kilometer dazu. Es kommt von drei Pilgern in Richtung des spanischen Santiago de Compostela - geschätzt - nur einer von seiner Reise in die Heimat zurück. Hin und zurück also mehr als 5.000 Kilometer einer Wallfahrer-Lotterie."
Ich selber bin kein Pilger. Bin aber zum 5. Mal hier in diesem Talmont. Weil sich hier quasi diese "Götterdämmerung" erfassen lässt, das nahe, das Jüngste Gericht. Ich stehe hier wie damals die Wallfahrer oben an dem Mäuerchen und blicke auf den Fluss. Zehn Kilometer breit. Fünf, sechs, sieben Meter unter mir. Es ist wohl Flut, das heißt momentan wird das Wasser vom Atlantik wieder in die Trichtermündung der Gironde reingedrückt. Das ist sehr anschaulich in einem Büchlein beschrieben.
"Der unbändige Atlantik wirft seine besten Waffen und Geschwader in den Kampf gegen die Gironde. Das glasklares Salzwasser aus dem Schoss der Abgründe des Meeres gegen die gelbbraunen Wasser der Gironde. Eine Phalanx nach der anderen rollt gegen die breite Mündung an, hoch aufwallend, sich überschlagend und alles hinabreißend in den Läuterungstiegel der Tiefe."
Läuterungstiegel. Richtig erkennen können wir, die Menschen von heute, diese Wirbel und Strudel 16 Kilometer weiter stromabwärts. Wenn wir von Royan auf einer der stabilen Autofähren die Gironde überqueren. Wenn wir da spüren, wie diese schwere Seefähre bei auflaufender Flut stampft und rüttelt und schaukelt. Erst wenn man das von oben, von Bord gesehen hat, wird das Abenteuer Gironde für Segelbötchen mit sechs, sieben oder acht ängstlichen Pilgern überhaupt begreifbar. Die Rettungsweste ist noch nicht erfunden. Die sind damals drei bis fünf Stunden auf dem wilden Wasser unterwegs. Das ist hier kein See Genezareth mit eingezeichneter Fußgängerzone.
Wir betreten nun das romanische Kirchlein in Talmont, ungefähr 80 Plätze, Skulpturen, verwitterte Löwenfragmente? Das könnte der mutige Daniel in der Löwengrube sein? Mut und Gottvertrauen als Aufbauhilfe für die schwierige Überfahrt? Aber wichtiger als die Figurendeutung ist was uns diese Steine als Zeitzeugen erzählen, von Ste. Radegonde, der Patronin von Talmont. Zusammengefasst:
"Geboren gegen 520. Sie kommt als etwa zehnjährige thüringische Königstochter Radegunde oder Radegundis als Beute, als Geisel, auch als mögliche Heiratskandidatin an den Hof des Frankenkönigs Chlothar I., der Thüringen erobert hatte. Die Franken erziehen sie christlich und 'aus königlichem Geblüt'. Radegonde lebt bei den Merowingern in einer stark expandierenden Herrscherdynastie, in der es zum Tagesgeschäft gehört, konkurrierende Verwandte umbringen zu lassen. Das ist damals so gängig. Mit 20 Jahren wird sie von Chlothar, er ist 20 Jahre älter, zur Frau genommen. Genommen als einseitige Willensvollstreckung, wie es in allen Gesellschaftsschichten damals üblich ist. Radegunde soll, so das Gespött bei Hofe, eine Nonne- und kein 'Glückstreffer' in der Runde des königlichen Erheiterungs-Personals gewesen sein. Schließlich flieht sie, kann sich von ihrem Mann trennen."
Kleu: "Hier draußen steht auch eine Skulptur. Sie soll sich mildtätig und karitativ betätigt haben. Gründet in Poitiers das erste Frauenkloster des Abendlandes, in dem sie als königliche Nonne lebt. Sie wird schließlich in Frankreich heilig gesprochen. 150 Kirchen sind landesweit nach ihr benannt."
Die Pilger in Talmont suchen derweil den kleinen Hafen, der aber heute nicht mehr besteht. Sehen die schmalen Nussschalen-Segelboote. Und nun geht das üble Gefeilsche los. Zu welchem Preis geht es quer auf die andere Seite? Die Bootsführer winken ab, es sei heute zu gefährlich. Vielleicht Morgen, eher später. Also kümmert sich der Wanderer um einen kostenlosen Schlag Pilgersuppe und etwas Brot.
Nach weiteren drei Tagen wartet man in Talmont immer noch auf die Überfahrt. Erst als einige Pilger den Umweg über Bordeaux und rund 100 Kilometer Fußmarsch aufnehmen wollen, lenken die Bootsleute ein. Zitat:
"Die Seelen mancher Fährknechte sind weit vom heiligen Christopherus entfernt. Von Armen wie Reichen verlangen sie überhöhte Gebühren, die sie zudem wohlweislich vor der Überfahrt kassieren. Wer eine Barke mit zu vielen Leuten besteigt, sei gewarnt. Viele kentern in der Gironde. Darauf warten die Schiffsknechte nur und bemächtigen sich der Habe der Ertrunkenen."
Und diese apokalyptisch schlingernden Wellen mündet auch in den Bericht einer wundergleichen Rettung. Eine hilflos im Wasser treibende Pilgerin ruft den heiligen Kölner Erzbischof Anno persönlich um Hilfe an. Und der Heilige Anno kommt, begleitet von einer himmlischen Schar Rettungsschwimmer, so erinnert man sich in den Aufzeichnungen, und fischt die arme Frau aus der Gironde.
Und die Pilger steigen dann drüben angekommen durchnässt ans Ufer, fallen auf die Knie, ein Dankgebet. Sie werten es als ein Zeichen Gottes. Und sie besuchen nach einer Halbtagesetappe nun die Basilika und Wallfahrtskirche "Notre Dame de la Fine des Terres" in Soulac. Übersetzt, unsere liebe Frau der letzten Tage, oder unsere liebe Frau am Ende der Welt. In der damaligen Vorstellung ist die Welt auf einer Scheibe montiert, wo das wilde Meer nur mit Mühe von den Himmlischen gebändigt wird, um nicht in den Orkus abzustürzen. Bei den Jakobspilgern damals gilt diese Atlantikküste ab der Gironde-mündung als einer der Endpunkte der Welten-Scheibe. Und so machen sie sich wieder auf. Wir lesen:
"Sie stolpern bei brütender Hitze durch Sand- und über Wanderdünen dahin. Dahinter stapfen sie durch sumpfige Urwälder. Sie pilgern durch einen fast menschenleeren Landstrich. Die Saumpfade der Pilgerwege führen an spitzem Strandhafer und Dornenbüsche vorbei, die zerstechen ihnen Füße und Beine. Vom Meer bläst, selbst an friedlichen Sommertagen, ein stetiger Wind. Die Pilger auf ihrem langen Weg sind am Ende ihrer Kräfte. Die Zunge schmeckt nach Salz, das Gesicht ist von der Sonne verbrannt. Auch soll man Gesicht und Arm und Bein vor den riesigen Schwärmen von Rossbremsen schützen."
Und weiter steht hier, um die Ohren summen und stechen die Mücken aus den Sümpfen. Sie sind die Wegelagerer der Region. Eine Route der Leiden und Plagen. Sie werden nicht nur von Mückenschwärmen überfallen. Überfallen werden sie auch von Mönchen. In Wirklichkeit verkleideten Wegelagerern. Die bieten sich auch als falsche Beichtväter an und erschleichen sich das Vertrauen der Taumelnden am Rande eines Kollaps. Anderswo sind ihnen die die Richtungsschilder der Pilgerstrecke umgedreht, die Fremden werden in die Irre geführt, in Hinterhalte gelockt. La fine des Terres.
Heute tippeln oder radeln auch Einzelne noch- oder wieder auf den längst asphaltierten ehemaligen Pilgerwegen, die Mückensümpfe sind trockengelegt. Und so treffen wir ein älteres Paar auf stabilen Rädern unterwegs und fragen nach dem Wohin und Woher:
"Wir machen ein Tour von Holland aus nach Frankreich, eine Rundreise in den Süden. Und nach 2.000 Kilometer fahren wir nach fünf Wochen wieder zurück nach Hause."
"Was gewinnen Sie dabei, wo ist Ihr Profit?"
"Durch unser Schnellheit oder Langsamkeit eigentlich können wir mehr sehen unterwegs. Es ist schön zu reisen. Das Reisen ist ein Prinzip geworden und nicht wo wir hingehen."
"Sie sind ja diejenigen, die mit der Fahrrad etwas e r f a h r e n."
"Es ist herrlich, wenn man Blumen sehen kann und das Wasser hören und riechen kann. Das Hinterland mit die Baumen das ist ganz herrlich."
Zurück in die Zeit, als Talmont schon "a la carte", also auf der Karte der südwestlichsten Ecke von Aquitanien eingezeichnet ist. Wie mögen die Menschen damals visuell und mit anderen Sinnen dieses Talmont erfasst haben? Riechen sie schon die salzige Luft, das nahe Meer? Dann erkennen sie eine Bucht. Und hoch auf einer Klippe, die steil zur Gironde abfällt, trutzt das kleine Kirchlein. Und ein Schriftsteller notiert es noch prosaischer:
"Die Pilgerkirche über der dunklen Gironde gleicht, gegen die Sonne und den dunklen Wolken über dem Meer, einer gigantischen Welle im Augenblick des Aufpralls an dieser Steilküst. Wie die Welle zu einem hellen Sandstein erstarrt."
Trefflich formuliert! Zurück zum Eindenken in diese Pilger. Wer ist hier unterwegs, Michael Kleu?
"Kritiker sagen, man muss es nicht nur spirituell sehen. Man nannte sie auch die Vagabunden Gottes. Es sind auch damals Entertainer, Musiker dabei, die Abends in den Pilgerlagern aufspielen. Wir sind ja auch in Aquitanien, dem Land der Troubadoure. Diese Spielleute haben auch das Heldenepos des Roland-Liedes im Repertoire. Und nebenbei, das Roland-Lied hat ja im politischen Kern auch mit Santiago de Compostela zu tun. In der Wallfahrtsbewegung und in dem Roland-Lied geht es vor tausend Jahren um die militärische Befreiung Spaniens von den arabischen Heiden, den Sarazenen."
Weltuntergangsstimmung, damals, wie kam die zustande?
"Die wurde von den Kanzeln herab gepredigt und in düsteren Bildern prophezeit. Dahinter steht für das Christentum der Verlust Spaniens an die Araber. Und so pilgern die Abendländler wie eine Art Demo. Motto: Der Weg an das Jakobusgrab gehört uns. Das ist eine christliche Marke."
Und diese Frömmigkeit bedeutet kein Trübsal-Blasen, erlaubt am Abend in Talmont oder in Bordeaux auch lockere Event-Stimmung. Talmont grenzt ja fast an den Weinlagen von Cognac und des "Bordelais". Da wird natürlich auch getrunken. Getrunken um das Öffnen der Fußblasen oder die brennenden Schmerzen von wund geriebenen oder gelaufenen Innenseiten der Oberschenkeln ertragen zu können. Wenn also die Pilger, in der Sprache von uns Automenschen, abends Öl wechseln, ihre spirituellen Zündkerzen prüfen, was hat der deutsche Pilger bis Talmont in sein Fahrtenbuch eingetragen?
"Bis hierher haben die aus dem Norden und aus der Mitte Deutschlands rund drei Monate und etwa 1.500 Fußkilometer in den Beinen. Ihr letzter Etappenort war gestern die Stadt Saintes, übersetzt die Stadt der Heiligen. Und in Saintes hat es für die Pilger spirituell 'gewummert'. Saintes bietet drei Kathedralen an, davon zwei, die auf die Jakobswanderer spezialisiert sind. Und örtliche Führer geleiten die Wallfahrer in Prozessionen so ausgetüftelt durch die Stadt und vorbei an den frommen Sehenswürdigkeiten, dass nirgendwo ein Stau, ein Abfall der übersinnlichen Stimmung entstehen soll. So kommen alle an den Anbetungsfiguren, an den hochwertigen Reliquien, an den wertvollen Schreinen vorbei. Sie bekommen reichlich Segnungen. Sie können ihre Sünden beichten. Können Kerzen anzünden, können Spenden einwerfen. Sie können etwas erleben, vielleicht ein Wunder. Ein Lahmer wirft die Krücken weg. Eine Teufelsaustreibung. Es ist, profan gesprochen, wie die Teilnahme an Glück, Teilnahme an einem Gotteszeichen aus nächster Nähe. Die Pilger sind schließlich erschüttert, aufgewühlt. Natürlich sind sie nach weiteren 35 Tageskilometern bis Talmont wieder platt."
Eine wichtige Entscheidung steht für die Pilgrims in Saintes an. Gehen sie weiter auf dem Hauptweg nach Compostela über Bordeaux? Dafür aber vier, fünf, sechs Tage länger unterwegs? Oder wagen sie die scheinbar kürzere "Wasseretappe" über Talmont und über die Gironde?
"Man kennt damals schon Pilger-Reiseführer, wenn der Analphabet denn lesen kann? Beispielsweise der Weg Köln-Tours-Saintes preist nur die Orte mit hoher Reliquiendichte an. Sie sind wie ein Werbeprospekt geschrieben. Sie verschweigen aber die Gefahren, die Räubereien, die Tricksereien. Talmont ist ein Vabanquespiel."
Sie zeigen mir zeitgenössische Zeichnung. Zwei Pilger mit Jakobsmuschel am Hut ... stolpern durch eine einsame, felsige Gegend. Die haben ihre Familie, ihren Besitz, vielleicht einen Bauernhof und jede Bindung an Heimat, was immer das ist, haben die ja aufgegeben ...
"Und die ahnen, spätestens hier in Talmont, auf dem Zahnfleisch angekommen, auf was sie sich eingelassen haben. Und die Hölle steht ihnen auf der Route ab Talmont noch bevor. Da erwarten sie 250 Kilometer Extremstrecke, dann folgt der Anstieg durch die Pyrenäen, dann noch der lange Weg durch Spanien. Zusammen noch mal 1.100 Kilometer. Das ist die Nord-Südentfernung Flensburg - München. Und noch einmal 350 Kilometer dazu. Es kommt von drei Pilgern in Richtung des spanischen Santiago de Compostela - geschätzt - nur einer von seiner Reise in die Heimat zurück. Hin und zurück also mehr als 5.000 Kilometer einer Wallfahrer-Lotterie."
Ich selber bin kein Pilger. Bin aber zum 5. Mal hier in diesem Talmont. Weil sich hier quasi diese "Götterdämmerung" erfassen lässt, das nahe, das Jüngste Gericht. Ich stehe hier wie damals die Wallfahrer oben an dem Mäuerchen und blicke auf den Fluss. Zehn Kilometer breit. Fünf, sechs, sieben Meter unter mir. Es ist wohl Flut, das heißt momentan wird das Wasser vom Atlantik wieder in die Trichtermündung der Gironde reingedrückt. Das ist sehr anschaulich in einem Büchlein beschrieben.
"Der unbändige Atlantik wirft seine besten Waffen und Geschwader in den Kampf gegen die Gironde. Das glasklares Salzwasser aus dem Schoss der Abgründe des Meeres gegen die gelbbraunen Wasser der Gironde. Eine Phalanx nach der anderen rollt gegen die breite Mündung an, hoch aufwallend, sich überschlagend und alles hinabreißend in den Läuterungstiegel der Tiefe."
Läuterungstiegel. Richtig erkennen können wir, die Menschen von heute, diese Wirbel und Strudel 16 Kilometer weiter stromabwärts. Wenn wir von Royan auf einer der stabilen Autofähren die Gironde überqueren. Wenn wir da spüren, wie diese schwere Seefähre bei auflaufender Flut stampft und rüttelt und schaukelt. Erst wenn man das von oben, von Bord gesehen hat, wird das Abenteuer Gironde für Segelbötchen mit sechs, sieben oder acht ängstlichen Pilgern überhaupt begreifbar. Die Rettungsweste ist noch nicht erfunden. Die sind damals drei bis fünf Stunden auf dem wilden Wasser unterwegs. Das ist hier kein See Genezareth mit eingezeichneter Fußgängerzone.
Wir betreten nun das romanische Kirchlein in Talmont, ungefähr 80 Plätze, Skulpturen, verwitterte Löwenfragmente? Das könnte der mutige Daniel in der Löwengrube sein? Mut und Gottvertrauen als Aufbauhilfe für die schwierige Überfahrt? Aber wichtiger als die Figurendeutung ist was uns diese Steine als Zeitzeugen erzählen, von Ste. Radegonde, der Patronin von Talmont. Zusammengefasst:
"Geboren gegen 520. Sie kommt als etwa zehnjährige thüringische Königstochter Radegunde oder Radegundis als Beute, als Geisel, auch als mögliche Heiratskandidatin an den Hof des Frankenkönigs Chlothar I., der Thüringen erobert hatte. Die Franken erziehen sie christlich und 'aus königlichem Geblüt'. Radegonde lebt bei den Merowingern in einer stark expandierenden Herrscherdynastie, in der es zum Tagesgeschäft gehört, konkurrierende Verwandte umbringen zu lassen. Das ist damals so gängig. Mit 20 Jahren wird sie von Chlothar, er ist 20 Jahre älter, zur Frau genommen. Genommen als einseitige Willensvollstreckung, wie es in allen Gesellschaftsschichten damals üblich ist. Radegunde soll, so das Gespött bei Hofe, eine Nonne- und kein 'Glückstreffer' in der Runde des königlichen Erheiterungs-Personals gewesen sein. Schließlich flieht sie, kann sich von ihrem Mann trennen."
Kleu: "Hier draußen steht auch eine Skulptur. Sie soll sich mildtätig und karitativ betätigt haben. Gründet in Poitiers das erste Frauenkloster des Abendlandes, in dem sie als königliche Nonne lebt. Sie wird schließlich in Frankreich heilig gesprochen. 150 Kirchen sind landesweit nach ihr benannt."
Die Pilger in Talmont suchen derweil den kleinen Hafen, der aber heute nicht mehr besteht. Sehen die schmalen Nussschalen-Segelboote. Und nun geht das üble Gefeilsche los. Zu welchem Preis geht es quer auf die andere Seite? Die Bootsführer winken ab, es sei heute zu gefährlich. Vielleicht Morgen, eher später. Also kümmert sich der Wanderer um einen kostenlosen Schlag Pilgersuppe und etwas Brot.
Nach weiteren drei Tagen wartet man in Talmont immer noch auf die Überfahrt. Erst als einige Pilger den Umweg über Bordeaux und rund 100 Kilometer Fußmarsch aufnehmen wollen, lenken die Bootsleute ein. Zitat:
"Die Seelen mancher Fährknechte sind weit vom heiligen Christopherus entfernt. Von Armen wie Reichen verlangen sie überhöhte Gebühren, die sie zudem wohlweislich vor der Überfahrt kassieren. Wer eine Barke mit zu vielen Leuten besteigt, sei gewarnt. Viele kentern in der Gironde. Darauf warten die Schiffsknechte nur und bemächtigen sich der Habe der Ertrunkenen."
Und diese apokalyptisch schlingernden Wellen mündet auch in den Bericht einer wundergleichen Rettung. Eine hilflos im Wasser treibende Pilgerin ruft den heiligen Kölner Erzbischof Anno persönlich um Hilfe an. Und der Heilige Anno kommt, begleitet von einer himmlischen Schar Rettungsschwimmer, so erinnert man sich in den Aufzeichnungen, und fischt die arme Frau aus der Gironde.
Und die Pilger steigen dann drüben angekommen durchnässt ans Ufer, fallen auf die Knie, ein Dankgebet. Sie werten es als ein Zeichen Gottes. Und sie besuchen nach einer Halbtagesetappe nun die Basilika und Wallfahrtskirche "Notre Dame de la Fine des Terres" in Soulac. Übersetzt, unsere liebe Frau der letzten Tage, oder unsere liebe Frau am Ende der Welt. In der damaligen Vorstellung ist die Welt auf einer Scheibe montiert, wo das wilde Meer nur mit Mühe von den Himmlischen gebändigt wird, um nicht in den Orkus abzustürzen. Bei den Jakobspilgern damals gilt diese Atlantikküste ab der Gironde-mündung als einer der Endpunkte der Welten-Scheibe. Und so machen sie sich wieder auf. Wir lesen:
"Sie stolpern bei brütender Hitze durch Sand- und über Wanderdünen dahin. Dahinter stapfen sie durch sumpfige Urwälder. Sie pilgern durch einen fast menschenleeren Landstrich. Die Saumpfade der Pilgerwege führen an spitzem Strandhafer und Dornenbüsche vorbei, die zerstechen ihnen Füße und Beine. Vom Meer bläst, selbst an friedlichen Sommertagen, ein stetiger Wind. Die Pilger auf ihrem langen Weg sind am Ende ihrer Kräfte. Die Zunge schmeckt nach Salz, das Gesicht ist von der Sonne verbrannt. Auch soll man Gesicht und Arm und Bein vor den riesigen Schwärmen von Rossbremsen schützen."
Und weiter steht hier, um die Ohren summen und stechen die Mücken aus den Sümpfen. Sie sind die Wegelagerer der Region. Eine Route der Leiden und Plagen. Sie werden nicht nur von Mückenschwärmen überfallen. Überfallen werden sie auch von Mönchen. In Wirklichkeit verkleideten Wegelagerern. Die bieten sich auch als falsche Beichtväter an und erschleichen sich das Vertrauen der Taumelnden am Rande eines Kollaps. Anderswo sind ihnen die die Richtungsschilder der Pilgerstrecke umgedreht, die Fremden werden in die Irre geführt, in Hinterhalte gelockt. La fine des Terres.
Heute tippeln oder radeln auch Einzelne noch- oder wieder auf den längst asphaltierten ehemaligen Pilgerwegen, die Mückensümpfe sind trockengelegt. Und so treffen wir ein älteres Paar auf stabilen Rädern unterwegs und fragen nach dem Wohin und Woher:
"Wir machen ein Tour von Holland aus nach Frankreich, eine Rundreise in den Süden. Und nach 2.000 Kilometer fahren wir nach fünf Wochen wieder zurück nach Hause."
"Was gewinnen Sie dabei, wo ist Ihr Profit?"
"Durch unser Schnellheit oder Langsamkeit eigentlich können wir mehr sehen unterwegs. Es ist schön zu reisen. Das Reisen ist ein Prinzip geworden und nicht wo wir hingehen."
"Sie sind ja diejenigen, die mit der Fahrrad etwas e r f a h r e n."
"Es ist herrlich, wenn man Blumen sehen kann und das Wasser hören und riechen kann. Das Hinterland mit die Baumen das ist ganz herrlich."