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Wo die Kamera ist, ist die Gefahr

Jörg Albrecht, der auch Romane, Hörspiele und Essays schreibt, hat ein fantasievolles Stück zum Thema "Überwachung" vorgelegt. Dabei geht es nicht um den moralischen Zeigefinger für Wolfgang Schäuble, sondern um das absurde Eigenleben "schmutziger Überwachungstechnologien". Roger Vontobel führte dabei Regie im Werkraum der Münchner Kammerspiele.

Von Sven Ricklefs |
    Bezeichnender Weise heißt der Titel des Films, der gedreht werden soll: "Aus dem Bild", obwohl es eigentlich darum geht, dass wir immer im Bild sind: im Bild der Überwachungskameras, die unsere Umwelt und unseren Alltag immer mehr aufzeichnen, festhalten und speichern. Darum zumindest drehen sich die Gespräche der Film-Crew auf der Bühne des Münchner Werkraumtheaters, die einen Billigset zeigt eines B-Movie-Zombiefilms.

    Während sich die versteckten Kameras an immer mehr Orten im städtischen Raum an uns heranzoomen, produzieren sie zugleich gleichsam ebenso endlose wie unscharfe Filme, die in ihrer schlechten Ästhetik und Dramaturgie an jenes Schmuddelkino der Zombiefilme erinnern, in denen es zumeist darum geht, dass klebrige Untote den wenigen Überlebenden nachstellen. Jörg Albrechts Stück "Lass mich dein Leben leben" ist bewusst in zwei Teile geteilt und zitiert damit jene Doublefeatures, mit denen billige Trashfilme zu Erfolgsschlagern werden.

    Während sich der zweite Teil als eine Art Teenie-Slasher geriert, kommt der erste Teil im Zombie-Gewand daher. Dabei verschwimmt den sechs Figuren ihre Realität am Set mit jener Realität, über die sie sprechen und mit den gespielten 20 Szenen des Films, wobei für alles gilt: Immer da, wo die Kamera ist, ist auch die Gefahr.

    "Gefahr als Glamour, aber das ist doch der Plot der Überwachungsfilme. Wo die Überwachungskamera ist, ist die Gefahr, wo die Gefahr ist, ist Glamour. Das ist der Plot und er ist täglich wahr, weil wir ihn täglich sehen in einem endlosen Film. Ja genau, dieser Plot in seiner endlosen Wiederholung in einem endlosen Film macht diese Stadt zu einem endlose Filme produzierenden Studio."

    Jörg Albrechts "Lass mich dein Leben leben" hat einen stark politischen Gestus, ohne vorschnell Schuldige zu benennen für unser sichtbares Abdriften in einen Überwachungsstaat. Denn eine Gesellschaft, die so stark auf Selbstdarstellung aus ist, wie die unsere, bekommt vielleicht tatsächlich die Technik und die Möglichkeiten, die sie sich insgeheim wünscht.

    Welche Pervertierung darin liegt zeigt Albrecht jedoch, indem er die philosophischen Diskurse, in die er seine Figuren schickt, eben gerade mit dem Genre von Splattermovies verschneidet. Nur folgerichtig, dass im zweiten Teil des Stückes die Überwachungskamera zum Auge des Slasher wird, dessen Methode es ist, seine Opfer zu beobachten, ehe er sie schlitzt.

    "Zwei Kameras pro Raum gleich zwei Räume, vier Kameras pro Raum gleich vier, sechzehn Kameras, na ihr wisst schon, ein Raum sechzehn mal. Sechzehn ineinander überlappende Räume."

    "Und er kann überall sein. Der Slasher kann überall sein. Ja. Also laufen."

    Während Jörg Albrecht also genüsslich die Genres zitiert, bezieht er sich zugleich immer wieder auch auf reales Material: etwa auf jene Bilder einer Überwachungskamera, die vor kurzen im Wartesaal einer New Yorker Klinik das Sterben einer Frau dokumentierten, die man wegen Überfüllung 24 Stunden lang warten ließ. Oder auf die Tatsache, dass man sogar schon in britischen Kinos inzwischen die Säle während der Vorstellungen mit Kameras überwacht.

    Es ist, als scratche sich Albrecht gekonnt durch Genres, Kunstformen, Theorien, Techniken und Alltagsmaterial ohne Rücksicht auf herkömmliche dramaturgische Strukturen oder die Setzung und Durchführung eines Plots. Und auch Uraufführungsregisseur Roger Vontobel versucht in den Münchner Kammerspielen nicht, dem Stück eine durchgängige Geschichte abzugewinnen. Er setzt szenisch wie ästhetisch ganz auf den trashigen Gestus von "Lass mich dein Leben leben", das zwischen philosophischer Pirouette und dem Kalauer, zwischen Kitsch und Horror seine Bandbreite findet. Dass sein Ensemble dabei naturgemäß in der ironischen Distanz zu den Figuren bleiben muss, tut dem überaus vergnüglichen Abend keinen Abbruch.

    Und so ist es sicherlich auch Vontobels Regiehand zu verdanken, dass man sich "Lass mich dein Leben leben" und dass man sich Jörg Albrecht merken sollte, als einen Autor, der auf eine ästhetisch höchst eigenwillige Weise unsere unmittelbare Gegenwart bearbeitet.