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Wo einfache Staatsbürger niemals hinkamen

Andere Länder kennen zu lernen, das war für die Bürger der DDR lange Zeit ein Traum. Auch deshalb waren Reiseberichte bei ihnen sehr gefragt. In einem Forschungsprojekt wird derzeit die DDR-Reiseliteratur untersucht und mit Bezug auf das weitgehende Reiseverbot gesellschaftlich und politisch eingeordnet.

Von Peter Leusch | 14.03.2013
    "Wir haben Werte darüber bekommen, dass ungefähr zehn Prozent aller Neuerscheinungen innerhalb der DDR-Literatur zur Reiseliteratur gehörten, das ist ein sehr hoher Prozentsatz … sodass man darauf schließen kann, dass bei der Leserschaft der DDR ein überdurchschnittlich großes Interesse daran bestanden hat."

    Mehr noch als in der Bundesrepublik war Reiseliteratur bei den Menschen in der DDR gefragt, erklärt Axel Dunker, er leitet das Institut für Kulturwissenschaftliche Deutschlandstudien der Universität Bremen. Diese Texte, ergänzt er, erschienen in hoher Auflagenzahl und mit vielen Neuauflagen. Die Leser fragten sich zum Beispiel, wie es jenseits der Parteiideologie im Bruderland Sowjetunion, in den unendlichen Weiten Russlands, denn wirklich aussah und griffen wissbegierig nach dem Reisebuch der Schriftstellerin Brigitte Reimann:

    "Ein Buch über Sibirien, und da wird sehr deutlich: das freie Land, das Land, das noch nicht kultiviert ist. - Wir haben scherzhaft gesagt, ein wilder Osten, so wie der Wilde Westen in Amerika. Es wird sehr deutlich, dass die DDR empfunden wurde als ein Land der Bürokratie, der Enge usw., sodass man sagen kann: Reisen – selbst für die Leser imaginäre Reisen - bedeuten einen Freiraum, angesichts der Beengungen in der Heimat."

    Michael Hofmann, der Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Interkulturalität an der Universität Paderborn, lehrt, hat Reimanns Sibirienbuch einer Neulektüre unterzogen. Und dabei entdeckt Hofmann, wie die Bilder und Erfahrungen der Fremde mit der Wahrnehmung des Eigenen korrespondieren, konkret: wie die unbeherrschbare Weite Sibiriens und ihre Verheißung von Freiheit zurückverweist auf die Unfreiheit zu Hause, auf die engmaschige Kontrolle im eigenen Land.

    Es ist eine Grunderkenntnis der Interkulturalitätsforschung, so Michael Hofmann, dass die Erfahrung des Anderen, des Fremden nie im luftleeren Raum beginnt, sondern auf der Folie des Eigenen. Die Heimat fährt immer mit, ja sie setzt schon Bedingungen, unter denen überhaupt gereist wird. Die Schriftsteller der DDR nämlich konnten nicht zu individuellen Urlaubsreisen oder selbstbestimmten Auslandsaufenthalten aufbrechen. Axel Dunker:

    "Sie waren Teil von Delegationsreisen, das heißt, sie sind in größeren Gruppen gereist, Brigitte Reimann zum Beispiel in Sibirien war Teil einer solchen Delegation, und es war genau vorgegeben, was sie zu sehen bekommen sollte, welche Orte sie besuchen durfte und davon abzuweichen war außerordentlich schwierig. Sodass dieser Anspruch, den ein Schriftsteller natürlich hat, eine individuelle Erfahrung zu machen und das auch individuell zu vermitteln, von daher auch schon sehr schwierig war."

    Zu Beginn der 70er-Jahre durften Heiner Müller und Günter Kunert in die USA reisen, weil sie von amerikanischen Colleges beziehungsweise Universitäten zu Gastprofessuren eingeladen worden waren, erläutert Janine Ludwig. Die gebürtige Magdeburgerin lehrt Literaturwissenschaft an der Universität Bremen.

    "Daraus sind dann Reiseberichte entstanden von DDR-Autoren über ihre USA-Erfahrungen … bei Kunert und Müller gleichermaßen relativ ablehnend, die waren beide nicht so begeistert von den USA … aber das Interessante ist, dass sowohl Kunert als auch Müller nicht so sehr auf der Parteilinie waren, dass sie diese Klassenfeindideologie übernommen hätten, so ohne Weiteres.

    Aber trotzdem haben sie an den USA Dinge kritisiert, die auf Ablehnungen und Kritikpunkte zurückgingen, die älter sind als die deutsche Teilung … schon um 1900 gab es gewisse Vorstellungen von einer anderen Kultur, die viel mehr auf Geld fixiert ist: auf Geld, Dollar und Business – das zum Beispiel hat auch Günter Kunert an den USA gestört."

    Die USA - das war aus kommunistischer Sicht, der Klassenfeind Nr. 1, Kernland des Kapitalismus und Hauptgegner im Kalten Krieg. Die DDR-Führung erwartete von ihren Schriftstellern, dass sie in ihren Reiseberichten über das kapitalistische Ausland – das KA wie es im SED-Jargon hieß - negative Seiten des Westens hervorheben: Arbeitslosigkeit, Ausbeutung und Dekadenz. Und es gab Texte etwa über Italien und Frankreich, wo von Bettelei, Prostitution und Drogenmissbrauch die Rede war. Aber wo auch Züge eines freieren Lebens geschildert wurden. Doch dabei stellte sich für die Autoren immer die Frage, was die Zensur durchlassen würde und was nicht. Fragen und Zweifel, die nicht erst nach Abschluss des Manuskriptes auftauchten, sondern schon in den Schreibprozess selber eingriffen – als Schere im Kopf. Axel Dunker:

    "Es ist schwer zu sagen, was die Zensur ausgeübt hat und was möglicherweise auch auf Kosten der Selbstzensur ging. Also der Autor, den wir da hatten, Bernd Schirmer, hat auch davon gesprochen, dass man selber natürlich bestimmte Vorstellungen davon im Kopf hat, was man eigentlich schreiben kann. Für viele Autoren, da sind wir immer wieder drauf gestoßen, da stellt sich während der Reise so ein Gefühl ein von: 'Nie wieder. Ich weiß wirklich nicht, ob ich jemals wieder die Möglichkeit bekommen werde, hierhin zu kommen. Jetzt ist es mir endlich gelungen.' - und in dem Moment, in dem sie das aufschreiben, versuchen sie das natürlich auch so abzufassen, dass sie eine Chance haben, hierher zurückzukehren. "

    Die weitere Forschung sollte den Einfluss der Zensur auf die Reiseliteratur genauer aufarbeiten, schlägt Axel Dunker vor, zum Beispiel durch Recherchen in den Verlagsarchiven und über Interviews mit damaligen Lektoren. Ein wichtiges Thema der Reiseliteratur bildet die Auseinandersetzung mit dem anderen Deutschland, mit der Bundesrepublik im Westen.

    Seit den 70er-Jahren, als DDR-Bürger Urlaubsreisen in die Länder des Ostblocks unternehmen durften, trafen sie dort auf Touristen aus Westdeutschland. Und sie mussten erleben, wie sie in ihren Bruderstaaten als Deutsche zweiter Klasse behandelt wurden. Es waren Erfahrungen, die sich auch in Reisetexten niederschlugen, so der Berliner Literaturwissenschaftler Bernd Blaschke:

    "Im Hotel bei Irmtraud Morgner in der 'Hochzeitsreise nach Konstantinopel' gibt es zwei getrennte Speiseräume mit einer Glasscheibe dazwischen, in dem einen sitzen die Devisentouristen, in dem anderen sitzen die ärmeren Ostdeutschen - und solche Beobachtungen gibt es in Osteuropa wiederholt."

    Die Wissenschaftler haben die DDR-Reiseliteratur inhaltlich analysiert und mit Bezug auf das weitgehende Reiseverbot politisch gesellschaftlich eingeordnet. Die Ergebnisse dieser Arbeit wurden auf der Tagung vorgestellt und diskutiert. Sie werden demnächst in einem Sammelband veröffentlicht.

    Ein weiterer aufwendiger Forschungsschritt steht aber noch aus. Es ginge darum, in einer empirischen Untersuchung Näheres über die Rezeption herauszufinden. Welche Texte wurde besonders viel gelesen und wie haben die Leser darauf reagiert? Denn das lässt sich aus den Auflagezahlen allein nicht ableiten, zumal nicht in einem Land mit Pressezensur und unterdrückter Meinungsfreiheit. Janine Ludwig:

    "Es war ja in der DDR das Phänomen, dass gerade Bücher, die aus politischen Gründen in kleiner Auflage erschienen, besonders viel gelesen wurden und herumzirkulierten. Man müsste eigentlich in Bibliotheken gehen, um herauszufinden, was oft ausgeliehen wurde, wenn das noch möglich ist, - und was schön wäre zu erfahren, wie die Leser diese Bücher aufgenommen haben. Haben sie das eher positiv als eine Möglichkeit im Kopf mitzureisen gesehen oder eher negativ als: 'Das ist gemein, dass ich hier so etwas lesen muss über ein Land, wo ich nie hinkommen werde.'"