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Wo kaum einer hinwill

Durch die Nähe zu Europas größtem Stahlwerk ist die Feinstaubbelastung im Duisburger Stadteil Bruckhausen ernorm. Da regelmäßig die zugelassenen Grenzwerte überschritten werden, will die Stadt Duisburg und die Thyssen AG einen Grüngürtel anlegen: Auf Kosten großer Teile Bruckhausens.

Von Johanna Herzing | 29.05.2011
    Verfallene Häuser im Duisburger Stadtteil Bruckhausen. 200 dieser Gebäude sollen abgerissen werden und dem Projekt Grüngürtel weichen.
    Verfallene Häuser im Duisburger Stadtteil Bruckhausen. 200 dieser Gebäude sollen abgerissen werden und dem Projekt Grüngürtel weichen. (picture alliance / dpa)
    "Und jetzt sage ich Ihnen etwas: Das hab ich damals gehört im Fernsehen damals, von unserem Hamborner - wie heißt der noch mal? - Jetzt muss ich überlegen, also Manfred Krug. Dieser Manfred Krug hat sich in einem Fernsehinterview geäußert. In einem Fernsehinterview, das ich selbst gehört habe: 'Bruckhausen ist der Arsch der Welt!' Das hat der wörtlich gesagt – dafür steh ich gerade!"

    Es gibt Orte, die haben einfach keinen guten Ruf. Zu Recht oder zu Unrecht, wer mag das schon beurteilen? Mich interessieren sie, diese Städte, wo niemand hin will.
    Vielleicht weil es mir nicht gefällt, wenn andere bestimmen, wo es schön ist und wo nicht.

    Ich bin auf dem Weg in den Duisburger Norden: genauer gesagt nach Bruckhausen. Bruckhausen, das es so bald nicht mehr geben wird, denn der Stadtteil wird abgerissen.

    Eine knappe halbe Stunde braucht die Straßenbahn vom Hauptbahnhof, dann tauchen die ersten Schlote auf, dicke grüne Rohrleitungen kreuzen die Straße.

    "Was man zuerst sah, das waren riesige Hallen, das ist das Erste, was man von Thyssen sah. Diese Hallen wirkten damals wie große Schuppen. Heute sehen sie große Stahlhallen, verglast ... Diese unglaubliche Rauchentwicklung oder Abgasentwicklung. Diese Hallen waren teilweise oben geöffnet und dadurch strömte einfach alles, die Giftgase oder was das war, strömte einfach oben durch die offenen Hallen."

    Der Duisburger Norden – er ist geprägt von einem Namen und der lautet August Thyssen. In den 1890er-Jahren gründete der Industrielle hier sein Imperium aus Kohle und Stahl, mit Hütten- und Zechenwerk sowie einer Kokerei. Drum herum entwickelte sich in rasantem Tempo die Stadt Hamborn – heute ein Teil von Duisburg. 5 große Doppelschachtanlagen begründeten Hamborns Ruf als Thyssen-Stadt.

    "Das sind so Bilder, die man als Kind oder Jugendlicher hatte – und dann noch eins: Es gab eine Kohlen-Seilbahn, die von der Schachtanlage herausging und brachte Kohle über einen Ortsteil ... und den ganzen Tag liefen über den Himmel kilometerlang diese kleinen Wagen ... "

    An dieser Stadt in der Stadt, an den Schloten, Hallen, Abraumhalden fahre ich aber zunächst vorbei. Erst als Thyssen mir im Rücken liegt, verlasse ich die Tram und steige in den 3. Stock eines alten Backsteinhauses, zu Hans Lembeck.

    Hans Lembeck ist 91 Jahre alt. Die Lokalzeitung nennt ihn das "Gedächtnis von Hamborn". Beinahe sein ganzes Leben hat er hier verbracht. Als Buchhändler, später als Reiseleiter.

    Weil ihm das Gehen inzwischen ein wenig schwer fällt, spazieren wir in der Erinnerung. Schlendern zwischen alten Fotos, Urkunden, Filmausschnitten herum.

    "Das ist das Elternhaus von mir auf der rechten Seite ... gegründet wurde das Haus also 1904 als Buchhandlung ..."

    Akurat hat Hans Lembeck seine Unterlagen vorbereitet. "Privathistorik" steht auf seinem Briefkopf. Die Geschichte der Stadt hat er lange Zeit erforscht, alles peinlich genau notiert und dokumentiert. Alles in bester Ordnung, staubfrei und in Schutzhüllen gepackt.

    "Wenn man hier aufgewachsen ist: Natürlich hat man den Schmutz ... Also bei meinen Eltern ging alles sehr streng zu. Damals war es so, die Verkäuferin vom Laden, die musste jeden Morgen mit dem Handfeger an den Schaufenstern unten den Staub wegfegen. Das konnte schon mal so ein Zentimeter sein ..."

    Die Stadtteile im Duisburger Norden sind mit dem Thyssen-Werk gewachsen. 1911 zählte Hamborn über 100.000 Einwohner, war eine pulsierende Großstadt.

    "Meine liebste Freundin war da drin in dem Kaufhaus. Man sagte damals, sie war eine "Aufsichtsperson", das hat's früher gegeben. Und noch eins, was man nicht vergessen darf: Dieses Kaufhaus von Leonhard Tietz schräg gegenüber dem Hamborner Rathaus - das Gebäude steht ja heute noch - das hatte oben ein Dachcafé – super ausgestattet mit einem wunderbaren Fernblick über Hamborn. Bis nach dem Krieg hat das noch bestanden."

    Die Stadtteile in unmittelbarer Werksnähe waren keine reinen Arbeitersiedlungen.

    "Bruckhausen war ein Stadtteil, der durch Bürgerhäuser entstanden ist ... Auch die Wohnungen von den Ingenieuren von Thyssen waren in Bruckhausen. Also so ist das bei Thyssen nicht gewesen. Es hat einige ganz hervorragende Villen im alten Baustil gegeben, die waren direkt da am Stadtrand zu Bruckhausen zugehörig. Also mit anderen Worten, es war nicht so, dass Thyssen seine Höhergestellten ins Grüne geschickt hätte, nein die hat er auch in Bruckhausen, da hat er denen Häuser gebaut und hat die wohnen lassen."

    Viele Gaststätten hat es in Bruckhausen gegeben, nicht zu vergessen das Apollo-Theater, in dem 1.600 Menschen Platz fanden und begeistert Operetten lauschten.

    Zugleich aber hatte der Stadtteil immer unter dem Schmutz, den Abgasen, dem Feinstaub zu leiden.

    "Wenn man die ganz alten Bilder sieht. Es gibt da Fotos davon: Wo also Häuser sind und da steht genau nur wenige Meter dahinter der Hochofen oder beziehungsweise die Kokerei – und da haben tatsächlich Menschen gelebt – das ist ja also menschenunwürdig. Die Kinder mussten einem ja leidgetan haben und das waren ja kinderreiche Familien.
    Damals wurden die Kamine ja noch nicht so hoch gebaut und wenn der Staub dann über ganz Hamborn fiel, dann kann man sich ja vorstellen, dass das zuerst nach Bruckhausen ging ..."

    Es war nicht gesund, das Leben im Dunstkreis von Thyssen. Auch später nicht. 1985 erscheint das Buch "Ganz unten". Als türkischer Gastarbeiter Ali lebt der Journalist Günter Wallraff in Bruckhausen und leistet bei Thyssen im wahrsten Sinne des Wortes "Drecksarbeit". Er sammelt Staubproben und lässt sie im Labor untersuchen:

    "Was gefunden wurde, liest sich wie das Who is Who aus der Welt der Schwermetalle: Actinium, Barium, Blei, Brom, Chrom, Eisen, Gadolinium, Kobald, Kupfer, Mozebdan, Niobium, Palladium, Quecksilber, Rhodium, Rubidium, Ruthenium, Selen, Strontium, Technetium, Titan ... insgesamt 25 verschiedene Schadstoffe."

    Bruckhausen kommt bei Wallraff schlecht weg; er beschreibt einen sterbenden Stadtteil, in dem die Häuser runtergekommen sind und leer stehen.

    Auch Hans Lembeck mag den Stadtteil nicht verklären. Wie sagte er noch? Der galante Herr mit den feinen Umgangsformen, dem sorgfältig zurückgekämmten Haar, dem gestärkten Hemdkragen und dezenten Parfum?

    "Bruckhausen ist der Arsch der Welt!"

    Eben diesen will ich mir nun selbst ansehen.
    Die Straßenbahn zuckelt zur Haltestelle Matenastraße: Laut ist es hier, die zweispurige Straße ist stark befahren. Rechter Hand die Hallen und Schlote von Thyssen, linker Hand eine Häuserzeile – zwei-dreigeschossig, manche Häuser aus der Zeit um die Jahrhundertwende, andere jüngeren Datums.

    An der Haltestelle erwartet mich Katrin Gems von der Geschichtswerkstatt Duisburg-Nord. Die blonden Haare hat die Historikerin wind- und wetterfest nach hinten gesteckt, der schwarze Anorak knautscht beim Gehen in mein Mikro.

    "Also Tor 1 bleibt stehen, dieses Gebäude, aber dann soll die gesamte Front abgerissen werden bis zum Ende des Stadtteils und wir werden gleich sehen, wie tief das noch rein geht ... "

    Wir gehen an der Kaiser-Wilhelm-Straße entlang, bewegen uns zwischen Thyssen und Bruckhausen. Ob die Häuser noch bewohnt sind, will ich wissen.

    "Teilweise schon noch. Sie müssen bedenken, das hier ist seit dem 1.1. 2008 Sanierungsgebiet und das heißt es gibt eine Veränderungssperre, das heißt für die Eigentümer der Häuser, dass sie nicht mehr renovieren dürfen und das heißt auch, dass den Mietern eine Umzugsprämie gewährt wird, das heißt die kriegen Geld dafür, wenn sie wegziehen. Das haben viele in Anspruch genommen und natürlich: Je mehr Leute gehen, je weniger es zu kaufen gibt im Stadtviertel, je mehr die Verwahrlosung voranschreitet. Natürlich kommen Menschen her, die plündern die leeren Häuser. Es ist natürlich auch weniger Lebensqualität, wenn die Häuser nebenan leer stehen, je mehr Häuser leer stehen, desto mehr Leute gehen weg."

    Mit einem Grüngürtel rund um das Werk wollen die Stadt und Thyssen die Lebensqualität in den nördlichen Stadtteilen verbessern. Ein Großteil vom alten Bruckhausen – rund 170 Häuser sollen deshalb verschwinden. Das Leben so nahe am Werk hält man für unzumutbar.

    "Hier wohnen seit über 100 Jahren Menschen, hier hat's immer billigen Wohnraum gegeben, das hat immer viele Menschen angezogen. Bruckhausen ist einer der Stadtteile, der wächst. Genau wie Marxloh. Während andere Stadtteile schrumpfen: Es gibt eben einen Bedarf an preiswertem Wohnraum."

    Wir folgen dem Straßenverlauf ein Stück weit, an einem Eckhaus im Heimatstil der Jahrhundertwende mit Fachwerk an den Giebeln - wird gewerkelt. Die Tür steht weit offen.

    "Hier war immer 'ne Gaststätte, die auch verschiedene Schichten der Tradition durchgemacht hat. Erst eine sehr vornehme deutsche Gaststätte und in den 80er-Jahren müssen hier ganz tolle Live-Konzerte türkischer Sänger stattgefunden haben. Heute gibt's Fernsehen. Das ist ein sehr schönes Haus, ist auch komplett erhalten. Auch innen drin: Die Fenster sind unten erhalten, mit den Bleiverglasungen, die erzählen teilweise auch Ortsgeschichte: Da drüben im Fenster ist eine Grubenlampe, finde ich wunderbar."

    Ein Löwenkopf – das Wahrzeichen Hamborns - thront über dem Eingang, "Schwarzer Diamant" ist auf dem Gaststätten-Schild zu lesen. Damit ist kein Edelstein gemeint, sondern die Kohle, die ein paar Meter entfernt abgebaut wurde. Vom Werkstor über die Straße direkt zum "Herrengedeck" mit Schnaps und Bier – Bruckhausen ist der Inbegriff des alten Ruhrgebiets. Das fanden offenbar auch die Filmproduzenten: in Bruckhausen – erzählt Katrin Gems – wurden die legendären ersten Tatort-Folgen mit Horst Schimanski gedreht.

    "Wenn sie hier die Straßen sehen: Häuser mit bürgerlicher Architektur, also keine Werkssiedlung, sondern wirklich ein von Bürgern erbauter Stadtteil, der noch die Straßen hat, die in sich als Sichtachsen auf das Werk zulaufen, das haben wir sonst im Ruhrgebiet nicht mehr und wir haben hier einen Stadtteil, der der erste war, in dem hauptsächlich Migranten gelebt haben. Auch das ist eine historische Besonderheit und das empfinden die Leute hier auch als eine historische Besonderheit – das wird mir öfter auch von Türken erzählt und die sind da stolz drauf – das ist ihr Stadtteil. Dass das so aussieht, wie es eben aussieht, das finden die auch nicht schön, aber es ist ihre Heimat hier in Deutschland."

    Wir kommen am "Scooterland" vorbei - einem Geschäft für Motorroller. Sein Besitzer Yasar ist einer der Letzten, die sich hier an der vordersten Abrissfront noch halten. Doch er selbst ist heute nicht im Laden; zwei Kollegen kümmern sich aushilfsweise ums Geschäft. Vom Grüngürtel halten sie wenig:

    "Viele sind dagegen, die ihre Geschäfte haben und sagen wir mal hier, der Kollege auch hier, der muss sich auch irgendwo jetzt einleben müssen. Dat dauert auch mehr als Jahre bis die Leute sich hier, die ganze Kundschaft und so weiter... ne? Ist alles hier irgendwie, sieht 'n bisschen böse aus."

    Die ganze Nachbarschaft werde auseinandergerissen. Viel mehr will der Mann nicht sagen; es scheint, er hat sich längst damit abgefunden. Ich folge Katrin Gems weiter, hinein in den Stadtteil.

    "Jetzt gehen wir links ... Das sind Thyssen-Häuser und zwar alle; das ist der Kindergarten; wenn Sie sich umdrehen, sehen Sie in ein paar Metern Entfernung den neuen Hochofen. Das ist ein sehr schönes Gebäude. Auch das wollte man abreißen, dann hat man vor ein paar Jahren noch eine Million Euro investiert und dann hat der Sanierungsbeirat gesagt: Ihr seid doch verrückt: Ihr investiert hier so viel Geld und jetzt wollt ihr das abreißen. Deswegen bleibt das jetzt stehen und soll auch unter Denkmalschutz gestellt werden."

    Vor uns liegt eine breite, aber ruhige Straße. Wir können in der Mitte laufen, nur selten fährt ein Auto vorbei. Platanen säumen den Rand, im Sommer muss es schön sein hier. Katrin Gems führt mich zur Rückseite einer kleinen Backsteinvilla aus den 10er- oder 20er-Jahren. Von einer kleinen Terrasse aus blicken wir in den verwilderten Garten.

    "Hier müssen wir aufpassen. Hier hat offenbar jemand mit sehr viel Kraft die Brüstung oben losgeschlagen. Das ist das eben, was passiert, wenn sehr viel leer steht: Da kommen Leute und reißen alles raus, was sie gebrauchen können. Die Kupferdrähte aus den Wänden, hier sind die Heizungen raus geklaut worden. Diese Kugel hier, die tut mir so besonders leid – da drüben war auch eine – da hat man die Balkonbrüstung drauf geschmissen. Wie gesagt: soll sowieso abgerissen werden."

    Die Fenster im Erdgeschoss fehlen, an ihrer Stelle sind Metallplatten eingesetzt. Allerdings schief, weshalb schon den ganzen Winter über Feuchtigkeit eingedrungen sei, sagt Gems. Die Hintertür steht offen. Ein großer Schritt über eine Pfütze und wir befinden uns im Inneren des Hauses.

    Die Wände sind bunt tapeziert, auf dem Boden Schutt, ein paar Steine und Scherben, eingebaute Wandschränke stehen offen, einige von ihnen hat man zugemauert. Die Räume großzügig, aber nicht protzig – eine bescheidene Jugendstil-Villa mit kleinen Spielereien – etwa der Kuppel im Eingang, die an eine Kapelle denken lässt.

    "Hier der schöne Raum mit dem Erker, wirklich sehr hübsch gemacht mit dem Geländer hier, Treppe.
    Da geht's dann rauf zu den Mädchenzimmern"

    Im letzten Jahr haben in diesem Haus noch Menschen gewohnt, jetzt soll es abgerissen werden. Dabei sei es wie viele andere Häuser in Bruckhausen denkmalwert, meint Katrin Gems, als wir wieder ins Freie treten. Der Landschaftsverband Rheinland halte sogar Bruckhausen als ganzes Ensemble für schützenswert, aber bislang wurde kein Haus unter Denkmalschutz gestellt. Es sei eben eine kleine Behörde und entsprechende Gutachten seien zeitaufwendig und teuer.

    "Dann kommen wir jetzt zum Heinrichplatz. Das ist der Marktplatz... Hallo Hier hab ich im Sommer viel Zeit verbracht."

    Wir sind an der Ecke eines großen Platzes angelangt. Auch hier schöne alte Bäume, weiter vorne ein türkisches Lebensmittelgeschäft und ein großer Spielplatz.

    Auch der Heinrichplatz ist ein ruhiger Fleck – zumindest was den Verkehr angeht. Auf dem Spielplatz toben Mädchen und Jungen. Tanzen zu Melodien aus dem Handy, lutschen buntes Pfennigeis auf der Parkbank. Sie kommen aus Bulgarien, erzählen sie aufgeregt und in gebrochenem Deutsch. Untereinander sprechen sie aber Türkisch.

    "Die sagt: Das muss im Radio sein, ja? - Ja!"

    Neschda – ein dunkelhaariges Mädchen – ist offenbar die Älteste und Anführerin der Gruppe, zumindest was ihre Deutschkenntnisse angeht:

    "Hier ist schön, zu mir ist es schön, aber von die weiß ich nicht.
    - Ja, die mag auch hier ... Ich mag hier, hier ist schön für mich, ich geh hier zur Schule."

    Manche der Mädchen wohnen in Häusern, die abgerissen werden sollen. In eine neue Wohnung ziehen, das wäre gar nicht so schlecht, sagen sie noch. Dann geht unser Gespräch im Toben und Spielen unter.

    Ganz in der Nähe sitzt Hacer Kiran gemeinsam mit ihrem kleinen Sohn auf einer Wippe. Ihre Eltern, erzählt sie, sind vor über 35 Jahren nach Bruckhausen gezogen, konnten sich schließlich ein Haus kaufen, das sie aufwendig und teuer renoviert und eingerichtet haben. Jetzt sollen sie ausziehen. Um sie herum ist es einsam geworden.

    "Die sind die Letzte fast – kann man sagen – in der Straße. Die und noch ne Nachbarin, nur zwei Leute, alle haben schon ausverkauft. Ist auf jeden Fall nicht schön. Die sind jeden Tag traurig. Mein Onkel hat auch renoviert vor 10 Jahren, jetzt wollten noch mal neue Möbel kaufen, aber jetzt sagt er: Warum soll ich denn machen? Irgendwann kommen die und sagen, die Häuser werden abgerissen. Deswegen die möchten überhaupt keine Tapete mehr machen, also die möchten auch nicht sofort umziehen, die möchten auch nicht renovieren, die wissen auch nicht. Wie sagt man das? Die sitzen nicht gemütlich in ihrem Haus jetzt."

    Wegziehen – das kann sich die junge Frau nicht vorstellen. Sie fühlt sich wohl in ihrer Nachbarschaft, viele ihrer Verwandten wohnen hier. Die muslimische Infrastruktur mit Moscheen, Teestuben, Lebensmittelläden und Markttag sei so praktisch.
    Doch zurück zu Katrin Gems. Wir lassen den Heinrichsplatz hinter uns und biegen ein in eine Straße, in deren Häuserzeilen bereits einige Lücken klaffen. Schöne Häuser aus der Gründerzeit seien das gewesen, mit alten Fliesen in den Fluren. Auch die verbliebenen Häuser sollen bald weichen. Unentwegt schnellt Katrin Gems Finger hervor, markiert das Abriss-Soll.

    "Es werden ja nicht alle Wohnhäuser abgerissen, aber es ist eben die Frage: Wohnen dann hier noch genug Menschen um den Stadtteil erhalten zu können? Ganz abgesehen von der denkmalschützerischen Katastrophe und auch der sozialen Katastrophe, die angerichtet wird."

    Katrin Gems wirkt erschöpft, als sie das sagt. Von fern nähert sich ein klappriger Lkw mit Kindermelodie – dann biegt der Schrottsammler um die Ecke.

    Und ich? Ich setze mich wieder in die Straßenbahn. Denke: So finster ist es da gar nicht – am Arsch der Welt – oder liegt der am Ende doch woanders?