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Wo Minusgrade gesund machen

Obgleich Seefeld mit dem Klimawandel zu kämpfen hat, eine kältesichere Zone gibt es im Tiroler Wintersportort dort noch: eine Kältekammer, die bei -110 Grad auch abgehärtete Naturen zum Frieren bringt. Für Rheuma- wie Stressgeplagte sind die niedrigen Temperaturen jedoch genau das Richtige, verheißen sie doch Schmerzlinderung und Erfrischung.

Von Dörte Hinrichs | 20.07.2008
    Ja, so fühlt sie sich an, die Kältekammer und selbst an heißen Sommertagen kostet der Aufenthalt darin Überwindung. Aber wer will schon uncool sein in diesen Zeiten. Das schicke Seefelder AlpenMedHotel Lamm bestimmt nicht. Erstmals in einem deutschsprachigen Hotel wurde hier eine Kältekammer eingerichtet. Eine Art Sauna andersherum für die eigenen Gäste, aber auch für Kältesuchende von außerhalb.

    Einer der die Kälte eigentlich nicht bewusst gesucht hat, vielmehr die Tropen liebt und zeitweise in Kenia gelebt hat, ist der Arzt Dr. Georg Kettenhuber. Auch ohne eine besondere eigene Affinität zur Kälte schafft er es, Neugierige in Seefeld für die Kältekammer zu erwärmen, ist er doch der medizinische Beistand bei diesem Experiment.

    "Ich verstehe es gut, wenn Patienten sagen, nein, sie mögen das nicht, das ist ihnen zu kalt. Es sind -110 Grad, die kommen in der Natur in dieser Welt nicht vor, im Universum schon, aber auf dieser Welt nicht. Aber es fühlt sich nicht wie Kälte an, es ist schon wieder so kalt, dass es ganz kurz als kalt empfunden wird, dann laufen alle anderen Rezeptoren auch an, und es wird als Brennen, als Prickeln, als Wärme, als komische Gefühl empfunden, aber nicht mehr als Kälte."

    Aber noch ist es nicht so weit. Bevor sich die frostsicheren Türen der Sauna andersherum öffnen, ein kleiner Ausflug in die Entstehungsgeschichte der Kältekammer:

    "Erfunden wurde diese Kältekammer von einem Japaner. In den siebziger Jahren, ist dann schon in den achtziger Jahren nach Deutschland gekommen, und es gibt in Deutschland einige Kältekammern - und in Tirol gibt es zwei, davon ist eine bei uns im Hotel und die andere ist in Bad Hering, das ist eine Kuranstalt. Und dann gibt es in Österreich noch drei bis vier. In unseren Breitengraden ist es noch eine relativ neue Therapie. Wer relativ viele Kältekammern hat, ist Polen, Russland, Finnland, die machen auch relativ viele Versuche damit. Und wer in Deutschland viele Versuche damit macht, das sind die Sportwissenschaftler. Das finde ich gerade so spannend. Da wird viel gemacht zur Leistungssteigerung. Und auch die ganzen Reha-Kliniken, die mit Rheumapatienten arbeiten, auch die haben Kältekammern in der Zwischenzeit schon."

    Schon im antiken Griechenland, in Persien und Rom wusste man um die gesundheitsfördernde Wirkung der Kälte, wo Schnee, Eiswassergemische und kaltes Wasser zur Behandlung einer ganzen Reihe von Erkrankungen eingesetzt wurden. Nicht nur bei Rheuma, auch bei Arthrose, chronischen Schmerzen, Neurodermitis, Muskelverspannungen und Asthma kann die extreme Kälte Schmerzen lindern. Und bei stressgeplagten sowie burnoutgefährdeten Menschen kann der Kurzurlaub in der Kältekammer wieder neue Kräfte wecken. Länger als drei Minuten sollte der Kälteschock allerdings nicht andauern, denn bei -110 Grad wird dem Körper einiges zugemutet:

    "Er reagiert zuerst einmal, dass die Haut kalt wird, die Haut wird zum Beispiel am Unterarm auf bis zu fünf Grad abgekühlt, innerhalb dieser 30 Sekunden bis drei Minuten. Der Körper reagiert mit einem Zusammenziehen der Blutgefäße zu einer sogenannten Wasserkonstruktion. Wenn die Leute aus der Kältekammer rauskommen, haben ganz viele Leute eine schöne Ganslhaut, wie das auf tirolerisch heißt. Und in weiterer Folge müssen die Leute nachruhen, die Gefäße stellen sich wieder weit, die Haut erwärmt sich wieder, das Ganze dauert zwischen 20 Minuten und einer halben Stunde. Und dann ist man wieder fähig, alles mögliche zu tun."

    Zum Beispiel im Karwendelgebirge herumzukraxeln oder mit dem Mountainbike die sportlichen Leistungsgrenzen zu testen - der Berg ruft. Es geht aber auch bequemer: Sich mit dem Fiaker, die mitten in der Seefelder Fußgängerzone stehen, bequem durch die Gegend kutschieren zu lassen - oder mit der Bergbahn hoch zur Rosshütte zu fahren.

    Das klingt nach rustikalem Hüttenzauber, entpuppt sich aber als moderner Glasbau mit einer großen Terrasse und Liegestühlen. Hier vor einer fantastischen Bergkulisse in der Sonne brutzeln und Körper und Seele baumeln lassen - alles Fluchtgedanken vor der Expedition in die Kälte. Doch nun wird es ernst:

    Dr. Kettenhuber schließt die Tür auf mit einer kleinen Gruppe von "Eisheiligen" im Gefolge

    " Das ist sozusagen der Vorraum, jetzt rauscht es gleich - das ist eine Anlage, dass man auch drinnen die Leute nicht nur sieht, sondern ihnen auch Anweisungen geben kann. Weil, wir hatten auch schon Leute drin, die haben gemeint, sie müssen Turnübungen drinnen machen und drin rumspringen, und das ist keine gute Idee in der Kältekammer. Man geht eine Runde, dann geht man noch eine Runde ganz gemütlich, man schaut, dass die Arme nicht am Körper anliegen, damit man nicht anklebt am eigenen Körper. Jetzt schalte ich es doch noch mal ein, damit sie sehen auch: Man geht da rein durch diese Riesentür, ist dann in der ersten Kammer, geht zwei kleine Runden, dann in der zweiten Kammer zwei Runden und dann kommt man in die dritte Kammer und geht dort halt wie lange auch immer."

    Der Kälteschock passiert in Raten: Nach jeder Kammer wird es kälter - nach Nordeuropa kommt Sibirien und die dritte Kammer, mit -110 Grad, sprengt die Vorstellungskraft. Der Kältetest ist nichts für Klaustrophobiker: Die drei saunaähnlichen Kammern sind gerade zwei mal drei Meter groß, aber es gibt eine Nottür, für die schnelle Flucht aus der engen Kältekammer. Und es gibt ein paar Verhaltensregeln:

    "Man wird selbstverständlich geführt. Allein hineingehen sollte man nicht, man sollte auch nirgends hingreifen mit der bloßen Haut, weil: Da würde man bei -110 Grad auf Metall, da bleibt man kleben, und das macht sich nicht so gut. Manche Leute sind psychisch so aufgezwirbelt, die haben so einen Spundus vor diesen -110 Grad, dass die so aufgeregt hineingehen, dass die überhaupt nichts aushalten. Deshalb mache ich es ganz gerne am Anfang, dass ich es nur eine halbe Minute mache, dann eine Minute und dann steigere."

    Auch bei uns steigt langsam die Aufregung. Isabella, die Assistentin von Dr. Kettenhuber misst den Blutdruck - Überraschung: 120 zu 80, alles im Grünen Bereich, auch bei den anderen, die das Kälteexperiment wagen wollen. Noch wärmt der Bademantel über dem Bikini. Eine junge Frau aus München zieht sich gerade Handschuhe und Mütze an, eine letzte Auskunft bevor sie sich auch den obligatorischen Gesichtsschutz überstülpt, denn auch bei Nase, Mund und Kinn ist die Gefahr von Erfrierungen groß:

    "Ich stelle es mir verdammt kalt vor, aber auch sehr trocken, weil die Luft so komprimiert sein soll, bin relativ aufgeregt, wundere mich, dass der Blutdruck, der gerade gemessen wurde, so gut ist."

    "Ich bin aufgeregt, super gespannt, bin sehr müde jetzt. Mir wurde gesagt, das wird sich gleich schlagartig ändern, wenn ich herauskomme, bin ich topfit."

    Wir betreten die erste Kammer bei -15 Grad, eine fast angenehme Winterkälte streift die Haut. Durch die kleinen Fenster haben wir Blickkontakt mit Isabella, die uns über den Monitor sehen kann. Mit warmer Stimme gibt sie per Gegensprechanlage durch, wie lange wir schon in der Kältezone verharren.

    "Die ersten 40 Sekunden sind vorbei, und eine Minute. Geht es allen gut? Bleiben wir noch drin? Eine Minute 15. Wer möchte, bitte den Raum verlassen."

    Die meisten möchten. Bei -60 und erst recht bei -110 Grad bleibt einem doch fast die Luft weg. Und wie haben es die anderen erlebt?

    "Gut war es. Es prickelt sehr, vor allem in den Oberschenkeln. Ich bin jetzt ein bisschen überrascht, war dampfiger, als ich es mir vorgestellt habe. Wir waren jetzt zu dritt in der Kabine: Die erste Kabine war noch unheimlich angenehm, nur -15°, bei -60° merkt man schon, oh, irgendwie anders, und -110 Grad ist ganz schön frisch, ist doch kalt."

    "Also, am Anfang hatte ich gar nicht so ein starkes Kältegefühl, aber so nach eineinhalb, zwei Minuten da setzten dann doch auch die Haare hoch - und dann wurde es richtig kalt, aber ich bin jetzt wacher, es kribbelt. Ich bin auch ein bisschen außer Atem, aber ist interessant, definitiv."

    "Interessant ist nicht so sehr die Abkühlung und die Wasserkonstriktion, sondern die zweite Reaktion, dass die ganzen Nerven reagieren. Die ganzen Nervenenden reagieren, indem sie Reaktionen weiterschicken, und zwar sowohl die Wärme als auch Kältereize werden weitergeleitet zum Teil auch als Brennen, was natürlich ganz falsch ist, aber trotzdem macht er das. Und nachfolgend ist es so: Schmerzen werden dadurch reduziert."

    Auch wer keine Schmerzen zu lindern hat - der Kältekammerbesuch ist zumindest hinterher eine Wohltat: Die Müdigkeit scheint verflogen, die Haut ist gerötet und erfrischt, der Kopf herrlich klar. Das Echo ist überwiegend positiv - auch bei den Kurzurlaubern in der Kältekammer:

    "Also ich finde es angenehm, nicht unangenehm, aber ich würde sagen, für mich war eine Minute gerade gut genug, länger hätte ich das Gefühl gehabt, es ist wirklich kalt. Mir hat die Nase angefangen, ein bisschen zu bizzeln, so innen drin, die Haare sozusagen."

    "Der Bademantel kribbelt, die Augenlider fangen fast an zu kleben, das Herz bubbert, also ob man neue Decke übergezogen bekommen hat, da hat man gemerkt, dass die Zeit langsamer geht, je länger man drin ist, wenn sich mehr Dampf bildet."

    "Aber es ist gar nicht so schlimm kalt, mir taten nur von unten die Füße so weh, das war kalt, aber ansonsten angenehm frisch. Im letzten Raum, das war wie eine kalte Mauer, da fiel das Atmen am Anfang echt schwer."

    Erfrierungen oder Frostbeulen hat sich keiner in der Kältekammer geholt. Die Wasserliegen im Ruheraum und die Decken zum Einwickeln sind ein Genuss, das Kribbeln auf der Haut lässt langsam nach, die Entspannungsphase kann beginnen. Von hier aus schweift der Blick auf die Pfarrkirche St. Oswald, einer der wenigen gotischen Gotteshäuser in Tirol. Sie ist eigentlich der Ausgangspunkt für die Berühmtheit von Seefeld, wie mir Christine Bloch erzählt, die seit über 30 Jahren hier lebt:

    "Seefeld hatte mal eine sehr große Wallfahrt, also wirklich ein Wallfahrtsort, wo die Leute gekommen sind, das war eigentlich der Anfang vom Tourismus in Seefeld und zurückgegangen ist die Wallfahrt, als der Sohn Maria Theresias diese kirchlichen starken Verehrungen mehr oder weniger verboten hat. Da ist eigentlich auch die Häufigkeit der Wallfahrt zurückgegangen in Seefeld. Wobei die Wallfahrt zum heiligen Blut, diese Hostie, worauf die Legende begründet ist, die ist immer noch zu betrachten in der Pfarrkirche zu Seefeld."

    Doch was ist das für eine Legende, die einst so viele Wallfahrer nach Seefeld lockte - und die noch heute so manch einem Kirchenbesucher kalte Schauer über den Rücken laufen lässt beim Anblick der Bluthostie?

    "Oswald Milser in seinem Hochmut wollte am Fronleichnamstag vom Priester die große Hostie bekommen, die sonst nur dem Priester vorbehalten ist, und in dem Moment, wo seine Zunge die Hostie berührt hat, ist sie blutrot geworden, und er ist im Stein eingesunken, man kann neben dem Altar noch die Abdrücke sehen von seinen Knien. Aufgrund dessen ist er allerdings gläubig geworden und büßerisch geworden. Das ist die Legende zur Wallfahrt zum Heiligen Blut. Die gibt es über 600 Jahre."

    Die Pfarrkirche St. Oswald mitten im Dorfkern ist heute eine Oase der Stille in der geschäftigen Fußgängerzone von Seefeld. Malerischer noch ist das weiße Seekirchlein am Ortsrand, das früher einmal im See stand: ein barockes Juwel, das perfekt in die Postkartenidylle der Umgebung passt. Doch auch hier tun sich Abgründe auf:

    "Eine Sage, die wir unseren Kindern immer erzählen, ist die Hexe am Wildsee im sogenannten Hexenloch, das gibt es noch, das ist ein kleiner Arm vom Wildsee, da kann man auch reinrudern. Und in diesem Hexenloch sind einfach Menschen verschwunden. Da haust eine Hexe, die die Menschen, die sich da hineinwagen in die Tiefe zieht. Das ist eine Sage. Da ist schon lange nichts mehr passiert."

    Und da ist er wieder: der Kälteschauer, der einen erzittern lässt mitten im Hochsommer. Dabei wirkt der Wildsee mit seiner spiegelglatten Wasseroberfläche erstaunlich friedlich und lädt zumindest dazu ein, ihn zu umwandern. Blaue Symbole weisen mir den Weg zu einer weiteren Kälteerfahrung, die allerdings nicht ganz so extrem ist wie die Kältekammer - und die mir schon Christine Bloch wärmstens empfohlen hat:

    "Es gibt auch schon einen schönen Kneipp-Weg mit mindestens fünf Stationen, wo man wirklich kneippen kann. Die erste beginnt draußen am Wildsee und der Kneipp-Rundwanderweg ist eine Strecke von fast zehn Kilometern insgesamt mit fünf Stationen, wo so Kneipp-Becken stehen. Das ist wirklich schön, wenn man mal reinsteigt in das kalte Wasser, da sind wirklich die Fußtretbecken neben den Naturbecken. Und für die Hände, die Becken sind da. Wenn man rauskommt, merkt man wirklich dann, wie man schnell wieder warm wird - und dieses klare kalte Wasser: also schön, wirklich erfrischend und absolut zu empfehlen."
    Auch dies ein kleiner Kälteschock, nach einer halben Minute Wassertreten kribbelt die Kälte die Füße und die Unterschenkel hoch, dann schnell wieder zurück ins sonnengewärmte Gras. Der Kreislauf ist angeregt und die Durchblutung gefördert. Genau das wollte Pfarrer Sebastian Kneipp erreichen mit diesem klassische Naturheilverfahren, was angesichts der vielen modernen Wellness-Angebote in Seefeld eine kleine Überraschung ist.

    Wer nicht ganz so auf Tuchfühlung mit dem nassen Element gehen will, lässt sich vielleicht bei einer Wanderung durch die Leutascher Geisterklamm mitreißen vom Anblick der imposanten Schlucht, über die ein Stahlsteg führt. Hier tauchen fantasievolle Wanderer ein in das Reich des Klammgeistes, der aus rauschenden Kaskaden und bizarren Felswänden zu den staunenden Besuchern spricht.

    Die aufgewühlte Seele und die extremen Körpererfahrungen von der Kneipp-Kur bis zur Kältekammer verlangen dann am Abend nach Beruhigung - nach tirolerischer Bodenständigkeit, wie sie Fritz Hemetsberger verkörpert. Seit 45 Jahren spielt die graue Eminenz der Alleinunterhalter im Seefelder "Lammkeller" die Zither. Als "lebendes Inventar" fühlt er sich hier, drei Stockwerke unter der Kältekammer und wärmt mit seinem Spiel die Herzen der Besucher:

    "Mir schauen mal nach, was wir finden in der Kiste. Spielen wir einfach einmal einen typischen Ländler aus der Gegend, in D-Dur, das muss man wissen."