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Wo Sie die Hosen anhat:

Politische und juristische Fortschritte einerseits - rückwärts gewandte Gesellschaftsformen und Ansichten andererseits. In der Türkei existiert beides parallel nebeneinander. Und noch etwas anderes ist symptomatisch: Der politische Reformprozess schafft laufend neue Gesetze, allein ihre Umsetzung ist längst keine Selbstverständlichkeit bei den Behörden in der Provinz. Der Amtsschimmel blüht. Wer sein Kind nicht in die Schule schickt, hat nichts zu befürchten, obwohl offiziell die allgemeine Schulpflicht gilt. Aber gerade bei der Baumwollernte, die vielen Familien im Südosten ein winziges Einkommen sichert, sind die Jüngsten unentbehrlich. Schulbildung vor allem für Mädchen betrachten die Eltern als überflüssigen Luxus. So sind 25 Prozent der türkischen Bevölkerung Analphabeten, 80 Prozent davon Frauen. Ankara bemüht sich inzwischen um Besserung. Die Regierung hat ein landesweites Projekt gestartet. Das Motto lautet "Auf Mädchen, in die Schule!"

Von Gunnar Köhne |
    Auf dem Feld aber haben weiter die so genannten Agars das Sagen, wie die kurdischen Großgrundbesitzer in Süd-Ost-Anatolien genannt werden. Noch immer gehört ihnen das meiste Land. Fragt man die einfachen Baumwollpflücker auf dem Feld danach, was sie sich von Europa erhoffen, so antworten sie: Ein eigenes Stück Land. Suna Kepoglu hat das bereits geschafft. Sie steht für Feudalismus und Emanzipation in einem.

    Die Männer schauen auf den Boden und werfen nur ab und zu einen scheuen Blick auf die Frau mit der Jeansjacke und den streichholzkurzen, grell rot gefärbten Haaren. Suna Kepoglu verteilt Anweisungen für den Tag: Kunden warten auf Baumwolllieferungen, ein Traktor muss dringend repariert werden. Die Männer mit den unrasierten, sonnengegerbten Gesichter sitzen steif und nicken mit dem Kopf.

    Suna Kepoglu ist eine Pionierin. Die 33jährige ist der einzige weibliche "Agar". Der Großgrundbesitzerin gehören 25 Dörfer rund um die Stadt Silvan, 80 Kilometer von Diyarbakir entfernt. Von der Terrasse ihres vierstöckigen Wohnhauses, wo sie jeden Morgen an einem weißen Plastiktisch Hof hält, blickt sie auf die niedrigen Lehmhäuser des Dorfes Alakumlu. Dahinter erstrecken sich weiß gesprenkelte Baumwollfelder, so weit das Auge reicht. Nach dem Tod ihres Vaters und ihres ältesten Bruders vor fünf Jahren blieb die Familie lange Zeit ohne Oberhaupt. Suna Kepoglu wollte eigentlich nach Ankara oder Istanbul zum Studium. Doch dann entschied sie sich für die Familie:

    Ich lud alle Familienangehörigen und Verwandten zum Essen ein. Als die Männer um den Tisch herum saßen sagte ich ihnen, dass ich den Familienvorsitz übernehmen wolle und außerdem vorhätte, wie mein Vater, für das Parlament in Ankara zu kandidieren. Als ich fertig war, ergriffen die Ältesten, Weggefährten meines Vaters, das Wort und sagten, sie wollten mich unterstützen. Aber es gab auch etliche, die dagegen waren und meinten, ich würde das nicht schaffen. Aber ich sagte ihnen am Ende nur, dass ich fest an mich glaubte und an den Problemen, die mir begegnen würden, nur noch stärker würde.

    Kepoglu, selbst unverheiratet, stört sich an der Ungleichheit von Mann und Frau. Sie ist Mitglied der konservativen "Partei des rechten Weges", die mit Tansu Ciller vor zehn Jahren die erste Ministerpräsidentin der Türkei stellte. Wenn Kepoglu in Jeans durch ihr Dorf Alakumlu schreitet und sich auf einen der eilfertig angebotenen Campingstühle setzt, dann redet sie den versammelten Männern mit strenger Miene ins Gewissen: Frauenfeindliche Traditionen wie das Töten aus verletzter Ehre werden nicht geduldet. Und: Eure Mädchen gehören in die Schule! Ausreden duldet sie nicht.

    Wenn eine Frau ins Arbeitsleben eintritt, wenn sie an die Türen des Staates klopft, hieß es immer: Die kann das nicht. Aber auf dem Feld können Frauen arbeiten! Das ist eine Mentalitätsfrage bei den Männern. Neulich bin ich in einem meiner Dörfer gewesen und habe ein paar Mädchen getroffen. Es war Schulzeit und ich fragte, warum sie nicht zur Schule gingen. Sie sagten, es gäbe in ihrer Schule nicht genug Platz. Ich ließ den Dorfvorsteher holen und der bestätigte, dass es in der Schule nicht genug Platz gäbe. Daraufhin fragte ich ihn: Aha, und warum gibt es für die Jungen Platz, aber für die Mädchen nicht?

    Keine einhundert Meter von Kepoglus Villa entfernt bücken sich ein Dutzend Frauen und Mädchen über die dichtstehenden Baumwollsträucher, rupfen in mechanischen Handgriffen die flauschig-weißen Knäuel aus dem Blütenkelch und stopfen sie in den Jutesack, den sie vor sich herschieben. Die 16jährige Naim zieht sogar noch einen zweiten Sack hinter sich her. Gegen die sengend heiße Mittagssonne und gegen den fasrigen Baumwollstaub hat sie ihren Kopf bis auf einen Augenschlitz in Tücher gewickelt. Wortlos zeigt sie ihre rissigen Hände vor:

    Mit 14 hast du Hände wie eine 40jährige. Ich hasse diese Arbeit. Aber was bleibt uns anderes übrig? Ich wollte mal Sängerin werden. Ich singe gerne und ich finde meine Stimme gar nicht schlecht. Aber ich habe die Schule nach zwei Jahren abgebrochen. Mein Vater hätte mir die Schule erlaubt, aber ich habe gesehen, dass ich auf dem Feld gebraucht werde. Jetzt bereue ich es so sehr! Aber in meinem Alter ist es zu spät für die Schule.

    Am Feldrand stehen ein paar Männer neben der Ernte des Tages: Ein Dutzend prallgefüllte Säcke, die auf ihren Abtransport warten. Die Männer klagen über die fallenden Baumwollpreise – bei 40 Cent pro Kilo lägen sie derzeit und davon müssten sie auch noch die Hälfte an die Grundbesitzerin abgeben, also an Suna Kepoglu.

    Allein für die Schuluniform gehen 50 Euro drauf. So viel verdiene ich in einer Woche. Dazu kommen noch Bücher und Ausflüge und was weiß ich nicht alles. Und ich habe vier Kinder! Das kann ich nicht einfach bezahlen! Ich bin nicht gegen die Schule und mache auch keinen Unterschied zwischen Mädchen und Jungen, aber ich kann sie nicht jeden Tag in die Schule schicken.

    Ein Auto hält neben dem Feld. Der Dorfschullehrer kurbelt das Fenster herunter und mischt sich ein:

    Ich verstehe sie. Manche haben 100 Hektar gepachtet. Für die Ernte braucht man 10-15 Leute. Da können sie es sich nicht leisten, ihre Töchter in die Schule zu schicken. Nach der Ernte kommen sie dann wieder in die Schule. So ist das hier.

    Suna Kepoglu macht sich wieder auf den Weg zu einem Rundgang durch das Dorf Alakumlu. Hausgänse melden laut ihre Ankunft. Auf dem lehmigen Weg kommen ihr Frauen und Kinder freudig entgegen und heißen sie mit Wangenkuss willkommen. Männer bieten ihr ehrfürchtig den Handschlag an. Manche von ihnen lässt Kepoglu einfach stehen. Man solle nicht alles glauben, was die Männer erzählen, murmelt sie während sie einigen Kindern beim Vorbeigehen den Kopf streichelt. Wer es wirklich wolle, könne für die Bildung seiner Töchter das nötige Geld aufbringen.

    Das Brautgeld können sie sich ja schließlich auch leisten. Manchmal kommen Familien zu mir und beklagen sich, dass die Eltern der Braut 2000 Euro haben wollen. Das wird es in meinen Dörfern bald nicht mehr geben. Dann werden die Mädchen nicht mehr so früh verheiratet und können stattdessen weiter die Schule besuchen.