Außerhalb der Nibelungen-Festspielwochen im Juli und August stören nur die mächtigen Kirchenglocken über der Stadt die Ruhe einer südwestdeutschen Provinzmetropole. Dass sich das von den Kelten als Borbetomagus gegründete Worms bis heute mit Köln und Trier um den Titel der ältesten Stadt Deutschlands streitet, lässt sich nach einem ersten Augenschein kaum vermuten.
Viele Gebäude im historischen Stadtkern stammen aus der Nachkriegszeit oder den sechziger und siebziger Jahren. Die wirtschaftlichen Probleme der einstigen Arbeiterstadt sind nicht zu übersehen. Dass Könige, Kaiser und Fürstbischöfe in der Stadt residierten oder zumindest monatelang logierten und hier am Rhein ihr Geld ausgaben, ist lange her. Daran ändert auch ein neues innerstädtisches Einkaufsparadies nichts.
Nein, als touristische "Liebe auf den ersten Blick" taugt diese Stadt kaum - trotz Nibelungenfestspielen, kulturhistorisch bedeutsamen Monumenten und liebevoll sanierten Altstadtgassen, und obwohl der Stadt kürzlich der Titel "Fremdenverkehrsgemeinde" verliehen wurde. Mit touristischen Destinationen im Umkreis wie Speyer und Mainz, gar einer Perle wie Heidelberg, konnte man kaum mithalten.
Dabei gibt es in Worms nicht gerade wenig zu entdecken, denn mindestens genau so bedeutsam wie die relativ "jungen" Nibelungenfestspiele ist die große jüdische Geschichte der Stadt, die nachweislich bis vor das Jahr 1000 zurückreicht. Nicht verpassen darf man einen Besuch der alten Judengasse mit wieder aufgebauter Synagoge und der frühmittelalterlichen Mikwe, einem rituellen Reinigungsbad.
Mindestens genauso eindrucksvoll ist der "Heilige Sand", der älteste erhaltene jüdische Friedhof Europas. Bedeutsam war Worms auch als Gastgeberin von Reichstagen; am bekanntesten wohl jener des Jahres 1521 mit dem berühmten Auftritt Martin Luthers. Dessen Worte: "Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen" gehören zwar dem Bereich der Legende an, finden sich aber in jedem Reiseführer und Prospekt, doch all dies liegt wahrhaftig lange zurück. "Geschichte haben" und "mit Geschichte leben" ist zweierlei, wie ein jeder weiß, der in einer dieser deutschen Städte mit viel Geschichte und vergleichsweise wenig Gegenwart aufgewachsen ist.
Seit der ersten "Welle" der Nibelungen-Rezeption in Deutschland im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts hießen die Biergärten der Stadt "Hagen-Bräu" und die Hotels "Kriemhilde". Wer nicht zu Fuß durch Siegfried- oder Giselherstraßen laufen wollte, musste ein Taxi bestellen. Wo? In der Zentrale der "Nibelungen Mietwagen GmbH". Als Teenager träumten wir dann nur noch davon, dies alles bald hinter uns zu lassen und möglichst bald den Führerschein bei der - genau! - "Nibelungen-Fahrschule" zu machen, um schneller wegzukommen, zum Beispiel von einem Restaurant, dessen Speisekarte Gerichte anbot mit vermeintlich lustigen Namen wie "Siegfrieds Blutbad" und "Brunhildes Hochzeitsnacht". Die gibt es übrigens heute noch. Auch deftige Schweinefleischportionen, die Namen tragen wie "Kriemhilds Lenden" und deren Verzehr einen Verdauungsschnaps namens "Hagenbitter" nach sich zieht, dessen Schärfe nach der Süße eines Desserts verlangen lässt. Da hat man dann immerhin die Wahl zwischen den Eisbechern "Lindenblatt" oder "Tarnkäppchen". Es war so ähnlich wie der Wagner-Kult in Bayreuth, nur schlimmer.
Mit einem Wort: die Nibelungen in Worms - das war damals für uns Jugendliche ein ziemlich peinliches Kapitel. Nun soll also Schluss sein mit "der Nibelungen Not". Ermutigt durch die Erfolge der ersten Festspiel-Jahrgänge und steigende Gästezahlen will Worms den Sprung aus der Bedeutungslosigkeit der vergangenen Jahrzehnte packen. Dreh- und Angelpunkt des Konzepts ist eine intensive, populär auftretende Rückbesinnung der Stadt auf ihre Rolle im "Nibelungenlied".
Dieses Heldenepos, aufgezeichnet von einem bis heute anonymen Dichter um das Jahr 1200, ist in der Lesart moderner Event-Manager eine unsterbliche Story von Liebe, Verrat und Untergang. Und daraus kann man etwas machen, meint der städtische Kulturkoordinator Volker Gallé.
"Die Nibelungen, dafür hat Worms ein Alleinstellungsmerkmal. Nicht, dass sich andere Städte nicht mit den Nibelungen beschäftigen, es gibt auch eine Arbeitsgemeinschaft Nibelungenstädte, in der Worms auch mit drin ist, das ist logisch. Aber der Dichter um 1200 hat Worms zum Schauplatz gemacht und der bekannteste Text zur Nibelungentradition ist ja das Nibelungenlied. Und insofern hat Worms im Bewusstsein, unter Marketinggesichtspunkten gesprochen, bei dem möglichen Publikum eine Alleinstellung."
"Ich sticke ihm ein Kreuz aufs Hemd: So magst Du ihn denn schützen, denn Ängstlichkeit ist Siegfried fremd."
"Dies Zeichen wird mir nützen"
Von einem Hemd Siegfrieds, auf das Kriemhild für den vermeintlichen Bodyguard Hagen das verräterische Kreuz stickte, können Ausstellungsmacher natürlich nur träumen - es gibt es nicht. Deshalb steht am Anfang der Begegnung vieler Gäste mit der Stadt zwangsläufig eine kleine Enttäuschung:
"Wenn Leute nach Worms kommen, um die Nibelungen zu sehen, kommen die natürlich mit der Erwartung, eine mittelalterliche Stadt zu sehen, wo am besten noch irgendwelche Gebäude stehen, wo man sagen könnte: Hier hat Hagen von Tronje gewohnt."
Zum Trost empfiehlt Volker Gallé den Stadtrundgang "Zu Fuß durch zwei Jahrtausende". Dieser führt nicht nur zu Europas ältestem jüdischen Friedhof mit seinen rund 2000 zum Teil in die Erde eingesunkenen Grabsteinen, sondern auch zum größten Luther- beziehungsweise Reformationsdenkmal der Welt aus dem Jahre 1867. Trotz Reformation - das größte Gotteshaus in der Stadt des Reformations-Reichstags ist katholisch.
Wie die Wohlgestalt der Romanik wirkt und die Monumentalität eines Bauwerks uns Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts überwältigen kann, lässt sich im Wormser Kaiserdom Sankt Peter mit allen Sinnen erfahren.
Wer nach dem Abstieg in die Enge der Saliergruft mit ihren Sarkophagen aus dem 10. und 11. Jahrhundert dann wieder auf den hellen Domplatz tritt, wird noch einige Momente brauchen, um wieder in der Gegenwart anzukommen und um angesichts des heutigen Worms eine Urerfahrung der Bewohner der Stadt zu begreifen: erstens die Fassungslosigkeit angesichts der eigenen großen Vergangenheit, zweitens die Fallhöhe zur jeweiligen Gegenwart und drittens: das Wissen, dass es so toll, wie einst angeblich war, nie wieder werden wird.
Wer um die großen Jahre der Stadt im Frühmittelalter oder ihre zweite, allerdings schon bescheidenere Blüte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weiß, müsse konstatieren, dass es seither fast immer nur bergab gegangen sei, meint Volker Gallé.
"Aus der Burgunderzeit haben wir gar nichts, da gibt es keine historischen Denkmäler oder kaum, aus den späteren Jahrhunderten gibt es nur sehr wenig an Überlieferungen. Worms ist ja sehr oft zerstört worden in seiner Stadtgeschichte, was ja auch typisch ist für die Stadt. Es gibt halt nur einige Reste wie den Dom, der aus der großen Blütezeit der Stadt ist, der Stauferzeit."
Wo Anschauungsobjekte fehlen, greifen Ausstellungsmacher heute auf Multimedia zurück, so auch in Worms. Die hoch verschuldete Stadt hat im Jahre 2000 ein multimediales Nibelungenmuseum neu gegründet. Ein moderner Anbau aus Glas und Metall wurde an die 800 Jahre alte Stadtmauer gesetzt - dort, wo Siegfried mutmaßlich in die Stadt eingezogen ist. Weil die Originale von Mantel, Hemd und Schwert fehlen, galt es, eine neue Ästhetik und Dramaturgie zu erfinden.
"Das Nibelungenlied ist ein literarischer Text und kein historischer, übrigens ein altes wissenschaftliches Problem: Was war zuerst, die Literatur oder die Geschichte? Literatur ist immer eine Mischung aus Fiktion und Nonfiktion. So, wie es für den Hörer der jeweiligen Zeit sinnvoll ist zu mischen. Und wenn Historiker daraus lesen: Das war alles historisch, oder Literaturwissenschaftler: Das ist alles nur erfunden, dann ist natürlich beides sowohl richt als auch falsch!"
So war es auch kein "echter" Nibelungenschatz aus Gold und Geschmeide, der die Besucher bis in diesem Frühjahr erwartete, sondern eine multimediale Installation, deren Kernstück, ein virtueller Schatzraum im Keller, vor allem ein Raum des Erzählens ist.
Das didaktisch und ausstellungstechnisch ambitionierte Nibelungenmuseum, ein Kernstück der Wormser Kulturentwicklungs-Konzeption, muss schon wenige Jahre nach seiner Eröffnung in zentralen Ausstellungsteilen überarbeitet werden. Warum? Weil das Publikum die intellektuell anspruchsvolle, virtuelle Präsentation des Nibelungenschatzes als Erzählschatz nicht zu würdigen wusste, erklärt der Leiter des Museums. Deshalb wird der zentrale Raum zu einem Saal für Museumspädagogik und Wechselausstellungen umgebaut. Ein neu gestaltetes Mythenlabor wird zukünftig den Schatz aus Erzählungen und Erinnerungen präsentieren.
Hier zeigt sich, wie schwierig es ist, "Die Nibelungen" im 21. Jahrhundert wieder zu beleben: Wer dies will, muss aus ökonomischen Gründen auch Publikumsschichten begeistern, die Fantasie mit "Fantasy"-Romanen gleichsetzen und das Mittelalter durch den Besuch sogenannter Mittelaltermärkte zu kennen glauben.
"Gunter mein Mann ist der mächtigste König!"
" Siegfried mein Mann ist der Stärkste den es gibt."
"Was ist hier los?"
Dass sogar der berühmte Streit der Königinnen Kriemhild und Brünnhilde um den Vortritt beim Betreten des Domes in Worms, hier im RIAS-Musical "Lass das Hagen" dargeboten von Uta Hallant und Ingrid van Bergen, eine literarische Fiktion sein könnte, hören eingefleischte Lokalpatrioten natürlich nicht so gerne. Den Städtischen Kulturkoordinator und Vordenker der Nibelungen-Renaissance, Gallé, können solch kleinliche Bedenken nicht schrecken.
"Also müssen wir das machen, was die Literatur macht: Wir müssen sie inszenieren. Das passt nun dazu, dass seit den 90er Jahren das Bedürfnis des Kulturpublikums, das bereit ist zu reisen, sehr stark erlebnisorientiert ist. Die Leute wollen Geschichten erzählt haben, es kommt ihnen nur zu einem Teil darauf an, am Originalspielplatz zu sein. Selbst wenn wir eine Burgunderburg hätten und kein Angebot, würden die Leute das nicht gut finden."
Volker Gallé selbst ist nicht nur Kulturpolitiker und Organisator. 2002 hat er den "Nibelungen-Blues" geschrieben, ein zeitgenössisches Nibelungenlied in der Wormser Mundart, das sich nicht mit den großen Helden des Epos, sondern mit Alltagshelden in Worms beschäftigt - lange nach Ablauf der prächtigen Vergangenheit. Gemeinsam mit dem Jazz-Saxophonisten Michael Riessler hat Gallé seine Version der Geschichte zwar nicht bei den Nibelungen-Festspielen, doch statt dessen bei dem fast genauso stimmungsvollen Wormser Jazzfest aufgeführt und auf CD festgehalten.
In der Stadtverwaltung träumt man inzwischen weiter davon, die Stadt mittels Kultur und Tourismus nach vorne zu bringen. Und wenn es auch diesmal nichts wird mit einer glänzenden Zukunft, dann werden sich die Wormser wieder einmal daran erinnern, dass man mit Niederlagen, mit dem vermeintlichen "Ende der Geschichte" ganz passabel leben kann. Und daran denken, wie die Nibelungen - zumindest im Musical - das vermeintliche Ende der Stadt kommentierten:
"Die Walstatt schweigt, die Helden starben, und wars kein Happy End, so wars heroisch, ist das denn nichts? Wir bestehen vor dem Urteil der Geschichte. Komm Etzel, gehen wir Kaffeetrinken."
Viele Gebäude im historischen Stadtkern stammen aus der Nachkriegszeit oder den sechziger und siebziger Jahren. Die wirtschaftlichen Probleme der einstigen Arbeiterstadt sind nicht zu übersehen. Dass Könige, Kaiser und Fürstbischöfe in der Stadt residierten oder zumindest monatelang logierten und hier am Rhein ihr Geld ausgaben, ist lange her. Daran ändert auch ein neues innerstädtisches Einkaufsparadies nichts.
Nein, als touristische "Liebe auf den ersten Blick" taugt diese Stadt kaum - trotz Nibelungenfestspielen, kulturhistorisch bedeutsamen Monumenten und liebevoll sanierten Altstadtgassen, und obwohl der Stadt kürzlich der Titel "Fremdenverkehrsgemeinde" verliehen wurde. Mit touristischen Destinationen im Umkreis wie Speyer und Mainz, gar einer Perle wie Heidelberg, konnte man kaum mithalten.
Dabei gibt es in Worms nicht gerade wenig zu entdecken, denn mindestens genau so bedeutsam wie die relativ "jungen" Nibelungenfestspiele ist die große jüdische Geschichte der Stadt, die nachweislich bis vor das Jahr 1000 zurückreicht. Nicht verpassen darf man einen Besuch der alten Judengasse mit wieder aufgebauter Synagoge und der frühmittelalterlichen Mikwe, einem rituellen Reinigungsbad.
Mindestens genauso eindrucksvoll ist der "Heilige Sand", der älteste erhaltene jüdische Friedhof Europas. Bedeutsam war Worms auch als Gastgeberin von Reichstagen; am bekanntesten wohl jener des Jahres 1521 mit dem berühmten Auftritt Martin Luthers. Dessen Worte: "Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen" gehören zwar dem Bereich der Legende an, finden sich aber in jedem Reiseführer und Prospekt, doch all dies liegt wahrhaftig lange zurück. "Geschichte haben" und "mit Geschichte leben" ist zweierlei, wie ein jeder weiß, der in einer dieser deutschen Städte mit viel Geschichte und vergleichsweise wenig Gegenwart aufgewachsen ist.
Seit der ersten "Welle" der Nibelungen-Rezeption in Deutschland im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts hießen die Biergärten der Stadt "Hagen-Bräu" und die Hotels "Kriemhilde". Wer nicht zu Fuß durch Siegfried- oder Giselherstraßen laufen wollte, musste ein Taxi bestellen. Wo? In der Zentrale der "Nibelungen Mietwagen GmbH". Als Teenager träumten wir dann nur noch davon, dies alles bald hinter uns zu lassen und möglichst bald den Führerschein bei der - genau! - "Nibelungen-Fahrschule" zu machen, um schneller wegzukommen, zum Beispiel von einem Restaurant, dessen Speisekarte Gerichte anbot mit vermeintlich lustigen Namen wie "Siegfrieds Blutbad" und "Brunhildes Hochzeitsnacht". Die gibt es übrigens heute noch. Auch deftige Schweinefleischportionen, die Namen tragen wie "Kriemhilds Lenden" und deren Verzehr einen Verdauungsschnaps namens "Hagenbitter" nach sich zieht, dessen Schärfe nach der Süße eines Desserts verlangen lässt. Da hat man dann immerhin die Wahl zwischen den Eisbechern "Lindenblatt" oder "Tarnkäppchen". Es war so ähnlich wie der Wagner-Kult in Bayreuth, nur schlimmer.
Mit einem Wort: die Nibelungen in Worms - das war damals für uns Jugendliche ein ziemlich peinliches Kapitel. Nun soll also Schluss sein mit "der Nibelungen Not". Ermutigt durch die Erfolge der ersten Festspiel-Jahrgänge und steigende Gästezahlen will Worms den Sprung aus der Bedeutungslosigkeit der vergangenen Jahrzehnte packen. Dreh- und Angelpunkt des Konzepts ist eine intensive, populär auftretende Rückbesinnung der Stadt auf ihre Rolle im "Nibelungenlied".
Dieses Heldenepos, aufgezeichnet von einem bis heute anonymen Dichter um das Jahr 1200, ist in der Lesart moderner Event-Manager eine unsterbliche Story von Liebe, Verrat und Untergang. Und daraus kann man etwas machen, meint der städtische Kulturkoordinator Volker Gallé.
"Die Nibelungen, dafür hat Worms ein Alleinstellungsmerkmal. Nicht, dass sich andere Städte nicht mit den Nibelungen beschäftigen, es gibt auch eine Arbeitsgemeinschaft Nibelungenstädte, in der Worms auch mit drin ist, das ist logisch. Aber der Dichter um 1200 hat Worms zum Schauplatz gemacht und der bekannteste Text zur Nibelungentradition ist ja das Nibelungenlied. Und insofern hat Worms im Bewusstsein, unter Marketinggesichtspunkten gesprochen, bei dem möglichen Publikum eine Alleinstellung."
"Ich sticke ihm ein Kreuz aufs Hemd: So magst Du ihn denn schützen, denn Ängstlichkeit ist Siegfried fremd."
"Dies Zeichen wird mir nützen"
Von einem Hemd Siegfrieds, auf das Kriemhild für den vermeintlichen Bodyguard Hagen das verräterische Kreuz stickte, können Ausstellungsmacher natürlich nur träumen - es gibt es nicht. Deshalb steht am Anfang der Begegnung vieler Gäste mit der Stadt zwangsläufig eine kleine Enttäuschung:
"Wenn Leute nach Worms kommen, um die Nibelungen zu sehen, kommen die natürlich mit der Erwartung, eine mittelalterliche Stadt zu sehen, wo am besten noch irgendwelche Gebäude stehen, wo man sagen könnte: Hier hat Hagen von Tronje gewohnt."
Zum Trost empfiehlt Volker Gallé den Stadtrundgang "Zu Fuß durch zwei Jahrtausende". Dieser führt nicht nur zu Europas ältestem jüdischen Friedhof mit seinen rund 2000 zum Teil in die Erde eingesunkenen Grabsteinen, sondern auch zum größten Luther- beziehungsweise Reformationsdenkmal der Welt aus dem Jahre 1867. Trotz Reformation - das größte Gotteshaus in der Stadt des Reformations-Reichstags ist katholisch.
Wie die Wohlgestalt der Romanik wirkt und die Monumentalität eines Bauwerks uns Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts überwältigen kann, lässt sich im Wormser Kaiserdom Sankt Peter mit allen Sinnen erfahren.
Wer nach dem Abstieg in die Enge der Saliergruft mit ihren Sarkophagen aus dem 10. und 11. Jahrhundert dann wieder auf den hellen Domplatz tritt, wird noch einige Momente brauchen, um wieder in der Gegenwart anzukommen und um angesichts des heutigen Worms eine Urerfahrung der Bewohner der Stadt zu begreifen: erstens die Fassungslosigkeit angesichts der eigenen großen Vergangenheit, zweitens die Fallhöhe zur jeweiligen Gegenwart und drittens: das Wissen, dass es so toll, wie einst angeblich war, nie wieder werden wird.
Wer um die großen Jahre der Stadt im Frühmittelalter oder ihre zweite, allerdings schon bescheidenere Blüte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weiß, müsse konstatieren, dass es seither fast immer nur bergab gegangen sei, meint Volker Gallé.
"Aus der Burgunderzeit haben wir gar nichts, da gibt es keine historischen Denkmäler oder kaum, aus den späteren Jahrhunderten gibt es nur sehr wenig an Überlieferungen. Worms ist ja sehr oft zerstört worden in seiner Stadtgeschichte, was ja auch typisch ist für die Stadt. Es gibt halt nur einige Reste wie den Dom, der aus der großen Blütezeit der Stadt ist, der Stauferzeit."
Wo Anschauungsobjekte fehlen, greifen Ausstellungsmacher heute auf Multimedia zurück, so auch in Worms. Die hoch verschuldete Stadt hat im Jahre 2000 ein multimediales Nibelungenmuseum neu gegründet. Ein moderner Anbau aus Glas und Metall wurde an die 800 Jahre alte Stadtmauer gesetzt - dort, wo Siegfried mutmaßlich in die Stadt eingezogen ist. Weil die Originale von Mantel, Hemd und Schwert fehlen, galt es, eine neue Ästhetik und Dramaturgie zu erfinden.
"Das Nibelungenlied ist ein literarischer Text und kein historischer, übrigens ein altes wissenschaftliches Problem: Was war zuerst, die Literatur oder die Geschichte? Literatur ist immer eine Mischung aus Fiktion und Nonfiktion. So, wie es für den Hörer der jeweiligen Zeit sinnvoll ist zu mischen. Und wenn Historiker daraus lesen: Das war alles historisch, oder Literaturwissenschaftler: Das ist alles nur erfunden, dann ist natürlich beides sowohl richt als auch falsch!"
So war es auch kein "echter" Nibelungenschatz aus Gold und Geschmeide, der die Besucher bis in diesem Frühjahr erwartete, sondern eine multimediale Installation, deren Kernstück, ein virtueller Schatzraum im Keller, vor allem ein Raum des Erzählens ist.
Das didaktisch und ausstellungstechnisch ambitionierte Nibelungenmuseum, ein Kernstück der Wormser Kulturentwicklungs-Konzeption, muss schon wenige Jahre nach seiner Eröffnung in zentralen Ausstellungsteilen überarbeitet werden. Warum? Weil das Publikum die intellektuell anspruchsvolle, virtuelle Präsentation des Nibelungenschatzes als Erzählschatz nicht zu würdigen wusste, erklärt der Leiter des Museums. Deshalb wird der zentrale Raum zu einem Saal für Museumspädagogik und Wechselausstellungen umgebaut. Ein neu gestaltetes Mythenlabor wird zukünftig den Schatz aus Erzählungen und Erinnerungen präsentieren.
Hier zeigt sich, wie schwierig es ist, "Die Nibelungen" im 21. Jahrhundert wieder zu beleben: Wer dies will, muss aus ökonomischen Gründen auch Publikumsschichten begeistern, die Fantasie mit "Fantasy"-Romanen gleichsetzen und das Mittelalter durch den Besuch sogenannter Mittelaltermärkte zu kennen glauben.
"Gunter mein Mann ist der mächtigste König!"
" Siegfried mein Mann ist der Stärkste den es gibt."
"Was ist hier los?"
Dass sogar der berühmte Streit der Königinnen Kriemhild und Brünnhilde um den Vortritt beim Betreten des Domes in Worms, hier im RIAS-Musical "Lass das Hagen" dargeboten von Uta Hallant und Ingrid van Bergen, eine literarische Fiktion sein könnte, hören eingefleischte Lokalpatrioten natürlich nicht so gerne. Den Städtischen Kulturkoordinator und Vordenker der Nibelungen-Renaissance, Gallé, können solch kleinliche Bedenken nicht schrecken.
"Also müssen wir das machen, was die Literatur macht: Wir müssen sie inszenieren. Das passt nun dazu, dass seit den 90er Jahren das Bedürfnis des Kulturpublikums, das bereit ist zu reisen, sehr stark erlebnisorientiert ist. Die Leute wollen Geschichten erzählt haben, es kommt ihnen nur zu einem Teil darauf an, am Originalspielplatz zu sein. Selbst wenn wir eine Burgunderburg hätten und kein Angebot, würden die Leute das nicht gut finden."
Volker Gallé selbst ist nicht nur Kulturpolitiker und Organisator. 2002 hat er den "Nibelungen-Blues" geschrieben, ein zeitgenössisches Nibelungenlied in der Wormser Mundart, das sich nicht mit den großen Helden des Epos, sondern mit Alltagshelden in Worms beschäftigt - lange nach Ablauf der prächtigen Vergangenheit. Gemeinsam mit dem Jazz-Saxophonisten Michael Riessler hat Gallé seine Version der Geschichte zwar nicht bei den Nibelungen-Festspielen, doch statt dessen bei dem fast genauso stimmungsvollen Wormser Jazzfest aufgeführt und auf CD festgehalten.
In der Stadtverwaltung träumt man inzwischen weiter davon, die Stadt mittels Kultur und Tourismus nach vorne zu bringen. Und wenn es auch diesmal nichts wird mit einer glänzenden Zukunft, dann werden sich die Wormser wieder einmal daran erinnern, dass man mit Niederlagen, mit dem vermeintlichen "Ende der Geschichte" ganz passabel leben kann. Und daran denken, wie die Nibelungen - zumindest im Musical - das vermeintliche Ende der Stadt kommentierten:
"Die Walstatt schweigt, die Helden starben, und wars kein Happy End, so wars heroisch, ist das denn nichts? Wir bestehen vor dem Urteil der Geschichte. Komm Etzel, gehen wir Kaffeetrinken."