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Wo Türken und Kurden dicht beieinander leben

Wie der Schrifsteller Orhan Pamuk in seinem Roman "Schnee", verlässt auch Christopher de Bellaigue die Großstadt Istanbul und bereist die Grenzregion zu Armenien und dem Irak - auf der Suche nach den politischen, religiösen und sozialen Konflikten des Landes; auf der Suche nach einer von Kriegen, Aufständen und Verfolgung geprägten Geschichte. Fündig wird er in der Kleinstadt Varto. Dort lässt er Türken und Kurden zu Wort kommen, konvertierte Armenier, Sunniten und Aleviten, Bauern und Beamte. Um aus vielen Puzzelteilen ein Porträt der Türkei in all ihrer Widersprüchlichkeit zusammen zu setzen. Ob dieses Experiment gelungen ist, erzählt uns Ayca Tolun.

13.10.2008
    Eine Reise an die geographischen aber auch politischen Grenzen der Türkei soll es werden. Eine "Reise ins Rebellenland" schreibt Christopher de Bellaigue gleich am Anfang seines Buches. Eine Reise dorthin, wo Türken und Kurden dicht beieinander leben. Wo früher aber auch viele Armenier lebten und irgendwann weg gehen oder gar - sterben mussten.
    Diese Armenier sind es auch, die den britischen Autor zu dieser Reise haben aufbrechen lassen. Zuvor hatte de Bellaigue lange in Istanbul gelebt. Er spricht perfekt Türkisch und sieht nach seinem eigenen Bekunden auch nicht wirklich wie ein Fremder aus. Ein unschlagbarer Vorteil für einen ausländischen Korrespondenten. Nun sitzt er also in Mus, einer Provinzhauptstadt in der Ost Türkei. Doch er will weiter, in die Kleinstadt Varto. Er hat ein klares Ziel. In Varto, diesem ostanatolischen Kaff, möchte er dem Völkermord an den Armeniern nachgehen. Möglichst viel darüber von den Einwohnern erfahren. Er hat viel über die Armenier gelesen, ebenso über andere Minderheiten in der Türkei. Über Kurden ,Aleviten, Griechen - alles Kieselsteinchen im Schuh der Kemalisten, wie es de Bellaigue nennt.

    Diese Minderheiten sind es die den Mythos der ethnischen und religiösen Uniformität und des angeblichen historischen Anspruchs der Türkei auf Kleinasien, also den Gründungsmythos der Republik untergraben.
    Auch dem Autor geht es in seinem Buch darum. Er möchte anhand ganz persönlicher Familienschicksale, nachzeichnen, "wie aus dem Vielvölkerstaat der Osmanen ein Nationalstaat" wurde. Er möchte aufzeigen "unter welchen Qualen und um welchen Preis dies geschah" und er verlangt bereits im ersten Kapitel Konsequenzen.

    Die bestehenden nationalen Mythen der Türkei müssten auseinander genommen , die Opfer getröstet und die Schurken und Geschichtsfälscher zumindest rhetorisch zur Rechenschaft gezogen werden.
    Die Offenheit des Autors im Umgang mit seinen Beweggründen, dieses Buch zu schreiben, ist wirklich bemerkenswert. Denn nun kann sich auch der gut informierte oder möglicherweise anders denkende Leser, ohne die Last eines Widerspruchsreflexes auf de Bellaigues 340-eitige, sehr persönliche und sehr meinungsfreudige politische Reisereportage einlassen, ja sie sogar genießen. Genießen deshalb, weil es de Bellaigues große Stärke ist, für seine politischen Thesen eindringliche Stimmungsbilder zu erzeugen. Wie die folgende Episode aus der verregneten Provinzhauptstadt Mus. Auch hier haben einst viele Armenier gelebt.

    Das Wetter hier, der Regen, die niedrigen Wolken und der Schlamm sind Komplizen in Sachen Vertuschung. Sie spülen Gewalttaten der Vergangenheit fort und verwischen die Spuren gegenwärtiger Schande. Ein Einheimischer erzählte mir einmal, wie er als Schuljunge in den achtziger Jahren mehrere seiner Mitschüler mit einem Menschenschädel Fußball spielen sah, den sie in einem durch einen Wolkenbruch freigelegten Massengrab gefunden hatten. Es handelte sich, wie die Buben erklärten, um den Schädel eines Armeniers, also eines Ungläubigen, insofern war es in Ordnung, ihn zum Kicken heraus zu nehmen.
    Inzwischen ist de Bellaigue in der Kleinstadt Varto angekommen. Mit Unterbrechungen wird er hier fast drei Jahre verbringen. Varto ist sein Mikrokosmos. Er soll dazu dienen, die historischen, religiösen, sozialen und nationalistischen Spannungen in der Türkei zu erklären. Hier wo einst viele Armenier gelebt haben, kämpfen nun sunnitische und alevitische Kurden um die politische Vorherrschaft. Unter den Argusaugen der türkischen Behörden und des Militärs. Denn Varto ist "Rebellenland": Die kurdische PKK versteckt sich hier in den Bergen und es gibt viele Unterstützer. Außerdem ist Varto "ein historischer Ort, in dem die Vertreibung der Armenier nachvollziehbar wird" schreibt de Bellaigue

    Es erzählt in seiner Kleinheit von den hunderten oder tausenden anderen kleinen Orten im Rebellenland. Dort geschahen die Gräueltaten weit weg von neugierigen Augen, dort ist die Verschleierung so weit fortgeschritten, dass die Leute werden sagen können - wenn nicht schon jetzt, dann sicher in der nächsten Generation: "Armenier - hatten wir nie." Ich bin hier um zu verhindern, dass die Leute von Varto das sagen können.
    In Varto leben nur noch einige wenige armenische Familien. De Bellaigue hofft nun auf spektakuläre Auskünfte über die Vertreibung von 1915. Doch er wird erst Mal enttäuscht, wie auch später immer wieder, wenn er versucht, von anderen Armeniern, von Kurden, und Aleviten etwas über deren Unterdrückung und Vertreibung zu erfahren."Ich habe mich in den Bauch des Schiffes begeben, um mich im Unterdeck unter die vergessenen Volksgruppen zu mischen" schreibt de Bellaigue poetisch, um dann aber feststellen zu müssen:

    Doch ich hatte nicht mit dem Misstrauen, der Verwunderung, ja mit der Erheiterung gerechnet, die die Ankunft eines Engländers in einer türkischen Kleinstadt zwangsläufig auslösen muss.
    Christopher de Bellaigue verbindet all diese Schicksale zu einer fortlaufenden Geschichte. Diese wiederum verwebt er kunstvoll mit historischen Berichten und aktuellen politischen Fakten, die wie kleine Puzzleteile alles zusammenfügen und am Ende dem Leser einen Hauch von Ahnung verleihen, wie die Vertreibung und Ermordung der Armenier 1915 stattgefunden haben könnte. De Bellaigue ist ein wunderbarer Erzähler. Doch diese immense Geschichtensammlung aus miteinander verwobenen Anekdoten, Auszügen aus historischen Berichten und Referenzbüchern, aus Fakten, eigenen Beobachtungen und Gedankengängen ist zwar bemerkenswert, allerdings irgendwann steigt auch der engagierteste Leser einfach aus. Das ist die Schwäche des Buches. Ein Wiedereinstieg ist allerdings möglich, man muss einfach nur Querlesen. Und wenn man dann zum Beispiel auf die Geschichten von in Deutschland gelandeten Einwohnern von Varto stößt, dann ist man schnell wieder drin in de Bellaigues Mikrokosmos.

    Im Sommer 2006 machte ich in der grünen Schlafstadt Wuppertal die Bekanntschaft eines Ehepaars aus Varto. Selahaddin und Sukran Cakar haben vier Masken. Der Herkunft nach sind sie Armenier, aufgewachsen sind sie als Kurden doch ihr Staat sagte ihnen, sie wären Türken. Jetzt sind sie Deutsche. Bilderbuch-Einwanderer, stolz auf ihr Häuschen und ihre höflichen Kinder. Ich bedauere, ja betrauere, dass Selahaddin und Sükran Cakar aufgehört haben Armenier zu sein.
    De Bellaigues Buch "Rebellenland" ist auch eine Art Projekt.
    Ein Projekt des "Erinnerns". Es geht um eine neue Geschichtsschreibung und dabei um die Frage, ob es 1915, in der Endzeit des Osmanischen Reiches, einen Genozid an den Armeniern gegeben hat oder nicht. Die Armenier, vor allem in der Diaspora, bestehen darauf, der türkische Staat wehrt sich und Autor Christopher de Bellaigue sucht den Kompromiss.

    Was wir brauchen, ist eine "weichere" Charakterisierung dessen was 1915 geschah, eine die aufs G-Wort verzichtet aber unzweideutig auf die verbrecherischen Massenmorde Bezug nimmt; eine, auf die sich vernünftige Wissenschaftler einigen und die man auch Kindern vermitteln könnte.
    Der Britische Journalist und Autor Christopher de Bellaigue hat ein brilliantes Buch geschrieben. Womöglich etwas überladen. Aber für den an der Türkei ernsthaft interessierten Leser unbedingt empfehlenswert.

    Ayca Tolun über das Buch von Christopher de Bellaigue mit dem Titel "Rebellenland. Eine Reise an die Grenzen der Türkei". Erschienen ist es bei C.H.Beck, umfasst 343 Seiten und kostet Euro 19,90.