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Wo unsere Welt in doppeltem Sinne "heil" ist

Am rechten Rand der Gesellschaft hat sich eine Subkultur entwickelt, in der soziale Verlierer ebenso ihren Platz gefunden haben wie biedere Wohlstandsbürger. Ihre Ideen sind deshalb jedoch nicht weniger rassistisch oder nationalistisch.

Von Ralph Gerstenberg | 07.02.2011
    In der Medienberichterstattung sind sie leider eine feste Größe: rechtsradikale Gewalttaten, Kundgebungen und Diskriminierungen. Neonazis marschieren in Springerstiefeln durch die Städte, heben öffentlichkeitswirksam den rechten Arm oder gehen mit Baseballschlägern auf Ausländer los. Doch wie äußert sich Naziideologie jenseits der Schlagzeilen? Was passiert, wenn die Kameras aus sind, an Orten, wo niemand hinguckt? Wie sehr ist rechtes Gedankengut hierzulande bereits Teil des ganz normalen Alltagslebens geworden? Diesen Fragen widmen sich die taz-Redakteurin Astrid Geisler sowie der Bildblog-Mitbegründer und Medienjournalist Christoph Schultheis in ihrem Buch "Heile Welten - rechter Alltag in Deutschland". Astrid Geisler:

    "Mir ist halt zunehmend aufgefallen, dass es so eine Skandal-lastige Berichterstattung über Rechtsextremismus in Deutschland gibt, dass aber der Alltag, auch von den Menschen, die in solchen Städten leben, wo dann die Skandale ausbrechen in Anführungszeichen, ein ganz anderer ist und die Leute das auch anders wahrnehmen. Und daraus ist die Idee entstanden: weg von der skandalfixierten Berichterstattung über Rechtsextremismus, hin zu Alltagsgeschichten."

    An neun Orten in der gesamten Bundesrepublik begegneten die beiden Autoren der erschreckenden Normalität rechter Gesinnungen, die mitunter ganz bieder und unauffällig daherkommen. Bei aller Bemühung um eine geografische Ausgewogenheit sind Astrid Geisler und Christoph Schultheis - ganz dem Klischee entsprechend - häufiger im Osten des Landes unterwegs gewesen. Circa zwei Drittel der im Buch versammelten Geschichten handeln von der extremen Rechten in Ostdeutschland.


    "Die haben uns das ja sogar gesagt, ganz offen, in Ostdeutschland begegnen sie einer viel größeren Toleranz für ihr Gedankengut als in Westdeutschland. Und es ist offenbar einfacher politisch erfolgreich zu sein als Rechtsextremer, wenn man nach Ostdeutschland geht als wenn man das im Westen versucht. Das ist, glaube ich, die ganz einfache Erklärung dafür, warum es da so einen Braindrain, wenn man's so nennen will, nach Osten gibt."

    In der ersten Reportage des Bandes erzählt die Ehefrau eines NPD-Landtagsabgeordneten, die einen Streetworker "Straßenarbeiter" nennt und ihre Kinder auch mal Hakenkreuze malen lässt, von ihren positiven Erfahrungen nach dem Umzug der Familie von Bayern ins sächsische Strehla.

    In Strehla würden auch die Söhne wegen der Gesinnung ihrer Eltern nicht gehänselt. Während des Wahlkampfs im Sommer hätten ihr Heinrichs Kindergartenfreunde fröhlich zugerufen: "Tante Ines, du bis ja überall zu sehen!" Ihr achtjähriger Siegfried, erzählt sie, habe inzwischen natürlich auch mitbekommen, was sein Vater beruflich mache: "Er weiß, dass wir für Deutschland kämpfen - damit Deutschland nicht untergeht." Nur in der Schule solle er darüber noch nicht reden, solange er die Zusammenhänge nicht richtig verstehe.

    Doch auch im Westen des Landes äußert sich rechtes Gedankengut unverblümt. "Politically Incorrect" heißt eine Internetplattform, die der Kölner Stefan Herre betreibt. Dort schlägt Islamismuskritik à la Thilo Sarrazin um in offenen Rassismus und Gewaltfantasien. Christoph Schultheis:

    "Das, was man klassischen Rechtsextremismus nennen will, der hat sicher diesen Zug nach Ostdeutschland. Man muss aber gleichzeitig sehen, dass sich im Westen über diese Islamkritik, Anti-Moschee-Organisation etc., dass sich da sozusagen auch eine neue Art von extremen rechten Milieus bildet. Nicht zuletzt sieht man das ja an Sarrazin, die positive Wahrnehmung von seinen Thesen findet eher im Westen statt als in Ostdeutschland."

    Christoph Schultheis und Astrid Geisler sind dabei, wenn in Sachsen-Anhalt einem gewalttätigen Neonazi vor Gericht jugendtypisches Verhalten attestiert wird oder Neonazis bei einer Gemeinderatswahl in Mecklenburg-Vorpommern ihre Gegenkandidaten diffamieren. Sie berichten von der hilflosen Verzweiflung einer Mutter im Umgang mit ihrem rechtsextremen Sohn, klicken sich durch die Profile einer Neubrandenburger Social Community, in der Jugendliche ihre rechte Gesinnung offenbaren, und sie besuchen einen Stammtisch rechter Ufologen in Berlin, bei dem absurdeste Verschwörungstheorien geäußert werden. Demnach habe Hitler "100 Prozent weltallfähige" Ufos gebaut, sogenannte "Reichsflugscheiben", und seinen Gegnern damit im letzten Moment noch ein Schnippchen geschlagen.

    Denn anders als uns die Nachkriegsgeschichtsschreibung weismachen wolle, hätten sich Hitler und die SS-Elite zum Kriegsende nicht etwa in den Führerbunker in Berlin zurückgezogen, sondern seien mittels Flugscheibe zum Südpol entkommen - genauer: auf ein 600.000 Quadratkilometer großes Antarktis-Gebiet namens "Neuschwabenland". Und weil die Erde - wie übrigens alle Planeten und Monde - ohnehin hohl sei, bereite Hitler auf einem unterirdischen Nazi-Stützpunkt seine Rückkehr vor, mit der spätestens um 2050 zu rechnen sei.

    "Diese Ufologen, das ist ja schon eine sehr skurrile Szene, und man möchte drüber lachen, bis man merkt: Oh, die Pressemitteilungen haben ja auch die Grünen abgedruckt. Selbst die BILD-Zeitung hat groß darüber berichtet. Oder: Mist, auch die taz hatte was darüber drin. Dann wundert man sich immer wieder, wie verbreitet doch selbst die absurdesten Gedanken sind. Und man kann's nicht glauben, weil das ja so dermaßen abgefahren ist."

    In ihren Texten halten sich Astrid Geisler und Christoph Schultheis mit Meinungsbekundungen zurück. Sie verzichten auf erhobene Zeigefinger und setzen der hysterischen Medienberichterstattung, der sie sich in einem Kapitel ausführlich widmen, auf angenehme Weise Gelassenheit entgegen. Wichtiger als der schlagzeilenträchtige Skandal ist es dort hinzuschauen, wo unsere Welt in doppeltem Sinne "heil" ist, rechtes Denken also längst zum Alltag gehört. Das ist die Botschaft dieses lesenswerten Buches.

    Astrid Geisler, Christoph Schultheis: Heile Welten: Rechter Alltag in Deutschland
    Hanser Verlag, 224 Seiten, EUR 15,90
    ISBN: 978-3-446-23578-6