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Wo werden in Deutschland die meisten Kinder geboren?

Die Fertilitätsrate ist für Demografen eine wichtige Variable, um die Entwicklung einer Bevölkerung vorherzusagen. In Deutschland zeigt sich, dass die durchschnittliche Zahl der Kinder pro Frau regional unterschiedlich ausfällt: Im Norden werden teilweise bis zu doppelt so viele Kinder geboren wie im Süden. Den Gründen sind Soziologen am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln auf der Spur.

Von Mirko Smiljanic | 19.04.2012
    "Oh, oh, einen Moment, einen Moment, ja, ich kann ihm jetzt noch mal die andere Brust geben, dann bleibt er ruhig."

    Anna Albers, Tourismusmanagerin aus Barcelona.

    "Das Kind ist jetzt 18 Tage und meine Tochter ist jetzt zweieinhalb, im Juli wird sie drei."

    Sie ist eine glückliche Mutter - jede andere Beschreibung wäre falsch. Glücklich ist auch ihr Mann Sebastian Laßau, der in den nächsten Wochen seine erste Stelle als Lehrer antritt - ein Mensch mit eindeutiger Affinität zu Kindern,

    "Ja, ich habe selber vier Geschwister, komme aus einer großen Familie und habe es immer als sehr schön empfunden, in einer großen Familie zu leben."

    Vergleichbares kennt seine Frau aus ihrer Kindheit.

    "Ich bin in einer Familie aufgewachsen mit drei Kindern, das hat mir sehr gut gefallen, das wollte ich auch machen."

    Zwei Kinder hat das Kölner Paar, womit es die durchschnittliche Fertilitätsrate der Domstadt weit übertrifft. Statistisch 1,3 Kinder bekommt jede Frau in der Rheinmetropole, das entspricht etwa dem bundesdeutschen Durchschnitt - wobei die Betonung auf Durchschnitt liegt, regional schwanken die Fertilitätsraten erheblich.

    "Besonders niedrig ist eine Region, wenn sie von 1 bis 1,09 Kindern pro Frau verzeichnet."

    Barbara Fulda, Soziologin am Max Planck Institut für Gesellschaftsforschung, Köln.

    "Diese Regionen findet man beispielsweise im Süden Deutschlands häufig, allerdings ist 1 bis 1,09 sehr niedrig, 1,1 bis 1,3 sind wahrscheinlich dann normal niedrige Fertilitätsraten; und eine sehr hohe Fertilitätsrate von 1,7 bis 1,79, die gibt es besonders im Nordwesten, beispielsweise wird Cloppenburg immer genannt, ich habe auch auffallend hohe Fertilitätsraten für die Grafschaft Bentheim und Borken gefunden; im Osten ist Dresden die Stadt, in der auffällig hohe Fertilitätsraten gerade in den letzten Jahren zu beobachten sind."

    Der Norden und Osten Deutschlands haben hohe Fertilitätsraten, der Süden niedrige - in München werden bundesweit die wenigsten Kinder geboren, im niedersächsischen Cloppenburg die meisten. Drei Faktoren bestimmen die Fertilitätsrate. Da sind einmal "Strukturelle Kontextmerkmale".

    "Damit sind beispielsweise regional verfügbare Kinderbetreuungsplätze, aber auch die Arbeitsmarktsituation vor Ort gemeint, andererseits werden in der Forschung soziostrukturelle Merkmale der Bevölkerung in einer Region berücksichtigt, das sind zum Beispiel der durchschnittliche Bildungsgrad in einer Region oder das durchschnittliche Einkommen."

    Und drittens gibt es "Soziale Kontexteinflüsse". Netzwerke wie Familien und Freunde, das Wohnumfeld, aber auch religiös oder kulturell tradierte Werte, beeinflussen die Fruchtbarkeitsrate - genauer: Sie beeinflussen die Entscheidung eines Paares, wie viele Kinder es wann bekommen möchte.

    "Das heißt, dass Menschen erst ab einer abgeschlossenen Berufsausbildung und einem festen Beruf, überhaupt erst ins Auge fassen, Kinder zu bekommen. Dieses Muster ist im Osten eher aufgeweicht, dass man gar nicht annimmt, man muss heiraten, bevor man ein Kind bekommt, sondern man kann das auch ruhig in einer Lebenspartnerschaft tun. Deswegen ist es dort auch leichter, als alleinerziehende Frau von anderen nicht schräg angesehen zu werden, als es im Süden Deutschlands der Fall ist, wo man erwartet, dass Menschen verheiratet sind und in einer geordneten Partnerschaft leben, wenn sie ein Kind haben."

    Nun scheitern geordneten Partnerschaften in geordneten Verhältnissen aber zunehmend an ökonomischen Problemen: Ausbildungszeiten ziehen sich in die Länge; das erste nennenswerte Gehalt wird frühestens mit Mitte 30 überwiesen; wer Karriere machen will, muss auch mal ins Ausland gehen. Keine gute Basis fürs Kinderkriegen, sagen sich viele Paar vor allem im Süden Deutschlands - und verzichten auf Nachwuchs.

    Neben ökonomischen Faktoren haben auch soziale Netzwerke Einfluss auf die Entscheidung für oder gegen Kinder. Da sind einmal Freunde und Bekannte. Aus der Anzahl ihrer Kinder leiten viele angemessene Kinderzahlen ab, unabhängig von ihren eigenen Bedürfnissen.

    "Wie viele Kinder hat man denn so üblicherweise, dann natürlich auch die soziale Interaktion mit Freunden, wenn alle Freunde keine Kinder haben, wenige Kinder haben, orientiert man sich daran vielleicht auch in den Vorstellungen zum normalen Leben."

    Nicht zu unterschätzen - sagt Barbara Fulda vom Max Planck Institut für Gesellschaftsforschung - ist der Einfluss der eigenen Eltern,

    "Die natürlich auch fragen, warum hast Du noch kein Kind, willst Du nicht langsam mal oder so, und diese althergebrachten Vorstellungen können auch zwischen Regionen unterschiedlich sein."

    Den stärksten Einfluss auf die Fertilitätsrate haben aber die individuellen Vorstellungen über den Ablauf eines gelungenen Lebens,

    "Wenn also die Norm ist, man ist verheiratet und erst dann bekommt man ein Kind, aber eben dieser Schritt der Heirat ist nicht möglich, man findet nicht den richtigen Partner oder der Partner will nicht mehr heiraten, dann kann man ja dieses notwendigen Schritt vor dem Kinde bekommen, gar nicht erst durchführen, weswegen auch der Kinderwunsch nicht erfüllt werden kann."

    Ein Phänomen, das sich aktuell in Italien beobachten lässt. Viele junge Männer leben aus Kostengründen noch bei ihren Eltern, sie können keine Familien gründen, weshalb die Fertilitätsrate in Italien zu den niedrigsten Europas zählt.

    Und weil Frauen immer später ihr erstes Kind bekommen, greift noch der Effekt des "Nichtstuns",

    "Was dann letztendlich dazu führt, dass kein Kind geboren wird. Es ist also keine bewusste Entscheidung in dem Sinne, von Anfang an zusagen, nein, ich will kein Kind, sondern es ist einfach eine Entscheidung, die sich irgendwann einfach erübrigt."

    Für Anna Albers und Sebastian Laßau trifft all das nicht zu. Sie haben schon zwei Kinder, nur beim möglichen Dritten driften die Meinungen auseinander.

    "Ich würde gerne noch ein Kind bekommen, ein Drittes, ja!"

    "Ich nicht, mit zweien habe ich genug, ich bin jetzt 35, wenn ich früher angefangen hätte, vielleicht könnte ich mir vorstellen, noch ein drittes Kind zu bekommen, aber jetzt nicht, ich glaube zwei reichen mir."