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"Woher soll der Strom bitteschön sonst kommen?"

In den 80er-Jahren, waren sie Atomgegner, heute wünschen sie sich ein eigenes Kraftwerk. Viele Polen haben sich gewandelt, vor allem, weil die wirtschaftlichen Bedingungen sie dazu zwingen.

Von Florian Kellermann | 11.08.2009
    Das polnische Dorf Gniewino liegt idyllisch hinter sanften Hügeln und einem Laubwald, am Fuße eines Abhangs ein großer See. Auch das Meer, die Ostsee, ist nicht weit - 15 Kilometer sind es bis zur Küste. Aber das Leben hier sei beschwerlich, sagt eine Frau, die mit ihrer Tochter auf den Bus ins nächste Dorf wartet:

    "Ich bin über 40 Jahre alt und weiß nicht, ob ich noch einmal eine feste Anstellung finde. Ich würde alles dafür tun, seit einem halben Jahr liegt meine Bewerbung in einem Altenheim hier in der Nähe - und ich warte. Dort haben sie mir gesagt: Ich habe nur eine Chance, wenn sich keine Jüngere findet."

    Vor der Wende habe sie es leichter gehabt, erzählt die Frau. Sie arbeitete für das Kernkraftwerk, das hier in den 80er-Jahren gebaut wurde - am anderen Ende des großen Sees. Aber als das kommunistische Regime unterging, wurden die Bauarbeiten eingestellt, und Hunderte von Mitarbeitern saßen auf der Straße. Gleichzeitig schloss damals die örtliche LPG ihre Tore.

    In den 80er-Jahren waren viele Menschen hier gegen das Atomkraftwerk, es gab Proteste. Heute hoffen die meisten, dass es doch noch entsteht. Bis 2020 will die Regierung mindestens ein Atomkraftwerk in Polen bauen. Ein offizielles Auswahlverfahren für den Standort gibt es zwar noch nicht. Aber er soll auf jeden Fall im Norden des Landes liegen, der am schlechtesten mit Strom versorgt ist.

    Gniewino hat also gute Chancen - und die müsse es nutzen, sagt Bozena Lange, die im Ort eine Änderungsschneiderei betreibt:

    "Ich weiß nicht, wie man heute noch gegen das Atomkraftwerk sein kann. Solche Leute sind für mich krank. Viele unserer Männer arbeiten im Ausland, die Familien gehen dadurch kaputt. Außerdem ist die Technologie heute so weit fortgeschritten, dass da kaum noch ein Risiko besteht. Unsere Nachbarn haben ja auch alle Atomkraftwerke. Und woher soll der Strom bitteschön sonst kommen?"

    Hauptsache Arbeit, so denken die meisten in Gniewino. Im Moment gibt es nur zwei kleine Betriebe, die im Meer gefangene Fische verarbeiten. Und an eine Entwicklung des Tourismus glaubt hier kaum jemand. Obwohl vor drei Jahren am Ortsrand ein kleiner Freizeitpark entstanden ist, gefördert von der Europäischen Union. Ob die Kernkraft Touristen anlockt ? Ortsvorsteher Jan Prezpiora kann sich das vorstellen:

    "Schon jetzt kommen viele Leute und fragen, wo genau in den 80er-Jahren das Atomkraftwerk gebaut werden sollte. Immerhin wäre es das erste in Polen gewesen. Da ist es ja klar, dass sich die Menschen dafür interessieren."

    Der Gemeinderat von Gniewino jedenfalls hat einstimmig beschlossen, dass sich der Landkreis als Standort für das Atomkraftwerk bewerben soll. Allerdings: Damit ist der Ort nicht der Einzige in Polen. Unter den Interessenten ist auch Gryfino in Westpommern, nur fünf Kilometer von der Grenze zu Brandenburg entfernt.

    Die Gemeinden hoffen auf Arbeitsplätze, die Umweltschützer schütteln den Kopf.

    Zbigniew Karaczun vom Polnischen Ökologischen Klub:

    "Der ganze Plan ist irrational. Denn die größten Probleme mit der Energieversorgung werden wir in den nächsten zehn Jahren haben, lange bevor ein Atomkraftwerk entstehen kann. Außerdem wird das Projekt viel Geld kosten, das wir lieber anders ausgeben sollten - für erneuerbare Energien und fürs Energiesparen. Dadurch könnten wir viel mehr Strom gewinnen als durch ein Atomkraftwerk. Außerdem würden wir unabhängiger von Russland, denn von dort würden wir sehr wahrscheinlich das Uran importieren."

    Zbigniew Karaczun glaubt, dass Premier Donald Tusk schnell Fakten schaffen will, bevor sich landesweit eine öffentliche Debatte über das Thema entwickelt. Die Atomkraft gehört fest zum offiziellen Energieplan, auch ein spezieller Regierungsbevollmächtigter wurde berufen. Unter den politischen Parteien äußerte nur die Bauernpartei PSL vorsichtige Zweifel an der Kernenergie. Aber sie koaliert in der Regierung mit der "Bürgerplattform" von Donald Tusk und trug dessen Entscheidungen deshalb mit.