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Woher wir kommen und was wir sind

Mythen formen das Selbstbild von Kollektiven, so schreibt der Berliner Historiker Herfried Münkler in seinem Buch "Die Deutschen und ihre Mythen". Manchmal treiben sie die Entwicklung voran, manchmal sind sie darauf angelegt, Veränderungen zu bremsen. Auf 600 Seiten versucht Münkler herauszufinden, welche Mythen die Deutschen und ihre Geschichte geprägt haben.

Von Alexander Cammann | 09.03.2009
    Es war einmal ...: An diesen drei Worten erkennen schon kleine Kinder jene erfundenen oder doch zumindest phantasievoll ausgeschmückten Erzählungen, die zwar lange vergangen sind, die sie aber doch immer wieder hören wollen. Nicht viel anders verhält es sich mit den Erwachsenen: Menschen kommunizieren miteinander und berichten dabei von ihren Erlebnissen und Erfahrungen. Die Geschichte menschlicher Gesellschaften, so wie wir sie kennen, ist auch eine Geschichte von Erzählgemeinschaften.

    Unseren ständigen Bedarf an vergangenen Geschichten hat der Philosoph Odo Marquard pointiert begründet: "Zukunft braucht Herkunft". Und jene zu Mythen geronnenen großen Erzählungen darüber, woher wir kommen und was wir sind, können enorme politische Wirkung entfalten. So ist beispielsweise das Charisma Barack Obamas nicht nur durch sein Lächeln oder sein Auftreten zu erklären oder durch die Tatsache, dass er der erste farbige Präsident der Vereinigten Staaten ist. Vielmehr verkörpert er in seiner Person eine jahrhundertelange amerikanische Geschichte: die vom Leiden, vom Kampf und schließlich von der Befreiung und Emanzipation der Afro-Amerikaner, ein heute höchst lebendiger und kraftvoller politischer Mythos.

    Und die Deutschen? Wie steht es hierzulande um die großen Erzählungen? Die Bundesrepublik sei heute, so Herfried Münkler, im Vergleich zu Amerika und anderen Ländern eine "weitgehend mythenfreie Zone".

    "Kein Sturm auf die Bastille mit anschließender glorreicher Revolution wie in Frankreich; kein Unabhängigkeitskrieg, in dem politische Werte durchgesetzt wurden wie in den USA; keine ungebrochene Erinnerung an eine glanzvolle imperiale Epoche, aus der die Eliten Selbstbewusstsein ziehen, wie in England."

    Münkler lehrt an der Humboldt-Universität und gehört zu den originellsten Köpfen seines Faches. Einem größeren Publikum wurde er durch sein Buch über die "Neuen Kriege" aus dem Jahr 2002 bekannt sowie mit seiner 2005 erschienenen Studie über Imperien, vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten.

    Pünktlich zum Jubiläumsjahr 2009, in dem niemand der deutschen Geschichte entkommen wird, präsentiert Münkler jene Mythen, die das Bild unserer Nationalgeschichte geprägt haben - von der Schlacht im Teutoburger Wald bis zum Wirtschaftswunder.

    Der Blick des Autors ist angenehm nüchtern. Mythen sind bei ihm nicht etwa Unwahrheiten, die man entlarven muss, so wie es unser Alltagsverständnis suggeriert. In politischen Mythen, schreibt Münkler:

    … wird das Selbstbewusstsein eines politischen Verbandes zum Ausdruck gebracht, beziehungsweise dieses Selbstbewusstsein speist sich aus ihnen. Sie sind die narrative Grundlage der symbolischen Ordnung eines Gemeinwesens."

    Mythen wandeln sich fortlaufend und sind von vielen Seiten her instrumentalisierbar. Keineswegs will Münkler mit ideologiekritischem Furor noch einmal die oftmals mythisch aufgeladenen Irrwege der Deutschen bis 1945 entlarven. Vielmehr sieht er in der Mythenfeindlichkeit zunächst der Bonner, jetzt der Berliner Republik durchaus Risiken:

    "Das Defizit politischer Mythen in Deutschland hat einen Preis, und der besteht im Fehlen von Großerzählungen, die Zutrauen und Mut erzeugen und politische Reformen begleiten und absichern können. Der Befund mag überraschen: Mangel an politischen Mythen und struktureller Konservatismus gehen offenbar Hand in Hand."

    Glücklicher verlief die Geschichte jedoch bekanntlich nicht, als die Deutschen noch mythenseliger waren. Das weiß auch Münkler. Er erklärt die historischen Ursachen für diese einstige fatale Fixierung auf "Hirngespinste" im "Luftrevier", wie Heinrich Heine einst spottete:

    "Politische Mythen haben in allen europäischen Nationen eine wichtige Rolle gespielt, Deutschland allerdings war ein regelrechtes Dorado der politischen Mythographie. Das hängt mit der politischen Deutungshoheit des Bildungsbürgertums und mit der verspäteten Staatsbildung zusammen: Bis 1871 waren Mythen und Symbole die einzigen Repräsentationen der Nation. Das hatte zur Folge, dass die nationalen Erwartungen und Anstrengungen auf das Feld des Symbolischen verwiesen waren. Was im politischen Erfahrungsraum nicht der Fall war, wurde mit umso größerer Intensität in den Erwartungshorizont hineingeschrieben, und der wurde über weite Strecken durch Mythen illustriert."

    Aus zahllosen literarischen, künstlerischen und architektonischen Quellen schöpfend, erzählt Münkler anschaulich die Geschichte der wichtigsten Mythen. Er verfolgt das reichlich blutrünstige, manche deutsche Opfergänge ideologisch überhöhende Schicksal der Nibelungen. Er schildert die heute reichlich seltsam anmutende Barbarossa-Hoffnung mit ihren zahllosen Anspielungen, wonach der mittelalterliche Kaiser auferstehen und als Wiedergänger das deutsche Reich einen könnte. Überall witterten die Deutschen Feinde: Von zentraler Bedeutung waren daher die Mythen, die sich dem Kampf gegen die Fremden widmeten: ob nun die Römer in der Schlacht im Teutoburger Wald, Luthers Rebellion gegen Rom oder die Erbfeindschaft der Franzosen. Und natürlich war der rasche Aufstieg Preußens zur europäischen Großmacht im 18. Jahrhundert äußerst mythenträchtig - mit Nachwirkungen bis zum Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944.

    Münklers Buch ist eine heimliche Hommage an das deutsche Bildungsbürgertum, mit Licht und Schatten; die Lust, mit der er die Dichter und Denker zitiert, spricht eine deutliche Sprache. Das Weimar der deutschen Klassik bekommt da einen mythischen Platz zugewiesen. Und Münkler schaut auf die Erzählung vom Doktor Faust, der sich um der Erkenntnis willen dem Teufel verschreibt - der deutsche Intellektuellenmythos schlechthin.

    Schwächer hingegen wird Münklers breit angelegte Ideengeschichte des Mythos gegen Ende hin, also dann, wenn der Autor auf die unmittelbare Vergangenheit und die Gegenwart schaut. Nach dem erfreulichen Bruch der allermeisten mythischen Traditionen 1945 vermag Münkler neue Mythen hauptsächlich im sattsam bekannten Wirtschaftswunder und im gescheiterten antifaschistischen Gründungsmythos der DDR entdeckten. Hingegen unterschätzt er das mythentaugliche Potential von 1968 - immerhin eine auch heute noch erstaunlich wirkmächtige Erzählung der alten Bundesrepublik. Und wer sieht, welch tiefe, noch auf Jahrzehnte hinweg erschütternde Erzählwirkung für Jung und Alt vom Holocaust ausgeht, der muss sich über die gravierendste Lücke in Münklers Mythenprogramm wundern: Auschwitz, der zentrale negative deutsche Mythos nach 1945, kommt bei Münkler nicht vor.

    Über die Frage, ob Mythen nicht ohnehin nur eine intellektuelle Begleitmusik für historische Prozesse bieten, wird man weiterhin streiten. Ebenso über die Frage, welche Rolle Mythen künftig in einer postnationalen Einwanderungsgesellschaft mit neuen kulturellen Traditionsmischungen spielen können. Eines ist jedoch auch nach dem Blick in Herfried Münklers frisch geputzte Mythenkammer sicher: Solange es Gemeinschaften gibt, werden sie dem "Es war einmal" lauschen, mehr oder minder glücklich bis ans Ende ihrer Tage.

    Herfried Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen. Das bei Rowohlt verlegte Buch hat 600 Seiten und kostet 19 Euro 90.