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"Wohin mit Vater?"

Wir beginnen mit nackten Zahlen: 1.432 Euro. Diese Summe zahlt die Pflegeversicherung pro Monat, wenn ein Bürger so hinfällig geworden ist, dass er betreut werden muss. 1.432 Euro, das ist die höchste Pflegestufe für besonders Hilfsbedürftige. Ein Platz in einem Pflegeheim, in einem besonders guten allemal, kostet oft mindestens tausend Euro mehr. Dafür muss der Betroffene dann selbst aufkommen oder seine Angehörigen. Ob man die letzten Lebensjahre in Würde verbringen kann, das hängt also auch vom Portemonnaie ab. Und selbst mit sehr viel Geld lässt sich eine anständige Betreuung oft nicht erkaufen. Erschütternde Erfahrungen hat ein Journalist gemacht, als er von einem Tag auf den anderen für seinen kranken Vater ein neues Zuhause suchen musste. Er hat seine Erlebnisse aufgeschrieben: "Wohin mit Vater?" heißt sein Bericht. Daniel Blum stellt Ihnen das Buch vor.

Rezensent: Daniel Blum |
    Am Telefon hatte seine Schwester das Wort "Zusammenbruch" gesagt. Als er in der Stadt seiner Eltern ankam, war die Mutter tot. Herzinfarkt, sagte der Arzt. Sie war 83 Jahre alt geworden. Der Vater saß in dem Sessel, in dem er immer saß. Er hatte keine Tränen, er hatte Angst. Die Frau, die in den vergangenen fünf Jahren sein Leben garantiert hatte, war tot. Der Vater saß in seinem Sessel im Wohnzimmer, und oben im ersten Stock des Hauses, das sie am Stadtrand bewohnten, lag seine tote Frau. Der Sohn und die Tochter saßen auf dem Sofa neben ihm. Sie sprachen nichts. Wahrscheinlich waren sie so tief in ihrer Stummheit gefangen, weil jeder wusste, dass eine Frage vor ihnen stand, auf die sie keine Antwort hatten: Wohin mit Vater?

    "Wohin mit Vater?" heißt auch dieses Buch, das am 23. Februar erscheinen wird, Untertitel: "Ein Sohn verzweifelt am Pflegesystem". Der Autor bleibt anonym; der Fischer Verlag beschreibt ihn als "Ressortleiter einer deutschen Tageszeitung". Ein namenloser Autor also, doch unpersönlich ist das Buch keineswegs, im Gegenteil. Ein Sohn beschreibt die Nöte, in die ihn der plötzliche Tod seiner Mutter stürzt: Sie hat den Vater jahrelang zu Hause gepflegt, der nun abrupt ohne Hilfe dasteht. Beide Kinder sind berufstätig, der Sohn lebt zudem am anderen Ende der Republik. Würde er den Vater zu sich nach Hause nehmen, müsste seine Frau ihn pflegen. Und sollte seine Schwester es tun, müsste sie ihren Beruf aufgeben. Zudem ist der Vater kein einfacher Zeitgenosse: verschlossen, ja verschroben; ein Einzelgänger. In den nächsten Tagen klappern die beiden Kinder Pflegeheime ab, auf der Suche nach einem neuen Zuhause für den alten Herrn. Freie Plätze finden sie; doch selbst das teuerste Heim wirkt unpersönlich, wie eine Gepäckaufbewahrung für abgelegte Menschen, und bietet für stolze 3.400 Euro im Monat gerade mal ein karg möbliertes Doppelzimmer:

    Zwei Wildfremde sollten nun, da sie alt und gebrechlich waren, den Rest ihrer Tage gemeinsam auf ein paar Quadratmetern verbringen. Den Lebensrhythmus des anderen teilen, seine Gerüche einatmen, seine Geräusche aushalten, seine Dummheiten anhören und seine Lebensweisheiten, seine Schmerzen mitleiden und seine Schlaflosigkeit, jede Lebensregung und jede Todesangst. Und, wenn es darauf ankam, den anderen mit dem Tod ringen sehen und sterben - im Bett nebenan. Und dem Sohn kam in den Sinn, wie sein Vater einmal etwas vom Krieg erzählt hatte. Das Schlimmste beim Militär sei nicht die Todesangst gewesen, vielmehr der völlige Mangel an Rückzugsräumen, die Unmöglichkeit, allein zu sein. "Das ist ja gerade das Schöne", begann das Mitglied der Direktion, "dass die Senioren auf diese Weise ein bisschen Unterhaltung haben. Denn der Fluch des Alters, wissen Sie, ist die Einsamkeit."

    Verflucht scheint die Reise zu sein, die die Geschwister in die deutschen Pflegeheime führt. Der permanente Geruch nach Putzmitteln und Urin; gehetzte Pflegekräfte ohne Zeit für ein persönliches Wort; Abstellkammern, in denen Insassen zu zweit und doch alleingelassen auf ihr Ende warten. Bange Verzweiflung packte den Autor, wie er im Interview erzählt - es ist nachgesprochen, um seine Anonymität zu schützen:

    " Ich habe etwas erlebt, so existentiell wie kaum zuvor in meinem Leben. Und dann hab' ich erfahren: Es gibt sehr viele Menschen, die eine ähnliche Erfahrung machen. Das wollte ich aufschreiben - auch um denen zu zeigen: das betrifft Hunderttausende. Pflege ist ein großes Tabuthema in unserer Gesellschaft, weil es mit sehr viel Angst zu tun hat. Angst, die jeder von uns hat, vor dem Sterben, vor dem Tod, Angst, krank zu werden, ein Pflegefall zu werden, Angst vor dem Siechtum, Angst vor all dem Hässlichen. "

    Es ist ein folgenschweres Tabu, wie der Autor selber erfährt. Der Tod der Mutter trifft alle unvorbereitet: niemand hatte sich getraut, ihn ins Auge zu fassen und für die Folgen Vorkehrungen zu treffen. Die Schilderung der panischen Versuche der Geschwister, für den Vater eine menschenwürdige und zugleich bezahlbare Betreuung zu finden, macht etwa zwei Drittel des Buches aus. Doch der Autor, gelernter Journalist, hat auch über den privaten Horizont hinausgeblickt. Hat Experten befragt, Interviews geführt, Fakten zusammengetragen. Und dabei festgestellt, dass er mit seinen deprimierenden Erlebnissen nicht alleine dasteht: Die deutschen Pflegeheime sind in der Regel gewinnorientiert und erwirtschaften ihre Profite vor allem dadurch, dass sie am Personal sparen. Die Vernachlässigung der Heimbewohner geschieht - so der Autor - nicht, weil die Pfleger Unmenschen sind, sondern weil ihr straffer Zeitplan sie so bedrängt, dass sie sich im Umgang mit den Patienten der Menschlichkeit, die Umstände macht, entledigen müssen. Die Ergebnisse seiner Recherchen bereitet der Autor zumeist nicht in isolierten Kapiteln auf, sondert verzahnt sie geschickt mit seinen Erlebnissen. Die er der Chronologie folgend niedergeschrieben hat:

    " Weil es die Erfahrungen vieler Menschen betrifft, dass man erstmal ganz ratlos da steht und dann mal etwas versucht. Und dann noch mal etwas versucht. Eine dritte, eine vierte Erfahrung macht. Und so ist auch der innere Prozess, der immer größeren Verzweiflung, der immer neuen Hoffnung, der immer neuen Enttäuschung. So sammelt sich allmählich Wissen an. Das ist eigentlich keine Geheimwissenschaft: Das kann jeder wissen - aber niemand beschäftigt sich damit. Ein großes Anliegen des Buches ist, dass Menschen beginnen, zeitig darüber zu reden... "

    ... darüber zu reden, was mit den Eltern oder auch mit einem selber geschieht, ist man erst einmal auf fremde Hilfe angewiesen. Das macht das Buch "Wohin mit Vater?" nachdrücklich klar: Man sollte nicht darauf warten, dass sich eine Lösung schon irgendwie finden lässt. Doch der Autor mahnt nicht nur, sich zu kümmern, er gibt auch konkrete Hilfen: Der Titel enthält unter anderem eine kleine Anleitung, woran man eines der raren guten Pflegeheime erkennen kann. Auch wenn das Thema beklemmend ist - sprachlich zeigt das Buch eine erfrischende Leichtigkeit. Es ist in einem schlichten, aber eleganten Stil verfasst und besitzt - ungewöhnlich für ein Sachbuch - literarische Qualitäten. Plastisch erzählt der Autor von seinen Gefühlswirren: der Scham, dem schlechten Gewissen, der Hilflosigkeit.

    " Das ist alles ganz schrecklich peinlich, und es ist mir gar nicht leicht gefallen. Aber: Ich weiß nicht, ob es wirklich so private Gefühle sind. Ich teile diese Gefühle mit Hunderttausenden von Menschen, denen es ganz ähnlich geht. Und vielleicht ist es für viele Menschen auch eine Erleichterung mal zu lesen. Da sagt mal endlich jemand etwas, er spricht aus, was mich genauso umtreibt. "

    Es dauerte, bis die beiden Geschwister eine Lösung fanden. Eine ambulante Rund-um-die-Uhr-Betreuung des Vaters schien zunächst nicht in Frage zu kommen: Löhne und Sozialabgaben für drei schichtweise arbeitende Pflegekräfte waren schlicht zu teuer. Bis eine Bekannte einen Tipp hatte, eine Telefonnummer. Nun lebt eine Krankenschwester aus Polen im Elternhaus. Ein Modell, das überall in Deutschland praktiziert wird: Schwarzarbeit aus Osteuropa, illegal, strafbar. Ein Happy End, das der Autor nicht gefährden möchte - deshalb die Anonymität.

    Wohin mit Vater? Ein Sohn verzweifelt am Pflegesystem. Verlag S. Fischer. Frankfurt 2007. 191 Seiten. 17,90 Euro.