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Wohin treiben die Festivals?

Sekt, Show und Sommermusik - Festivals sind nicht nur musikalische Leckerbissen, sondern auch Events, bei denen sich Publikum und Stars präsentieren. Eventorientierte Musikvermittlung steht im Zentrum der vierten Folge der Serie "Wohin treiben die Festivals?".

Von Matthias Strässner |
    Am Anfang ging es nur um "Champagner und Confect". Als sich Friedrich Nietzsche vor 135 Jahren mit dem - wie er ihn nannte- "Philister" David Friedrich Strauß stritt, ging es nicht etwa um Theologisches oder Philosophisches, sondern, und das nicht zu knapp, um Musik und die Art und Weise, wie diese dargeboten wird. David Friedrich Strauß hatte klare Vorstellungen, wann im Laufe eines Konzerts ein Quartett Mozarts oder Beethovens zu "reichen" wäre. Und deswegen hatte er in einem seiner Bücher die musikalische Menue- Folge getadelt:

    "Man fängt dann mit Mozart, oder gar gleich mit Beethoven an, als wollte man eine Mahlzeit mit Champagner und Confekt, statt mit einer ehrlichen Suppe anfangen."

    Diese Redeweise war für Nietzsche ein Sakrileg. In der ersten seiner "Unzeitgemäßen Betrachtungen" faucht er zurück:

    "Sein Confekt- Beethoven ist nicht unser Beethoven, und sein Suppen-Haydn ist nicht unser Haydn."

    Man mag auch 135 Jahre später an diese Auseinandersetzung denken, wenn man als Gast eines Festivals am Sponsorentisch Champagner, fingerfood und Canapées gereicht bekommt, und für sich selbst die wichtige Entscheidung zu treffen hat, wie viel Champagner der im zweiten Teil gespielte Beethoven oder Bartok wohl noch verträgt? Auch die andere Frage mag gestellt werden: was heute eigentlich noch als die "ehrliche Suppe" der Musik bezeichnet werden könnte.

    Wenn man ein Konzert oder ein Festival - frei nach der Poetik des Aristoteles - als gesuchte Einheit von Ort, Zeit und musikalischer Handlung betrachtet, genauer: als Einheit eines ausgesuchten künstlerisch-musikalischen Programms an einem ausgesuchten und besonderen Ort zu ausgesuchter Zeit, so lässt sich kaum leugnen, dass sich gerade in jüngster Zeit auffallend viel verändert hat.

    Um beim Ort anzufangen:
    Der traditionelle Konzertsaal, und sei er noch so schön, stellt nur noch eine unter vielen Möglichkeiten dar. Andere außergewöhnliche Räume sind längst in Konkurrenz getreten: Wer heute in Berlin ins Konzert geht, hat nicht mehr nur die Wahl zwischen Klassik in der Scharoun`schen Philharmonie oder Klassik im Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Ein ganz neues Ensemble von attraktiven, ungewöhnlichen Räumen ist entstanden: zum Beispiel die Sophiensäle, oder das Radialsystem im Trend-Design an der Spree, selbst das Tacheles. Auch eine Sternwarte oder eine Galopprennbahn stehen manchmal zur Verfügung. Und wer ein Neujahrskonzert erleben will, geht mit Kent Nagano in den Zirkus.

    Mit dem Beethoven-Festival Bonn kann man auch ins Einkaufszentrum mit den Ludwigsburger Schlossfestspielen ins Gefängnis auf dem Hohen Asperg vordringen, während das "Musikfest Berlin" auf dem Flughafen Tempelhof abhebt. Polo-Anlagen, Regierungsgebäude gehören zum Angebot der Konzertorte, frei nach Friedrich Dürrenmatt, demzufolge man Kunst dort ausüben muss, wo sie keiner vermutet.

    Zu diesen Räumen hat sich aber inzwischen noch ein weiterer Raumtyp gesellt, den Stadtforscher wie Volker Kirchberg, nicht den außer- sondern den über-gewöhnlichen Raum nennen. Das große Vorbild ist die Sydney Opera, entfernt auch das (inzwischen ja auch konzertant genutzte) alte Münchner Olympia-Stadion. Hier sucht eine spektakuläre Außen- und Innenarchitektur mit unterschiedlichem, durchaus nicht nur musikalischem Angebot nach dem Besucher. Und der soll keineswegs nur der Einheimische sein, sondern gerade auch der Tourist. Luzerns Konzerthaus von Jean Nouvel wäre als Beispiel zu nennen, auch der Konzertsaal von Frank Gehry in Los Angeles, ebenso Luxemburgs neue Philharmonie von Christian de Portzamparc. Als größtes neues Projekt eines solchen übergewöhnlichen Raumes gilt mittlerweile die Hamburger Elb-Philharmonie.

    Aber auch diese Typologie ist noch nicht hinreichend: Viele Konzertorte und Festspiele haben sich von der letzten Fußballweltmeisterschaft das Public Viewing und die Fan-Meile abgeschaut. Dabei hat sich eine neuartige Zweiteilung ergeben: Im klassischen Konzert- oder Theater-Raum sitzt der eine Teil des Publikums bei abgedunkeltem Licht in einer konventionellen, fast kirchlichen Andachts-Situation; und draußen sitzt der andere Teil des Publikums locker und leger vor einer großen Leinwand, um am Rande dem musikalischen Geschehen zu folgen.

    Das ist eine Situation, die der Musikrezeption im 18. Jahrhundert gar nicht so unähnlich ist, nur dass man heute mit Hightech "La Traviata" hört, und dabei auch als Besucher alkoholisch und zwischenmenschlich vom Weg abkommen kann. Fast möchte man hier von einer interessanten, weit unterschätzten multiplen Konzertform sprechen: Denn das Konzert wird zwei unterschiedlichen Zuschauermengen auf unterschiedliche Weise gereicht und serviert. Dabei hat diese multiple Konzertform auch noch den Charme, dass es die Politiker aus einer Argumentationsfalle befreit. Wo die Karten, wie in Bayreuth oder Salzburg, von 200 bis 400 Euro pro Platz kosten, und trotzdem jeder Theaterplatz zusätzlich mit Steuergeldern subventioniert werden muss, stellt sich die Frage nach der Angemessenheit, die bei der allgemeinen Verfügbarkeit gar nicht erst aufkommt.

    Auch der Ort als künstlerisches Zentrum ist vor Auflösung nicht sicher. Zwar gibt es sie noch, die gebündelten Festivals an abgelegener Stätte: Glyndebourne; Lockenhaus, die Schubertiade in Schwarzenberg, auch Donaueschingen gehört dazu. Und mit dem von Lars Vogt geleiteten Festival "Spannungen" in Heimbach in der Eifel oder mit Philippe Herreweghes "Accademia delle Crete Senesi" in der Toscana sind sogar neue Modelle entstanden. Aber sie geben längst nicht mehr das Muster moderner Festspiele ab. Heute sind viele Festspiele eher einem Typus zuzuordnen, der sich ungefähr seit 1985 in Baden-Württemberg, und später um so mächtiger in Schleswig-Holstein ausgeprägt hat. Es ist der Typus dezentraler Festspiele, der sich inzwischen auch in Nordrhein-Westfalen, Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg als Landes- und Länderfestspiele etabliert hat, und mit dem zuweilen auch dezentrale Rundfunk - Festspiele einhergehen.

    Auch unter dem Zeitaspekt müssen Festspiele neu bewertet werden. Denn sie waren früher nicht nur örtlich, sondern auch zeitlich auf Einmaligkeit ausgelegt. Jener Rhythmus war von entscheidender Bedeutung, was sich bei den Klassikern der Festspielliteratur leicht nachlesen lässt. Nicht nur in Richard Wagners Schriften zu "Bayreuth", sondern auch in viel früheren Schriften etwa zu den "Drehbergfesten", die 1776 in Dessau gefeiert wurden, und die das gesteigerte Interesse Goethes und des Weimarer Hofes fanden. Nicht anders auch in Franz Liszts Entwurf eines Planes zu einer Goethe-Stiftung. Immer waren die Olympischen Spiele mit ihren ergänzenden Kulturveranstaltungen Vorbild für das zu gründende Festspiel: So heißt es etwa bei Liszt:.

    "Ein alljährlicher Aufruf, welcher abwechselnd den Werken der Literatur, Malerei, Skulptur und Musik gilt, soll wie in den Zeiten der Olympischen Spiele den Schriftstellern und Künstlern eine glänzende Gelegenheit bieten, sich bekannt zu machen und bei großen Versammlungen Anerkennung zu finden."

    War es früher vorzugsweise der alljährliche Festspiel-Sommer, so bieten heute fast alle große Festspiele jahreszeitliche Filiationen an: Salzburg feiert auch Oster- und Pfingst-Festspiele; andere bieten neben dem Sommer einen "Festspiel"-Frühling, und noch andere, wie zum Beispiel Baden-Baden, offerieren Schwerpunkte des Jahres als Festival - Stagione en suite. Der Besucher (und der Briefkasten, der sich mit immer neuen Angeboten füllt) weiß es: Festival ist immer.

    Dagegen bezog einmal Gottfried Keller in seinem Programm-Aufsatz "Am Mythenstein" Stellung:

    "Ein Theater, das jahraus jahrein wöchentlich siebenmal geöffnet ist, entbehrt jeder Feierlichkeit, das Festliche ist zum gemeinen Zeitmord herabgesunken."

    Heute müsste man darauf entgegnen, dass auch viele Festspielhäuser wöchentlich siebenmal geöffnet haben. Das Besondere ist mithin das Normale. Festspiele werden möglichst räumlich und zeitlich unbegrenzt als Kollateralfaktor der Wirtschaft und der Landespolitik eingesetzt, sanft gesteuert nicht vom Ministerium für Kultur sondern eher vom Kollegen der Wirtschaft. Ihr flächendeckender und permanenter Einsatz ist geradezu das Gegenteil der ursprünglichen "Bayreuth-Definition".

    Der moderne Festspieltypus setzt auch voraus, was früher auszuschließen war: die extreme Mobilität der Beteiligten, übrigens von beiden Seiten: von Seiten der Künstler ebenso wie von Seiten des Publikums. Wer am Samstagabend in Salzburg in die Oper oder ins Konzert geht und dort zur Umwegfinanzierung beigetragen hat, kann am Sonntag um 10 Uhr in seiner Heimatstadt frühstücken, denn der zweitwichtigste Ort neben der Festspielstätte ist der Flughafen. Dirigenten, die in Salzburg am Abend Oper dirigieren, jetten noch nach der Aufführung zu einem Konzert in die USA. Weniger hektisch geht es dagegen bei einem Festival der Wiener Philharmoniker auf einem Kreuzschiff zu. Weswegen sich wohl viele fragen werden, was denn die wahren Festspiele von der Ware Festspiele noch trennen mag.

    Womit wir bei der letzten der drei 3 Einheiten wären: dem musikalischen Inhalt. Richard Wagner verkündigte 1851 programmatisch

    "Am Rhein schlage ich dann ein Theater auf und lade zu einem großen Feste ein: nach einem Jahre Vorbereitung führe ich dann im Laufe von vier Tagen mein ganzes Werk auf: mit ihm gebe ich den Menschen der Revolution dann die Bedeutung dieser Revolution, nach ihrem edelsten Sinne zu erkennen. Dieses Publikum wird mich verstehen; das jetzige kann es nicht".

    Wagner erwog sogar, nach der einmaligen Aufführung seiner Werke nicht nur das Theater wieder abreißen zu lassen, sondern auch die Partitur zu verbrennen. Hier beginnt man zu ahnen, in welcher Tradition Karl Heinz Stockhausen stand, als er bei der Vernichtung der Twin Towers in New York von einem "Gesamtkunstwerk" sprach.

    Die einmalige Teilhaberschaft von Künstlern und Publikum an einem einmaligen Ereignis, das - um es perfekt zu machen - mit der Verbrennung der Partitur enden muss! - dies entsprach durchaus der ursprünglichen Festspielidee! Diese wird auch heute noch vertreten, wenn etwa wieder vermehrt und klug auf den "Ereignis-Charakter" des Künstlerischen, oder auf die
    Ästhetik des Erscheinens oder auf Kategorien des Plötzlichen hingewiesen wird. Für das Motto dieser Auffassung könnte man auf Rainer Maria Rilke zurückgreifen, der weiland, 1902, als der Erweiterungsbau der Kunsthalle Bremen eröffnet wurde, in
    einer Festspielszene formulierte:

    "... hier in diesem Haus wird mancher sehend für ein ganzes Leben".

    Hier in diesem Haus wird mancher hörend für ein ganzes Leben - dieser Wunsch prägte die Festspiel-Philosophie über mehrere Generationen. Aber ist das heute überhaupt noch eine realistische Vorstellung? Wer die Konzert- und Festivalprogramme des Jahres 2008 liest, wird immerhin einräumen müssen: so viele klug konzipierte Konzerte gab es nie, auch wenn immer noch hie und da Konzertveranstalter um das wahllos eingekaufte Programm im Nachhinein ein Motto-Fähnchen zu hängen pflegen.

    Doch Dramaturgie ist es nicht allein. Denn längst ist ein Kult der Einführung entstanden - ob man als weltberühmter Star nach dem Auftritt sich noch selbst in die Schule begibt, als Dirigent im Konzert eine Einführung gewährt oder vor dem Konzert Einführungen veranstalten lässt. Die Magazine vieler Konzert- und Opernhäuser sind bibliophile Raritäten geworden: Das Magazin der Berliner Philharmoniker oder des Gewandhaus-Orchesters sind voll geladen mit Wissenswertem. Die Programmbücher werden immer dicker, der Besucher soll sich umworben und betreut vorkommen. Mit casual concerts werden potenzielle Zuhörer von Ingo Metzmacher und dem Deutschen Symphonieorchester direkt nach der Arbeit zum kurzen Konzert geholt, und offene Konzertstrukturen, etwa der "Der dritte Akt" in Köln bei Markus Stenz, sollen für erwartbare Überraschungen sorgen. Der Einleitungs- und Moderationskult ist bis in die Musikwettbewerbe gedrungen: So wurde der Musikwettbewerb des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft im BDI 2007 unter dem Titel "Ton und Erklärung - Werkvermittlung in Musik und Wort" im Fach Klavier ausgetragen. Der Wettbewerb forderte junge Musiker ausdrücklich dazu auf, ihre Interpretationen auch selbst zu moderieren! Das Rahmenprogramm, ins Zentrum gerückt, scheint viel wichtiger als das eigentliche Programm.

    Fasst man all diese Tendenzen zusammen, so entsteht ein durchweg disparates Bild:

    Die Festspielstätte wird zum hybriden Standort, der Besucher zum Kunden, die Kultur zur Ware. Festspielzeiten sind immer, und die Künstler immer die gleichen. Die gleichen Bundes-Länder reduzieren Ausgaben für Bildung, rufen aber gleichzeitig repräsentative Landes-Festivals ins Leben. Wenn überdies die Zahl der Klassikhörer in den nächsten 30 Jahren - laut Heiner Gembris - um 36 Prozent schrumpfen soll, dann dürften die Kulturpessimisten die Oberhand gewinnen.

    Wahr ist, dass neue Konzerttrends herkömmlich-städtische Abonnement- Strukturen arg gezaust haben. Wahr ist auch, dass eine deutliche Annäherung von Klassik und Pop-Kultur stattgefunden hat, die bei der Plattenindustrie längst zu einem neuen Optimismus geführt hat: was die Auftritte von Anna Netrebko, Lang Lang oder Cecilia Bartoli betrifft, so bedienen sich die Vermarktungsstrategien dieser Künstler längst des popkulturellen Bilderarsenals. Werke vom Wolferl Mozart auf dem Programm scheinen weniger wichtig als die Wölfe von Helène Grimaud auf der Ankündigung. Matthias Rebstock formulierte es jüngst:

    "In einer unlängst erschienenen Aufnahme von Carmen posieren die Sängerin der Carmen und ihr Kollege als Don José in offensichtlicher Anlehnung an den Typus der Abbildungen von James Bond mit Bond-Girl. Hört man diese Carmen, hört man sie unwillkürlich auf der Folie des kulturellen Codes, die mit James Bond-Filmen verbunden sind.

    Den Klassik-Fan alter Schule mag es dabei schaudern. In der Tat gibt es genügend Gründe, für die Klassik und für die Festivals schwarz zu sehen. Doch wäre das mit Blick auf die Kulturgeschichte und auf die Gegenwart falsch: Hybrid waren Festspiele immer. Die Entwicklung der Oper von Gluck bis Wagner, die Entwicklung der Sinfonie von Haydn bis Berlioz, die Fähigkeiten der Virtuosen, auf welche die Komponisten von Mozart bis Rihm setzten - das Modell der Hybridisierung gehört zur Kulturentwicklung dazu! Das Eindringen jeweils fremder und außerkünstlerischer Muster ins Zentrum des bisherigen Konzertlebens gehört zur Kontinuität der Kulturentwicklung.

    Auch scheint in der Gegenwart mit der Gefahr das Rettende zu wachsen.

    Auf der Suche nach einem neuen Publikum hat das bürgerliche Restgewissen die Kulturnischen ausgekehrt, und es wurde immerhin fünf Mal fündig. Ganz ohne Wertung seien sie kurz aufgezählt: Weil in Finnland 40 Prozent aller Kinder eine musikalische Erziehung haben, sind auch bei uns die Jeki- Ritter ausgezogen. "Jedem Kind ein Instrument!" so schallt es von Venezuela bis Nordrhein-Westfalen, und Vorzeige- Projekte, wie das Projekt der Berliner Philharmoniker "Rhythm is It" haben gezeigt, dass entscheidende Impulse auch aus der Mitte des musikalischen Establishments kommen können.

    Vor allem gibt es den viel beschworenen Silbersee. Vor einiger Zeit wurde über die weißen Haare und graumelierten Schläfen noch gelächelt, auf die der Künstler vom Konzert- Podium aus in Zukunft herabblicken werde wie auf einen "Silbersee". Nach allen verfügbaren Statistiken werden die Konzertbesucher immer älter. Aber wer die neue Kraft der älteren Generation nicht als Defizienz sondern als Potenzial begreift, wird hier eher von einem Schatz im Silbersee sprechen wollen, der auch für die Klassik sogar noch gehoben werden kann. Jedenfalls geht es bei Programmen für die "Generation "60 plus" um mehr als nur darum, den "Altersreichtum abzusaugen", wie es ein deutscher Ministerpräsident einmal lakonisch formulierte.

    Als weitere Gruppe werden die Mitbürger mit Assimilations- bzw. Migrationshintergrund konzertant umworben wie noch nie. Durchaus mit Erfolg. Es gibt in Berlin fast kein Orchester mehr, angefangen bei den Berliner Philharmonikern, das nicht auf die eine oder andere Weise alla turca spielen würde. Soviel ethno-klassischer Brückenschlag war noch nie.

    Wenn man von dieser Gruppe sagen kann, dass sie zumindest in einer früheren Generation historisch unfreiwillig mobil war, so wäre auch noch die Gruppe der freiwillig Mobilen zu nennen. Heutige Veranstalter müssen nicht nur, sie können auch auf einen selbsttragenden Konzert- und Festival-Tourismus rechnen, und die Kollegen der Bildenden Kunst und der großen Museen tun dies auch.

    Schließlich wäre als fünfte Gruppe die "neuen Spirituellen" zu nennen. Die Wertschätzung der Musik, zumal in Deutschland, verdankte sich schon seit Beginn des 18. Jahrhunderts der Tatsache, dass die Musik in die Rolle einer Ersatztheologie gekommen war. Seit der Romantik entwickelte sich die musikalische Kirche als eine Theologie ohne Worte, die in den Künsten als die höchste galt. Der Massenaustritt des Klassikpublikums aus der musikalischen Kirche, der sich in den letzten Jahren vollzog, ist eine nach-romantische Reaktion, die absehbar war und die anhalten wird. Trotzdem gibt es bereits eine neue Gruppe von Sinnsuchern, die durchaus wieder bei der Klassik landen: diese sagen mit Hape Kerkeling gleichsam - "Ich bin dann musikalisch mal weg" - hören Arvo Pärt, oder besuchen neue Konzertreihen wie "Paradisi gloria", wie sie Marcello Viotti mit dem Münchner Rundfunkorchester eingeführt hat. Es ist also zu erwarten, dass die Energien, die in einer säkularen, hochtechnisierten Gesellschaft nicht bedient werden können, auch weiterhin zur Musik finden wollen.

    Ein weites und weiteres Feld moderner Konzert- und Festivalpolitik ist aber auch die Akquise von Drittmitteln. Die Zeit, in welcher bürgerliche Gesellschaften, wie beispielhaft die Frankfurter Museumsgesellschaft, die in diesem Jahr 200 Jahre alt wird, in eigener Regie Konzerte veranstaltet haben, scheint vorbei. Auch die öffentliche Hand sieht sich nicht in der Lage, das gewünschte Konzertwesen zu finanzieren, und deswegen wird der Sponsor gerufen, zudem sich freilich eine Art "Hassliebe" entwickelt. Man braucht sein Geld, aber man würde ihn lieber nicht so deutlich im Vordergrund sehen. Nachdem es keinen Bürgermeister mehr gab, der nicht über das Stichwort der Umwegfinanzierung von Kultur hätte reden können, haben sich in der Tat viele private Förderer und viele Firmen bereit gefunden, für Kultur etwas zu tun.

    War "ppp" für Musiker früher eine gesteigerte Form von piano, pianissimo, so werden heute viele Musikmanager "PPP" eher mit Private Public Partnership übersetzen. Es war Ingo Schulze, der in seiner Dankesrede bei der Entgegennahme des Thüringer Literaturpreises 2007 über die "Refeudalisierung der Künste" klagte, nicht ohne gleichzeitig die Verdienste des Sponsors zu würdigen. Eine solche Rede wäre bei vielen Festivals zu halten. Warum sollte der Zuhörer bei Beethoven an Siemens oder bei Rihm an Audi oder Nestlé denken müssen?

    Trotzdem hat sich auch bei diesen "Dritten" die Einstellung deutlich geändert: Die Sponsoren scheinen - teilweise wenigstens- eingesehen zu haben, dass sie mit kontinuierlichem Sponsoring ein gutes Geschäft machen, mit auftrumpfendem Sponsoring ein schlechtes. Wenn das Konzert keine geschlossene Veranstaltung einer Firma sein soll, dann ist immer das bürgerliche, kunstsinnige Publikum mit zu berücksichtigen, das eben nach wie vor ein Konzert und keine Firmenveranstaltung besucht. Auch große weltberühmte Klangkörper wie die Wiener Philharmoniker haben in Japan schon erfahren müssen, dass ein Sponsoren- Overkill, oder das sogenannte Orang Utan Advertisement mit ständigem Sich-an-die-Brust-Schlagen, sogar für die Künstler gefährlich kontraproduktiv und imageschädigend sein kann.

    So geht das Interesse vieler Unternehmer an der Kultur und an der Kulturförderung inzwischen auch in eine andere Richtung: Sie gilt zwar nach wie vor nicht zwingend der Kunst oder der Musik selbst, aber immerhin einem künstlerischen und kreativen Faktor, der für die Wirtschaft immer wichtiger wird: der Generierung einer "Marke", sie gilt der Fähigkeit des Kunstmarkts, einen Künstler mit eigener "Marke" relativ schnell und voraussetzungslos in den Markt zu katapultieren.

    Was also ist von der Zukunft zu erwarten? Voraussagen sind schwierig, aber zwei Trends zeichnen sich ab:

    Zum Einen ist abzusehen, dass der "Mitmachfaktor" auch in der Klassik eine immer größere Rolle spielen wird. Die Einbeziehung des Publikums wird wichtiger, und das geht über Einführungen und musikalische Kaffeefahrten weit hinaus: Bei der Veranstaltung tonhalle late, die auf Veranlassung des Dirigenten David Zinman in der Züricher Tonhalle eingeführt wurde, werden die Saaltüren der Tonhalle mitunter erst um 21 Uhr geöffnet, um 22 Uhr hören Jugendliche Werke von Olivier Messiaen und Maurice Ravel, vom Tonhalle-Orchester und ihrem Chef selbst gespielt, und anschließend geht bei Electronica Live-Sets mit Disc Jockeys im Foyer "die Post ab".

    Der Begegnungscharakter von Künstler und Publikum, auch die Einbeziehung künstlerischer Laien wird eine immer größere Rolle spielen. Film und Theater haben dies mit preisgekrönten Produktionen vorgemacht - man denke an den Festival-Gewinner von Cannes 2008: Laurent Cantets Film "Entre les murs", oder auch an die Gruppe Rimini- Protokoll, die den diesjährigen Hörspiel- Preis der Kriegsblinden bekommen hat - vorgemacht. Die Hörer, die der Klassik vielleicht neu zuwachsen, werden sicherlich weniger aus dem "Innerlichkeits-" oder auch "Niveaumilieu" stammen, wie es der Bamberger Professor Gerhard Schulze unlängst in der Neuen Zürcher Zeitung beschrieben hat, schon eher aus dem "Selbstverwirklichungs - Milieu". Das heißt auch, dass an einer neuen Balance von Laie und Profi gearbeitet werden muss.

    Zum Anderen wird die Hybridisierung weiter gehen. Im besten Fall mag es dazu führen, dass Festspiele der Zukunft das Quartett aus Künstler - Publikum - Sponsoren - öffentlicher Hand neu sortieren und als vierblättriges Kleeblatt in ein kreatives Verhältnis bringen. Es könnte dann ein zusätzlicher Diskurs entstehen, den es sonst nicht gäbe: zwischen Künstlern, zwischen Zuhörern, aber eben auch zwischen Künstler und Publikum.

    Die Festspielorte der Zukunft werden Lokalitäten sein, an welchem sich produzierende und reproduzierende Künstler, Publikum und weitere Diskursstätten wie Museen, musikalische Hochschulen, und andere Wissenschaftsinstitute, Medien, Archive und Stiftungen, Galerien, ja sogar die Thinktanks großer Wirtschaftsunternehmen auf innovative Weise treffen können. Und die Orte werden das Prae haben, an denen die Strukturvoraussetzungen für solche neuen Synergien am besten sind: Die neuen Foren werden gleichsam Wiener Musikverein, Lockenhaus und Sacher-Stiftung in einem sein, und ganz selbstverständlich auch die Kontakte zu Museen und Wissenschaftsinstituten suchen.

    Mittlere Städte mit einem interessanten Festspiel- und Wissenschaftsmix: Ludwigsburg mit Film- und Theater- Akademie; Karlsruhe mit Medienakademie und Hochschule, aber eben auch Bonn mit den neuen Plänen eines Festspielhauses haben es hier womöglich sogar leichter als die Megastädte, die sich wegen ihrer Größe mit einer Focussierung solcher Aktivitäten immer schwer tun werden.

    Wer heute im Klassik-Betrieb die Aktiva und Passiva zusammenzählt, kann deswegen durchaus zu der Ansicht kommen, dass derzeit noch alle Chancen auf eine gute Entwicklung vorhanden sind. Alle Stilfragen, alle demografischen Entwicklungen, alle Annäherungen von Pop und Klassik werden der Klassik freilich nicht so zusetzen, wie zwei Phänomene, auf die abschließend noch kurz hingewiesen werden soll. Denn diese sind wirklich Skylla und Charybdis der heutigen Konzertkultur.

    "Wer mit Stöpseln im Ohr in der U-Bahn sitzt oder durch den Park joggt, der lebt in zwei Welten. Apollinisch fährt oder joggt er, dionysisch hört er."

    Dies sagt Rüdiger Safranski in seinem Buch über die "Romantik", das viel mehr mit modernem Konzertwesen zu tun hat, als man zunächst glauben mag. Als Wagner, Hofmannsthal etc. über die Notwendigkeit von Festspielen spekulierten, gab es noch keine Schallplatte, kein Ipod und kein Live Streaming. Es gab keine ausgeprägte Hörerwartung, die vom Zuhörer eines Konzerts mit in den Konzertsaal gebracht wurde. Allenfalls hatte man den Beethoven schon einmal zu Hause auf dem Klavier gespielt, sich an der Oper vierhändig am Klavier versucht, oder das singende Familienmitglied auf dem Klavier begleitet.

    Die neue Mischung des Apollinischen mit dem Dionysischen, die in jedem Headset abläuft, findet eine Entsprechung in einer aktuellen Kritik des spielenden Menschen: Wer wollte in dem Wesen, das an einer Spielconsole sitzt, noch jenen Typus des spielenden Menschen erkennen, für den Schiller seine "Ästhetischen Briefe" geschrieben hat? Noch weit schlimmer erscheint die Tatsache, dass diese Art zu hören eine Leistung neutralisiert und zurücknimmt, die zu zwei Jahrtausenden Kulturgeschichte gehört: die Unterscheidung zwischen Hören und Zuhören, zwischen to hear und to listen!

    Man kann deswegen kritisch anmerken, dass das Hören in den modernen Gesellschaften implodiert. Aber diese Hör-Krise der Gegenwart, dieser epochale Gehörverlust, ist kein Problem der Klassik allein.

    Das andere Problem stellen womöglich die vermeintlichen Retter der Klassik dar: Wo besagte Skylla mit Head-Set das ständige Rauschen im Ohr hat, hebt Charybdis ständig den pädagogischen Zeigefinger. Da soll offensichtlich kein klassisches Konzert mehr stattfinden, ohne dass vorher eine entsprechende Einführung und Belehrung stattfindet. Dramaturgen und Theaterpraktiker wie Jens Roselt warnen deswegen völlig zurecht davor, ein Konzert oder eine Theateraufführung ohne vorherige Einführung als "defizitär" aufzufassen. Ein Konzert ist zunächst einmal Ereignis und nur Ereignis. Eine überfürsorgliche, ja tantenhafte Kulturvermittlung - so die Mahnung - kann auch das Gegenteil bewirken!

    Schließlich lebt Kultur von der Offenheit, vom Unerwarteten und Unplanbaren. Und ob wir mit Champagner und Konfekt, oder ohne hörend werden für ein ganzes Leben, hängt auch in Zukunft von der Gnade eines besonderen Moments ab, den auch die besten Künstler nicht erzwingen, aber auch die schlechtesten Manager nicht verhindern können.