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Wohnerlebnis in Deutschland

Regeneration, Erholung, Intimität – das sind noch immer die wesentlichen Funktionen, die ein Zuhause laut einer neuen Studie in Deutschland erfüllen muss. Inzwischen arbeiten aber mehr Berufstätige als vor 20 Jahren in ihrer Wohnung.

Von Michael Engel |
    Christiane Scholz arbeitet und lebt in Berenbostel bei Hannover als Grafikerin. Freiberuflich wie ihr Mann. Das heißt: Wohnen und arbeiten sind bei den beiden unter einem Dach vereint.

    "Ja, Sie sehen hier, das ist unser Büro. Zwei Rechner und der große Tisch. Also alles relativ großzügig. Und wenn man durch diesen Durchgang kommt, dann kommt man in den Wohnbereich mit einer Essecke. Sitzgruppe, Fernseher. Also wir haben Wert darauf gelegt, dass man beides kombiniert. Leben, wohnen und arbeiten."

    In den Wohnungen wird heute mehr berufliche Arbeit erledigt als noch vor 20 Jahren. Das betrifft nicht nur Freiberufler. Auch Angestellte ziehen mittlerweile nach und richten sich separate Arbeitszimmer in der Wohnung ein. Dr. Gitta Scheller vom Institut für Geschichte und Theorie der Architektur der Universität Hannover ist eine der beiden Autorinnen der aktuellen Wohnstudie:

    "Das ist schon ein etwas grundlegenderer Wandel, den wir festgestellt haben. Dass also mehr Berufstätige heute als vor 20 Jahren in ihrer Wohnung arbeiten. 35 Prozent der Berufstätigen haben das in unserer Stichprobe angeben. Das heißt, es haben sogar mehr Personen als erwerbstätig sind ein Arbeitszimmer. Das kann auch damit noch zu tun haben, dass man nicht nur in der Wohnung arbeitet, sondern das jeder Haushalt – wir leiden ja alle unter der Bürokratisierung, jeder muss seine Steuererklärung machen usw. – dass also auch solche arbeitsbezogenen, aber nicht berufsarbeitsbezogenen Tätigkeiten auch im Arbeitszimmer stattfinden."

    Anstelle empfindlicher Teppichböden kommen dann robuste Fliesen dort hinein. Mit dem Arbeitszimmer wird die Wohnung zunehmend für geschäftliche Kontakte geöffnet, aber auch mehr für Freunde und Bekannte. Das wiederum verändert die Struktur der Wohnung. Es werden sogenannte "Schwellen" innerhalb der Wohnung errichtet, erklärt die Soziologin Dr. Annette Harth.

    "Also einerseits, es ist ein gewisser Widerspruch, öffnet man die Wohnung. Gleichzeitig haben wir aber festgestellt, dass die Wohnung der zentrale Ort der Intimität des Haushalts ist. Die Haushalte versuchen diesen Widerspruch auch zu lösen, indem sie sich räumlich separieren: Es werden mehr Gäste eingeladen, es gibt mehr Gäste-WCs. Man hält also seinen eigenen Intimbereich geschützt."

    Frank Bierstedt lebt mit Frau und Kind in Gravenhorst – einem sehr überschaubaren Dorf bei Braunschweig. Einsam wird es der Familie deswegen nicht. Man trifft sich gerne mit Freunden.

    "Der Bereich Küche, Wohnzimmer, Essbereich und Diele ist offen gehalten. In der Küche kochen wir oft mit Freunden. Die Leute sitzen an der Küchentheke, andere sitzen im Essbereich, der eine oder andere steht am Herd. So kann man in diesem kleinen wunderbaren Bereich gut miteinander kommunizieren und kochen und sich dabei pudelwohl fühlen."

    Regeneration, Erholung, Intimität – das sind noch immer die wesentlichen Funktionen, die ein Zuhause erfüllen muss. Da hat sich kaum etwas geändert. Auch die Möblierung - Sofa, Sitzgarnitur, niedriger Couchtisch, Dekorationsartikel drum herum – das entspricht auch heute noch dem "Basistyp" des deutschen Wohnzimmers. Es ist wie vor 20 Jahren noch immer von zentraler Bedeutung im Arrangement der Räumlichkeiten. Allerdings werden– so Dr. Gitta Scheller – heutzutage zahlreiche als nicht wohnzimmeradäquat definierte Aktivitäten quasi "ausgelagert", was aber keinen Bedeutungsverlust anzeige, sondern im Gegenteil ein Zeichen für die Spezialisierung dieses zentralen Raumes auf das Wohnerlebnis an sich sei.

    "Das gilt zum Beispiel für berufliche Arbeit. Das gilt für die Beschäftigung mit Kindern. Das gilt für hauswirtschaftliche Tätigkeiten. Dieser Wandel hat zum einen damit zu tun, dass die Menschen heutzutage mehr Räumlichkeiten zur Verfügung haben. Was wir nämlich beobachtet haben, ist eine Ausdifferenzierung der Räumlichkeiten. Und zwar nicht, was die Standardräume betrifft: die Wohnstube, das Schlafzimmer, die Küche, der Flur, das Bad. Da haben wir heute eine Vollversorgung. Hinzu gekommen sind aber verschiedene Räumlichkeiten. Zum Beispiel Wellnessräume, Hauswirtschaftsräume, Abstellräume, Hobbyräume, Werkstätten."

    In zwei von drei Wohnungen erfüllt jeder Raum einen besonderen Zweck. Das gilt natürlich auch für die Küche. Sie ist heute allerdings überwiegend Arbeitsraum, wo Dämpfe aufsteigen, Kochgerüche die Luft erfüllen, also klassische Küchenaktivitäten stattfinden. Gegessen wird häufiger woanders – meist im Wohnbereich. Damit einher geht eine Ästhetisierung des Wohnens, stellen die Wissenschaftlerinnen fest: Das Wohn-Ess-Zimmer werde durch verschiedene Strategien atmosphärisch aufgeladen, repräsentativer, ansehnlicher: Die Möbel sind kleiner als noch vor 20 Jahren. Ebenso die technischen Geräte: Flachbildschirm, hauchdünner Laptop, Mini-Hifi-Anlagen: Technik soll ihre Funktion dezent erfüllen, aber nicht mehr die Atmosphäre prägen, so das Resümee.

    Helene Derksen hat eine Eigentumswohnung. 80 Quadratmeter, gemütlich eingerichtet, werden mit Ehepartner und Kind geteilt.

    "Unser ganzes Leben spielt sich eigentlich in unserem Wohnzimmer ab. Da unsere Küche zu klein ist, haben wir hier unseren Essbereich. Unsere Computerecke. Unser Sohn hat hier seine Spielecke. Und hier ist auch der große Balkon angeschlossen, den man mitnutzen kann, und fühlen uns wohl."

    Bei aller Ästhetisierung, Individualisierung und Ausdifferenzierung unserer Wohnwelt, die natürlich auch stark mit den finanziellen Möglichkeiten ihrer Bewohner und Bewohnerinnen korrespondieren, sehen rund 30 Prozent der Befragten in ihrer Wohnung nur ein "Dach über den Kopf", das zwar gemütlich, gleichzeitig aber auch pflegeleicht und praktisch sein muss. Fazit: Die Ansprüche können sehr unterschiedlich sein. Auch das Geld entscheidet über die Zahl der Quadratmeter und über die Möglichkeiten, sich häuslich einzurichten. Umso mehr sind die Architekten gefordert, so die Autorinnen. Sie sollten den wohnsoziologischen Studien mehr Aufmerksamkeit schenken, um noch besser auf die Bedürfnisse der Menschen zu reagieren.