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Wohnungslose im Silicon Valley
Zuflucht in der Buslinie 22

Erfolgreiche Internetfirmen, gut bezahlte Mitarbeiter und Wohlstand: Dafür steht das Silicon Valley. Doch es gibt auch eine andere Seite des Tals im Südosten von San Francisco: Immer mehr Menschen können sich dort die immens gestiegenen Mieten nicht mehr leisten. Sie nutzen nachts die Busse der Linie 22 als Zufluchtsort.

Von Wolfgang Stuflesser | 29.11.2016
    Die Nachtbuslinie 22: Sie ist die einzige, die die ganze Nacht durchs Silicon Valley fährt und Wohnungslosen Nachtasyl anbietet.
    Die Nachtbuslinie 22: Sie ist die einzige, die die ganze Nacht durchs Silicon Valley fährt und Wohnungslosen Nachtasyl anbietet. (Deutschlandradio / Wolfgang Stuflesser)
    Es ist kurz vor Mitternacht, als ich in Palo Alto in den Bus Nummer 22 einsteige. Die Firmensitze von Facebook und Google sind nur ein paar Kilometer entfernt. Aber der Kontrast zu den Glas- und Stahlpalästen könnte kaum größer sein: Die hier an der Haltestelle warten, tragen zerschlissene Kissen unterm Arm, haben sich Decken über die Schultern gelegt.
    Eine typische Herbstnacht in Nordkalifornien, nicht bitterkalt, aber doch so ungemütlich, dass der von der Gebläseheizung gewärmte Bus mit seinem schummrig blauen Licht auf einmal richtig einladend wirkt.
    Der Bus fährt durch bis Santa Clara, erzählt Peggy Ureta. Man dürfe sogar im Bus schlafen, wenn man obdachlos ist - so wie sie, sagt die 57-Jährige, die aber deutlich älter aussieht. Früher hat sie mal in der nahegelegenen Chipfabrik von Intel beim Werksschutz gearbeitet, doch dann kamen gesundheitliche Probleme, sie verlor den Job, und jetzt ist sie auf Unterstützung vom Staat angewiesen.
    Bustickets statt Wohnungen
    Seit 62 Tagen verbringt sie ihre Nächte im Bus - sie hat mitgezählt. So lange wartet sie schon, dass die Wohnungsbehörde ihr eine neue Unterkunft zuweist. Das Silicon Valley hat einen der höchsten Anteile an Wohnungslosen in den gesamten USA. Und 75 Prozent von ihnen sind obdachlos, haben also noch nicht mal Platz in einer Notunterkunft. Aber sie haben Anrecht auf freie Fahrt im öffentlichen Nahverkehr.
    Der Bus ist warm, gemütlich und fährt jede Stunde zwischen 11 Uhr Abends und 5 Uhr morgens, sagt Dave White. Er selbst hat eine Wohnung und fährt gerade von der Arbeit nach Hause. Acht Stunden hat der 65-Jährige in einem Supermarkt Paletten entpackt.
    Jack White sitzt in der Linie 22 auf dem Weg zur Arbeit. Er trägt seine Arbeitskleidung der Supermarktkette "Whole Foods Market".
    Jack White sitzt in der Linie 22 auf dem Weg zur Arbeit. Er trägt seine Arbeitskleidung der Supermarktkette "Whole Foods Market". (Deutschlandradio / Wolfgang Stuflesser)
    Das könne er richtig gut, sagt er. Eigentlich ist er Grafikdesigner, kam in den 80er-Jahren aus London ins Silicon Valley. Später musste er sich um pflegebedürftige Verwandte kümmern - und diese Arbeitsjahre fehlen ihm jetzt bei der Rente - er werde arbeiten müssen, so lange er lebe, sagt er.
    Begehrter Schlafplatz
    Anderthalb Stunden braucht Dave von der Arbeit nach Hause - und nimmt den Bus sechs Tage die Woche. An die Obdachlosen, die mitfahren, hat er sich gewöhnt. Auch wenn es manchmal ganz schön brenzlig werde, wenn sich die Frierenden um die letzten Plätze im warmen Bus streiten. Der Bus sei aber nur ein Symptom, das eigentliche Problem seien die hohen Mieten und niedrigen Löhne.
    Stacey Handler-Ross redet nicht drum rum: Natürlich wisse die Valley Transportation Authority, die den Bus betreibt, dass Obdachlose ihn jede Nacht nutzen.
    "Die Leute wissen, dass sie in unseren Bussen sicher sind. Auch vor der Kälte draußen. Deshalb versuchen wir, mit der Situation so sensibel und menschlich wie möglich umzugehen."
    Seit Kurzem arbeitet die Busbehörde auch mit einer privaten Hilfsorganisation zusammen, die Streetworker nachts an die Haltestellen schickt, um mit den Fahrgästen ins Gespräch zu kommen und zu prüfen, ob es für sie nicht doch einen Weg aus der Obdachlosigkeit gibt.
    Gehälter treiben Mietpreise in die Höhe
    Stacey Handler-Ross: "Es ist ein schreckliches Problem. Lange Zeit hatte das Silicon Valley die wohl größte Zeltsiedlung von Obdachlosen in den gesamten USA. Vor einer Weile wurde sie aufgelöst, und jetzt entsteht eine neue, dort, wo Apple gerade seine neue Zentrale baut und noble High-Tech-Firmen sitzen."
    Diese Firmen zahlen hervorragende Gehälter - und genau das treibt die Wohnpreise so in die Höhe. Wäre es da so ganz undenkbar, dass sich Apple, Google und Co. auch des Problems der Obdachlosigkeit annehmen könnten?
    Stacey Handler-Ross: "Das wäre eine großartige Idee, wenn eine der Firmen auf uns zukäme. Bislang hat es das aber meines Wissens nicht gegeben."
    Nach anderthalb Stunden Fahrt erreicht der Bus die Endhaltestelle in Santa Clara - eine Frau vom Sicherheitspersonal geht durch den Wagen und schickt alle Passagiere nach draußen. Eine knappe Stunde werden sie warten müssen, bis der nächste Bus kommt. Noch drei mal fahren, dann geht die Sonne auf. Über den Firmensitzen von Apple, Facebook und Google. Und über der Haltestelle des Bus Nummer 22.