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Wole Soyinka: Die Last des Erinnerns. Was Europa Afrika schuldet - und was Afrika sich selbst schuldet

Der nigerianische Schriftsteller Wole Soyinka hat hierzulande vor allem einen Namen als Roman- und Theater-Autor. Nun stellt sich der erste afrikanische Literatur-Nobelpreisträger in Europa auch als politik- und gesellschaftskritischer Kommentator vor. In seinem Essayband "Die Last des Erinnerns" geht es um Vergangenheitsbewältigung, um Entschädigung und Versöhnung. Soyinka schreibt über koloniale Ausbeutung und Sklaverei genauso wie über Verbrechen, die von postkolonialen, afrikanischen Militärdiktaturen begangen wurden.

Kersten Knipp |
    Die Anti-Rassismus-Konferenz von Durban nahte sich ihrem Ende, da rasten am 11. September die Flugzeuge in das World-Trade-Center. Der Konferenz brachten sie den medialen Tod. Was dort verhandelt wurde, interessierte mit einem Mal niemanden mehr. Kläglich verging so auch eine Meldung, die in ruhigen Zeiten wohl ebenfalls einen echten journalistischen Knall erzeugt hätte. Nicht weniger als 777 Billiarden Dollar forderte die International and Historic African World Operation and Repatriations Conference von den ehemaligen westeuropäischen Kolonialstaaten als Entschädigung für die gewaltsame Verschleppung und Versklavung zahlloser Afrikaner. Die Summe mochte von Anfang an überzogen sein - aber nur mit einer aufsehenerregenden Summe, das war den Forderern wohl bewusst, verschafft man sich in der Spektakel-Gesellschaft überhaupt noch Gehör. Doch kaum hatten sich die Medien auf das zu erwartende Konzert offen entrüsteter, oder ironisch formulierter Ablehnung eingestimmt, da erschien mit Osama bin Laden eine spektakuläre Figur ohnegleichen auf der Weltbühne, die die gesichtslosen Sprecher dieser afrikanischen Claims-Conference im Handumdrehen in den Abgrund der Nichtbeachtung stürzte. Die Vertreter der Entschädigungsforderungen werden für ihr Anliegen daher noch einmal ganz neu trommeln müssen. Zu Hilfe kommen könnte ihnen dabei ein Mann, der sich auch bei den Nachfolgern der ehemaligen Kolonialstaaten einiger Autorität erfreut: der nigerianische Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka. Er setzt sich in seinem im Original 1999 erschienenen Buch "The Burden of Memory" - Die Last des Erinnerns - mit der Reparationsfrage auseinander und findet sie durchaus berechtigt, ..

    "Denn mit der Sklaverei ging mehr als ein in Zahlen zu fassendes menschliches Potential verloren. Der Sklavenhandel verursachte in weiten Teilen des Kontinents auch einen Bruch der organischen wirtschaftlichen Systeme. Hier handelt es sich um eine Verwerfung, die später (...) verschlimmert wurde; diese Verwerfung muss - zumindest in Teilen - zweifellos für die geradezu unüberwindlichen Probleme des Kontinents heutzutage verantwortlich gemacht werden. War die "Aufteilung Afrikas" durch die imperialen Mächte lediglich eine geographische Vergewaltigung des Rechts eines Volkes, seine Ich-Werdung als Nation zu verwirklichen? Dies kann nur dann gelten, wenn wir weiterhin im Glauben beharren, dass die politische Instabilität innerhalb der sogenannten Nationen, die heute die Gesamtheit des Kontinents darstellen, rein gar nichts mit der Künstlichkeit, der schreienden Unlogik ihrer Grenzen zu tun habe."

    Und wirklich gehören die tragisch-kuriosen afrikanischen Grenzziehungen noch immer zu einem der größten Probleme des zeitgenössischen Afrikas. Ruanda war nur das spektakulärste Beispiel eines Landes, in dem Bevölkerungsgruppen aufeinander losgingen, die besser längst getrennte Wege gegangen wären. Der religiöse Konflikt im Sudan fordert zahllose Menschenleben. In Somalia ließen konkurrierende Klan-Verbände die gesamte staatliche Ordnung zusammenbrechen. Und wie lange Soyinkas Heimatland Nigeria seine muslimischen und christlichen Bevölkerungsgruppen noch in einem Staat wird zusammenspannen können, ist nach wie vor ein offenes Problem. Die UN sollte sich fragen, inwieweit ihr Ideal eines multiethnischen oder multikulturellen Zusammenlebens in Afrika eigentlich Bestand hat. Um den Kontinent dauerhaft zu befrieden, ist es nach Soyinka darum an der Zeit, sich deren kolonialgeschichtlichen Hintergrund bewusst zu machen.

    "Wenn doch die afrikanischen Führer sich endlich einmal (...) vor Augen führen könnten, wie viel die Teilung Indiens und Pakistans (...) lediglich den launenhaften Entscheidungen irgendeines direkt aus Whitehall importierten Kolonialbeamten zu verdanken war, jemandem, der bis dahin den asiatischen Kontinent nicht ein einziges Mal besucht hatte, der aber wegen seiner "objektiven" Distanz ausgewählt worden war, die just diese Ignoranz ihm angeblich verlieh; ihm wurde dann eine Frist von gerade einmal 28 Tagen gegeben, um seine Aufgabe zu vollenden, um also sicherzustellen, dass der Kontinent vor dem Unabhängigkeitstag tatsächlich geteilt wäre - wenn sie sich dies einmal vor Augen führen, dann würden diese afrikanischen Führer und ihre Claqueure lernen, in Bezug auf die Behauptungen "nationaler Souveranität" weniger unverschämt-frech zu sein. Ein Großteil der Aufteilung Afrikas verdankte einer Kiste Brandy oder einer Schachtel Zigaretten mehr, als den überlieferten Behauptungen bezüglich dessen, was diese Grenzen umschlossen."

    Man merkt: Soyinka widersteht der Versuchung, die bis heute bestehenden Missstände ausschließlich auf das Konto der europäischen Eroberer zu schieben. Die in dieser Passage nur nebenbei geäußerte Kritik an den afrikanischen Staatslenkern ist durchgängiger Teil des Buches. Wenn Soyinka Wiedergutmachung für das von den europäischen Kolonialstaaten begangene Unrecht fordert, dann ist er deshalb keineswegs blind für die von afrikanischen Politikern selbst zu verantwortenden Missstände. Allerdings weigert er sich, sie losgelöst vom historischen Hintergrund des Kolonialismus zu betrachten. Für dessen Willkür Reparationen einzufordern, scheint ihm deshalb auch dann angebracht, wenn sie schon lange zurückliegen. Doch wie ließe sich die Wiedergutmachung praktisch ins Werk setzen? Soyinka bietet zweierlei an. Erstens: Rückgabe der von den Kolonialmächten geraubten Kunstschätze. Und zweitens:

    "Ich habe einmal vorgeschlagen, die versklavenden Nationen sollten einfach die Schulden Afrikas erlassen, und wir würden im Gegenzug die nicht in Zahlen zu bemessende Ungerechtigkeit erlassen, die dieser Welt durch die heutigen Nutznießer des Sklavenhandels angetan wurde."

    Sein Vorschlag, führt Soyinka im unmittelbaren Anschluss aus, habe bei den Geschäftsführern der Weltbank keinen besonderen Eindruck gemacht. Das glaubt man gerne, zumal Soyinkas Vorschlag, wie er selbst eingesteht, ..

    "die Unvorsichtigen unter den afrikanischen Nationen profitieren ließe, während er gleichzeitig die wirtschaftlich Klugen benachteiligte."

    Und doch: Solange Afrika seiner größtenteils horrenden wirtschaftlichen Situation nicht aus eigener Kraft Herr wird, werden ihm die entwickelten Länder dabei behilflich sein müssen. Dieser Wunsch, bislang vornehmlich von frommen Kirchentagsbesuchern geäußert, erhielt am 11. September, dem Tag der Anschläge in New York, auch eine verschärfte realpolitische Akzentuierung: Denn von nun an muss die Welt zusammenwachsen gegen den Terror, vor allem aber gegen die Umstände, die ihn überhaupt haben entstehen lassen. Dazu gehört erstens die skandalöse Armut in weiten Teilen der Welt und zweitens eine bisweilen mit zweierlei Augenmaß, um nicht zu sagen, offen ungerecht betriebene Außenpolitik der führenden Weltmächte. Betrachtet man mit Soyinka die afrikanische Gegenwart und Geschichte unter diesem Aspekt, kann man sich nur wundern, wie wenig vehement derartige Forderungen von afrikanischer Seite bislang vorgetragen wurden.

    Wole Soyinka: Die Last des Erinnerns. Was Europa Afrika schuldet - und was Afrika sich selbst schuldet. Patmos-Verlag Düsseldorf. 150 Seiten. Preis: DM 29,80.