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''Wolf''

Alain Platels "Wolf"-Projekt ist in gewisser Weise ebenfalls eine Mai-Kundgebung. Real und aufrührerisch. Die erste der musiktheatralischen "Kreationen" der Ruhr-Triennale begibt sich auf eine Spurensuche – wo finden wir Wolfgang Amadeus Mozart heute, wie weit kann man mit ihm gehen. Im Titel "Wolf" bereits zeigt sich ambivalente Spannung: das Niedliche des österreichischen Wolferl und das bedrohlich Unzähmbare des bösen Wolfs. Zweierlei klingt mit: Freiheit und Zwang, Gleichheit und Differenz, Brüderlichkeit und Feindseligkeit. Der 44jährige Choreograph und Regisseur aus Gent versteht in seiner hinreißenden Aufführung in der Duisburger Kraftzentrale die Ideale der Französischen Revolution nicht pathetisch, sondern im Sinne von Mozarts demokratischer Bürgerreligion ganz konkret. Zur beglückenden Anschauung kommt in dem sozialen und erotischen Divertimento, was Ivan Nagel Mozarts "Sympathie für den mittleren Menschen" nennt. Rokoko-Rüschen werden gewendet zum Alltagsdress für Außenseiter und die Sonderfälle des Lebens. Der Kunst- als Illusionsraum ist weit aufgestoßen.

Von Andreas Wilink |
    Schon die Bühne birgt die Atmosphäre von freier Szene. Im doppelgeschossigen Plattenbau Bert Neumanns treffen sich Gartenlaube, DJ-Station, Karaoke-Café, WG und Zwinger: integrativ und offen für alles. Das Haus nimmt die United Colours des Ensembles auf. Von der Empore – dort sitzt das vorzügliche Klangforum Wien unter Sylvain Cambreling - lässt sich wie auf ein Spielfeld herabblicken, wo eine jugendliche Gang herumtollt: Der homo ludens, der spielende Mensch, verteilt sich auf drei Sängerinnen (wie ja so oft in Mozarts Opern), auf zwölf Tänzer und ein Rudel Hunde. Doch kommt Mozart keineswegs auf den Hund.

    Platels Theater ist brutal, sensibel und spirituell, dynamisch und artistisch himmelstürmend. Es entwickelt sich schlicht aus dem Geist der Toleranz. Einfache Kontraste des assoziativen Happenings lenken den Energiestrom der Aufführung. Themen sind Angst und Beklemmung, nationale Identität, existenzielle Konflikte. Und Befreiungsversuche aus all dem.

    Zum Adagio aus dem Klarinettenkonzert KV 622 etwa tänzelt ein Mister Bojangles und legt nach und nach seine Kleider ab. In diesem work out lockert, probiert und lacht er sich aus, macht sich tierisch frei und löst sich von zivilisatorischen Zwängen. Zwei Akteure im Hintergrund übertragen den Rhythmus der Musik pantomimisch, ein anderer setzt ihn in Gebärdensprache fort. So komponiert Platel eine Art unendlicher Melodie – der Muskeln, der Sinnesorgane, des Körpers mit seinen Schrittfolgen oder nur einem Fingerschnippen, ja, der Kreatur überhaupt. "Wolf" schafft den Transfer des Erhabenen ins heiter Humane, in die Komik des Sexuellen und Orgiastischen, ohne trivial oder banal zu werden.

    Die Gruppe reiht sich öfter zur Formation, folgt dem Takt des eigenen Pulsschlags. In einer Szene begibt sie sich unter die Leitkultur der "Internationale" und ihrer Nationalhymnen – bis zur Revolte. Die Darsteller, wahre Psychoakrobaten, hüllen sich dabei in die Flaggen-Tücher, werfen sich offensiv und selbstbewusst in ausgelassene, zweckfrei scheinende Siegerposen. Oft spüren wir in heftigen Entladungen Gewalt, Drill, auch züngelnde Erotik. Als würde Druck ausgeübt, Hochleistung zu erbringen.

    Die Deformationen aber können gesunden. Auf das Chaos der Zustandsbeschreibungen unserer Welt reagieren anmutig Duette und Arien, vor allem aus dem "Figaro" und "Cosi fan tutte". Es sind lyrische Oasen in den nachtdunklen Verwüstungen des menschlichen Miteinanders. Alain Platel hat übrigens Heilpädagogik studiert.

    "Wolf" ist ein wunderbares Herz-Muskel-Training. Die Compagnie legt die Hand aufs Herz, wenn Pamina ihr "Ach, ich fühl’s" aus der "Zauberflöte" singt. Und bildet so diese todeswehe Liebesarie wie auf einer Skala von Tonfrequenzen ab. Während des Gesangs überlässt sich die Gruppe meditativ innigen Übungen, bis eine Salve sie niedermäht und alle sich in einer slow motion Choreografie entfernen. Das stets Dialogische von Mozarts Musik - intensiv gerade dadurch, dass es aus dem opernhaften Kontext gelöst ist - schwebt in den 20 ausgewählten Stücken über allem: als Lächeln, Leid und Melancholie. Die Frage, wie weit man mit Mozart gehen kann, lässt sich beantworten: Ein Ziel sollte unbedingt in Duisburg "Wolf" sein.

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