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Wolfgang Benz (Hrsg.): Jahrbuchs für Antisemitismusforschung, Band 11

Im Februar 1943 zogen Hitlers treueste Anhänger durch Berlin und forderten, dass ihre Hauptstadt endlich judenfrei sein möge. Und dann geschieht das Unerhörte: Eine Woche lang demonstrieren in der Rosenstraße nichtjüdische deutsche Frauen gegen die drohende Deportation ihrer jüdischen Ehemänner. Das ist ein Stoff, aus dem Filme entstehen, und es wundert, dass Margarethe von Trotta ihn erst jetzt für eine Heldensaga entdeckt hat. Der legendäre Protest in der Rosenstraße ist auch einer der Schwerpunkte in der jüngsten Ausgabe des von Wolfgang Benz herausgegebenen Jahrbuchs für Antisemitismusforschung.

Matthias Strässner |
    Wie in jedem Jahr beackert auch Band 11 des "Jahrbuchs für Antisemitismus-Forschung" ein weites Feld: Gleich drei Essays gelten der Debatte über Antisemitismus im Kontext des letzten Walser-Romans um den Großkritiker Ehrl-König alias Reich-Ranicki. Ein anderer Beitrag gilt der Originalfassung von Jakob Littners "Aufzeichnungen aus einem Erdloch" und dem "Plagiatskandal", in den viele jetzt Wolfgang Koeppen verwickelt sehen, und schließlich geht es um den Aufstand in der Berliner Rosenstraße. Zeitweilig standen die "Frauen von der Rosenstraße" als Ikonen des Widerstands gleichwertig neben Bischof Galen und dessen Protest gegen die "Euthanasie". Der amerikanische Historiker Nathan Stoltzfus hat ihnen ein ganzes Buch gewidmet, das unter dem Titel "Widerstand des Herzens. Der Aufstand der Berliner Frauen in der Rosenstraße 1943" auch als Taschenbuch erschienen ist. Und Margarethe von Trottas Film über die "Rosenstraße" soll im Herbst in die Kinos kommen.

    Das "Jahrbuch für Antisemitismusforschung" geht gleich in zwei Beiträgen auf dieses Ereignis ein: Wolf Gruner schreibt über "Fakten und Fiktionen um den 27. Februar 1943", und Beate Meyer betrachtet die Inhaftierung der "jüdisch Versippten" in der Berliner Rosenstraße im Spiegel staatsanwaltlicher Zeugenvernehmungen in der DDR.

    Es kann keinen Zweifel geben, das die Menschen, die an den Protesten in der Rosenstraße teilnahmen, in besonderer Weise Zivilcourage zeigten. Aber es gibt neue Dokumente, die Wolf Gruner gefunden hat, die eine Neubewertung der sog. Fabrikaktion und der Proteste in der Rosenstraße möglich machen. Im Gegensatz zu Nathan Stoltzfus und anderen Arbeiten zum Thema,...

    ...die sich meist allein auf viele Jahre später abgefasste Berichte von Überlebenden stützten, werden zur Rekonstruktion der Fabrikaktion und der Internierung in der Rosenstraße bislang unbeachtete Dokumente der Gestapo, der Schutzpolizei, jüdischer Einrichtungen und der Katholischen Kirche herangezogen.

    Aus diesen Dokumenten geht hervor, dass das Reichssicherheitshauptamt die Juden aus "Mischehen" nicht abtransportieren wollte, sondern anderes vorhatte: Aus diesem Kreis der privilegierten Juden sollte das neue Personal rekrutiert werden, das für die Verwaltung verbliebener jüdischer Einrichtungen in Berlin nötig war. Zu diesen Einrichtungen gehörte insbesondere das Verwaltungspersonal der Jüdischen Gemeinde und das Personal des angeschlossenen Krankenhauses. Die "Mischjuden" - um es in der Sprache der damaligen Zeit zu sagen - sollten also "Volljuden" ersetzen. Die Überlegungen zielten also mehr auf eine Personal-Verschiebung, an deren Ende die Entfernung von Volljuden stehen sollte, als auf Sanktionen gegen die "Mischjuden". Und die Deportationen von sogenannten "Volljuden" erreichte im März 1943 tatsächlich ihren Höhepunkt.

    Die Deportation der Juden aus 'Mischehen’ sollte demnach weder in Berlin ihren Anfang nehmen, noch war Goebbels für deren Internierung in der Rosenstraße oder deren Entlassung verantwortlich. Auch ist kein Deportationsplan wegen der Proteste der Angehörigen in der Rosenstraße aufgegeben worden.

    Der Aufsatz von Wolf Gruner erfährt durch Beate Meyer eine interessante Ergänzung. Im Mai 1963 führten Staatsanwälte der DDR Zeugenvernehmungen besonderer Art durch: Vorladungen waren an Juden ergangen, die ihre Leidens- und Verfolgungserfahrungen während der NS-Zeit schildern sollten. Angespornt durch das weltweite Echo auf den Prozess gegen Adolf Eichmann, interessierte sich die DDR ab 1960 plötzlich deutlicher für Holocaust und Antisemitismus, als dies bislang der Fall gewesen war. Ziel war insbesondere die Belastung von Hans Globke, Staatssekretär im Bundeskanzleramt unter Konrad Adenauer, nach dem Motto: "Globke ist der Eichmann Bonns." Von der Fabrikation berichten in diesen Befragungen immerhin 110 Personen, zum Teil auch sehr ausführlich. Beate Meyer stützt ausdrücklich den Artikel von Wolf Gruner: die Auswertungsergebnisse weisen darauf hin, dass die Freilassung der in der Rosenstraße Inhaftierten von vornherein geplant war:

    Wenn den in 'Mischehe’ Lebenden das gleiche Schicksal wie den 'volljüdischen’ Mithäftlingen zugedacht gewesen wäre, (dann) hätte nicht in allen Sammellagern nach 'Mischehen’ und 'Klärungsfällen’ gesucht werden müssen und es wäre nicht notwendig gewesen, die Betroffenen in der Rosenstraße zu konzentrieren - kurz: die zeit- und arbeitsintensive 'Sortierung’, 'Registrierung’ und die akribische Überprüfung der persönlichen Verhältnisse hätte in diesem Fall keinen Sinn gehabt.

    Die Bedeutung der beiden Aufsätze liegt nur zum einen in der Klarstellung der historischen Faktenlage. Beide Aufsätze sind auch Beschreibungen von "Erinnerungskultur". So etwa, wenn ein Vorgeladener sich 1963 an keine große Protestaktion erinnern konnte, diese aber 1999 deutlich beschreibt:

    Es muss an dieser Stelle offen bleiben, ob die Erinnerung dieses Vorgeladenen, der später als einer der ausgewählten Zeugen im Schauprozess gegen Globke auftrat, durch die in den neunziger Jahren erlangte Publizität der Proteste nur geschärft oder umgeformt worden ist,...

    ...schreibt Beate Meyer. Der Wert der Untersuchungen liegt schließlich auch in der Möglichkeit, frühere Zeit-Zeugnisse jetzt neu bewerten zu können. So wird man etwa das emphatische Nachkriegstagebuch "Der Schattenmann" von Ruth Andreas-Friedrich auch in diesem Punkt etwas distanzierter sehen müssen. Der Protest in der Rosenstraße zeugt vom Mut vieler Menschen, die von den tatsächlichen Absichten der Aktion, zumindest was die Mischjuden betrifft, nichts wissen konnten. Er kann aber nicht als Beweis für die These dienen, die etwa Nathan Stoltzfus vehement vertritt, dass ein mutigerer Protest auch in anderen Fällen Deportation und Vernichtung jüdischer Mitbürger hätte verhindern können. Die Freilassung der "Mischjuden" in der Rosenstrasse verdankt sich, wie man nach den Aufsätzen von Wolf Gruner und Beate Meyer deutlich sehen kann, dem bösen Willen zur letzten Re-Organisation im Bereich der Opfer und nicht etwa dem durch Protest gebrochenen Willen der Täter.