Wolfgang Engler:
In der Tat ist das Bürgergeld in zwei durchaus verschiedenen Versionen Mitte der 60er Jahre konzipiert worden. Einmal auf einer durchaus neoliberalen Grundlage, Ökonomen wie Milton Friedmann haben sich dafür stark gemacht. Da gibt es einem zu denken, und da ist die Idee jene, die die FDP jetzt auch hat. Das ist dann nicht sehr verschieden von dem, was wir mit dem Arbeitslosengeld II haben. Die Idee ist, dass wir das alles rationalisieren, da gibt es Geld dafür, da gibt es einen Wohnzuschuss, und vielleicht gibt es noch Sonderleistungen, dass man das alles summiert und von einer Stelle auszahlt, und dann hat sich die Sache. Dann sparen wir bürokratischen Aufwand, die Leute müssen auch nicht drei, vier Stellen abklappern und Anträge schreiben, und dann nennen wir das ein Bürgergeld, wobei die dahinter liegende Annahme immer die ist, dass man das so niedrig ansetzt, dass die Menschen dringlichst nach Arbeit verlangen, was dann wirklich sehr schwierig ist, denn wenn ich auf einem gewissen Maß gesichert bin, aber trotzdem die Not verspüre zu arbeiten, dann bedrohe ich natürlich die Arbeitsverhältnisse derer, die ohnehin schon am Arbeitsmarkt tätig sind, vielleicht auch in prekären Verhältnissen beschäftigt sind, also schwierig. Das wäre nicht die Variante, die ich bevorzuge. In der Tat, es wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen, wenn man das so nennen darf, und der Unterschied läge für mich weniger in der Höhe. Ich glaube nicht, dass dieses Bürgergeld auf Üppigkeit bestimmt wäre. Ich würde sogar vermuten, dass es sich in der Nähe, vielleicht etwas darüber liegend, des jetzigen Arbeitslosengeldes II bewegt. Denn das führt zu Finanzierungsproblemen, wenn man das sehr hoch anlegt, und wir wissen alle, wie schwierig das ist. Aber der Unterschied wäre zweierlei: Abgesehen von dem Offenbarungseid, den man da leisten muss als Empfänger von Arbeitslosengeld II, sich auch dem Wohl und Wehe der Ämter zu fügen, die in private Verhältnisse hinein schauen und hinein regieren. Wer lebt mit wem auf welchem Fuß und all solche Dinge. Abgesehen davon, schlösse für mich ein wirkliches Bürgergeld, das den Bürger aktiv hält, auch wenn er nicht arbeitet, den Zugang zur Kultur ein. Das wäre nichts, was man ihm auszahlen würde, aber es wären Portale, die man ihm öffnen würde, insofern er für wenig Geld oder unentgeltlich ins Theater gehen könnte, in Museen gehen könnte, Ausstellungen anderer Orte besuchen könnte, Diskussionen, soweit sie Geld kosten, besuchen könnte. Also ein aktiver Teil der Bürgergesellschaft bleibt doch im Augenblick enorm schwer, also die Bundesagentur für Arbeit rechnet ja dieses Arbeitslosengeld II herunter, dann gibt es einzelne Bedarfe. Der Bedarf etwa für Kultur täglich liegt bei 1 Euro, das führt natürlich zu nichts. Das führt nicht mal zu einer guten Zeitung. Und wenn ich mal eine Woche über spare, komme ich vielleicht ins Kino. Aber ich habe noch nichts gesehen, was Kultur im engeren Sinne des Wortes ist. Das ist eine soziale Grundsicherung, mit der man leben kann, wie gesagt, nicht üppig, nicht luxuriös, plus einer Teilhabe an Kultur minus einer Demütigung und Beschämung durch Ämter und Bürokratie wäre für mich im Grunde das Bürgergeld.
Hermann Theißen:
Wenn ich Sie richtig verstehe, will das Bürgergeld ja mehr. Es soll sozusagen eine alternative Lebensform ermöglichen, es soll ermöglichen eine freie Entscheidung: Ich gehe nicht in dieses System von Erwerbsarbeit, sondern strukturiere meinen Tag anders und bin materiell abgesichert. Wie kommen Sie zu der Annahme, dass durch dieses Bürgergeld eine andere Differenzierung stattfindet, als sie heute stattfindet? Finden sich nicht nachher doch wieder diejenigen in dem Bereich von Bürgergeld, die einfach aus dem Arbeitsmarkt rausgedrängt worden sind?
Wolfgang Engler:
Ja, klar, es ist die Ausgangsidee, dass Menschen, die ihre Arbeit verlieren, ja wahrscheinlich schon viel verloren haben und nicht noch zusätzlich in Not geraten sollten. Aber das sollte nicht alles sein, finde ich. Da gibt es auch Differenzen zu anderen Autoren, die sich lange mit der Frage auseinander gesetzt haben, etwa zu André Gorz, der vielleicht der Vordenker überhaupt dieser Problematik ist und es auch in verschiedenen Varianten selber durchdacht hat, bis er zu der Idee einer bedingungslosen Grundsicherung kam. Aber dahinter steckt auch bei Gorz, finde ich, ein Optimismus, der mir übertrieben scheint, den ich nicht teile, nämlich zu sagen: Gebt den Leuten ein Geld, mit dem sie leben können. Dann ist noch immer nicht die Finanzierung geklärt. Gebt es ihnen. Befreit sie von existentiellen Ängsten, die nicht nötig sind, und dann werden sie von sich aus frei genug werden, sich sozial und kulturell zu betätigen, mit sich und anderen was anzufangen. Das kann so sein, muss aber nicht so sein. Und das wird umso weniger bei Menschen der Fall sein, die – man sieht sie, man kennt sie – vielleicht 45, 50, 55 Jahre sind, also durch die Lohnarbeitsgesellschaft hindurch gegangen sind, ausgemustert wurden, unfreiwillig, aber eigentlich an ein Leben mit Arbeit gewohnt sind, und denen man jetzt sagen soll: Krempele mal dein Leben um und sei ein aktiver Bürger. Nimm an Kultur teil, interessiere dich politisch, mach was mit anderen, stell was auf die Beine. Das wäre wahrscheinlich zynisch doch für diese Menschen, scheint mir ein menschenwürdiges Leben bereits viel, wenn es möglich ist. Aber für die anderen und auch für die Zukunft ist es, glaube ich, sehr viel wichtiger, dass man diese materielle Komponente durch eine kulturelle ergänzt, d.h. dass Menschen zeitig, von Kindesbeinen, wenn es gelingt, darauf vorbereitet werden, ein Leben wenigstens unter zwei Gesichtspunkten zu führen, eines mit Arbeit, dass es seine hauptsächliche Erfüllung im Beruf findet, wenn es gut geht, die aber auch imstande sind, sich Motive zu geben, Interessen zu formulieren mit anderen Unternehmungen bürgergesellschaftlicher oder anderer Art herzustellen, wenn das Leben nicht um Arbeit kreist oder wenn Arbeit, wie das heute doch so oft ist, prekär ist, wenn sie Episode ist, die mal kommt und mal geht und das Leben nicht von innen zusammen bindet. Da sagen unsere kulturellen Institutionen, die schulischen und anderen, heute den Menschen eigentlich sehr wenig für den Fall, dass sie heraus fallen oder gar nicht erst hinein finden, was vielleicht noch viel schwieriger ist. Dann stellt sich die Frage, wie unterscheide ich das alles selber, früher und später, wichtig und unwichtig, was muss ich im Augenblick tun, was kann warten. Was ist von Belang, was weniger? Wie organisiere ich ein Zeitregime, das wenigstens grob zwischen morgens, mittags und abends unterscheidet, wenn das nicht durch Arbeit bereits hergestellt ist? Wie finde ich soziale Kontakte, die ja fast eine Gratisgabe der Arbeit sind, oder wie komme ich da zu Anregungen, die vielleicht sonst im Arbeitsprozess lägen, um mich weiterzubilden, mich für Dinge außerhalb der Arbeit zu interessieren und mit Kollegen was gemeinsam zu unternehmen, wie knüpfe ich diese sozialen Netze auch in kultureller und in anderer, in sportlicher Hinsicht. Das alles muss ich plötzlich selber tun, und man ist da oft, finde ich, sehr unberaten, sehr auf sich alleine gestellt, und das ist dann eine Frage von Lebenskunst, ja oder nein, also des Naturells des Zufalls. Damit kann man sich, glaube ich, nicht wirklich zufrieden geben.
Hermann Theißen:
Gut, das sind jetzt ganz viele wichtigen Fragen, aber interessant wären sozusagen die Antworten. Ich will mal anders ansetzen. Das haben Sie ja gerade angedeutet. Sie verbinden in Ihrem Buch ökonomische Aspekte mit psychologischen, soziologischen, historischen, kulturellen und - das ist ja auch in der Kritik häufig beschrieben worden - bringen den Leser in ein Labyrinth. Um in dieses Labyrinth reinzukommen, versuchen wir es mal konkret. Sie erwähnen unter anderem ein sozialistisches Musterdorf in der ehemaligen DDR, Messlin heißt der Ort, er liegt in Mecklenburg und unterscheidet sich dadurch von vergleichbaren Dörfern, wenn ich das richtig verstehe, dass die Verödung und Abwanderung nicht in dem Maße stattgefunden hat, wie das in vergleichbaren Dörfern der Fall war. Was war anders in diesem Ort Messlin, was hat man anders gemacht?
Wolfgang Engler:
Zunächst hat man auf dasselbe Pferd gesetzt, wie das in vielen anderen Orten und Landschaften auch ist. Man dachte, nachdem die Arbeit wegbrach - das war in dem Fall weitestgehend die landwirtschaftliche Produktion - und nur noch ein paar Leute dort beschäftigt waren, wo früher Hunderte arbeiteten, dachte man: Gut, was tun wir jetzt? Jetzt versuchen wir mal eine Zweitverwertung der Landschaft unter touristischen Gesichtspunkten. Nun eignen sich aber nicht alle Orte und Landschaften dazu, und der gehörte auch dazu, das wurde also nichts. Man versuchte Mittel von der Europäischen Gemeinschaft bis zum Land herunter dafür zur Verfügung zu stellen, aber das scheiterte insgesamt. Und es verfiel das öffentliche Leben, das gesellige Leben verfiel. Ein Kulturhaus, konzipiert für den Besuch von Menschen aus der ganzen Umgegend, verfiel langsam, es hatte inzwischen einen Investor, der sich der Sache aber nicht annahm. Kurzum, das soziale Leben lag danieder wie in den meisten ostdeutschen Regionen auch, von ganz wenigen abgesehen. Und dann hatten die Leute offenbar genug, sie hatten einen neuen Bürgermeister, der aber schon mit einem Programm antrat, nämlich nicht Belebung von außen, sondern von innen, und der scheinbar geringfügige, kleinliche Begebenheiten zum Anlass nahm, das gesellige Leben im Dorf zunächst zu erneuern. Also wenn eine neue Feuerwehr in Dienst gestellt wurde, dann war das Gelegenheit für ein öffentliches Begängnis und für ein Fest, oder wenn die wenigen Schüler, die noch da waren, die Schule verließen oder wenn sie eintraten oder wenn es denn noch eine Ernte zu feiern gab, ein Erntedankfest oder dergleichen. D.h., es wurde ein städtischer oder dörflicher Festkalender ins Leben gerufen, der den Leuten überhaupt wieder ermöglichte, mal raus zu gehen, sich mit anderen zu treffen. Weil oft genug ist dann auch die letzte Kneipe zu in einem solchen Dorf oder in einer kleinen Stadt. Und man fasste wieder Interesse für einander. Dann wurde die Sache systematisch. Jetzt beantragte man Geld, um das Kulturhaus wieder herzustellen und auch kulturelle Veranstaltungen stattfinden zu lassen. Das haben die mit viel Geschick gemacht, also wirklich Geld von der Europäischen Gemeinschaft, über die Bundesrepublik, über den Staat im Ganzen, das Land, es wurden Fördermaßnahmen, wo immer das ging, hergestellt, und wenn man da jetzt hinfährt, sieht man, verglichen mit dem, was vor zehn oder fünf Jahren da war, also wirklich eine müde Gemeinschaft, sieht man Leute, die den Kopf wieder einigermaßen hoch halten, die, wenn sie schon weiter nichts haben, doch sich selber haben, also an sich selber Interesse fassen können und auch müssen. Wenn irgendwie Leben ins Leben kommen soll. Das verhindert nicht, dass junge Leute auf der Suche nach Lehrstellen und Arbeit weiterhin abwandern, aber sie tun es nicht im selben Maße wie anderswo, und das scheint mir eine viel interessantere Art, als auf ein Wunder von oben zu hoffen oder auf einen Touristenstrom, der demnächst kommt. Dann wird das alles nichts. Von sich aus als eine Gruppe von Menschen etwas zu machen, das finde ich sehr ermutigend, und das ist nicht der einzige Fall. Also ich finde, wir haben in letzter Zeit mehrere solch ermutigender Fälle.
Hermann Theißen:
Das hört sich jetzt mehr so an, als würde Ihr Plädoyer zielen auf die Anregung von Selbsthilfegruppen und nicht auf die Umgestaltung der Gesellschaft.
Wolfgang Engler:
Klar, diese Form des sich am eigenen Schopfe aus diesen Schwierigkeiten Herausziehens hat ja viel damit zu tun, dass sie weder gesellschaftliche noch politische Unterstützung hat. Also gesellschaftlich sind wir noch immer eingerichtet auf eine allerdings, glaube ich, gar nicht mehr statthabende Normalität des Erwerbs- und Arbeitslebens, und entsprechend urteilen wir auch sozial-moralisch über Menschen, die aus der Arbeit ausgeschlossen sind, gezwungenermaßen in der Regel. Das heißt die, die draußen sind, lesen in den Augen der anderen, die drinnen sind, einen peinlichen oder offenen Vorwurf. Das ist nicht gerade ermutigend, was anzupacken, weil man sich gar nicht berechtigt fühlt, aktiv zu werden, wenn man nicht arbeitet. Und auf der anderen Seite gibt es so gut wie keine politische Unterstützung. Also wir sind ja weit davon entfernt, eine Grundsicherung auch nur zu diskutieren ernstlich, geschweige denn, sie gesetzlich einzuführen oder uns den kulturellen Problemen zu stellen und zu fragen: Wie müssten unsere Kindertagesstätten und Schulen funktionieren, welche Aufgaben hätten die Elternhäuser in der Heranziehung einer künftigen Generation, für die das vielleicht ein noch größeres Problem als für uns darstellt. Aber wenn man sich solche Flankierungen vorstellen würde, wenn wir eine andere politische Orientierung hätten, die die Menschen auch davon abhält, die Mehrheit davon abhält, auf die Minderheit hochnäsig herabzuschauen, und wenn sich diese Mehrheit vielleicht noch mehr als heute daran gewöhnt, dass das, was die Minderheit ihnen vorlebt, ihre eigene Zukunft sein könnte, und das merkt man langsam, dass die Beunruhigung bis in die Mittelschichten vordringt. Jedenfalls ich merke das sehr häufig auf Debatten, die so vor vier, fünf Jahren noch nicht stattgefunden hätten, glaube ich, auch im Westen Deutschlands, mit einem eigentlich ganz gut situierten bürgerlichen Publikum, was zu Diskussionen kommt und sich dann aber schon in der eigenen Vorstellung eine Zukunft auszumalen vermag, die doch ziemlich unsicher ist, der das alles abbrechen kann und weg brechen kann. Klar, insofern sind wir ja derweil noch mit Bastelprozessen aus dem eigenen Werkzeugkasten und im kleinen Maßstab und Umfang konfrontiert, und das andere lässt auf sich warten, aber es wird nicht ewig auf sich warten lassen können, wenn nicht Millionen von Menschen zum Unglück verurteilt werden sollen.
Soweit Wolfgang Engler. Seine Studie "Bürger, ohne Arbeit – Für eine radikale Neugestaltung der Gesellschaft" ist erschienen im Berliner Aufbau Verlag. Sie umfasst 416 Seiten und kostet 19,90 Euro.