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Wolfgang Günter Lerch: Der Islam in der Moderne. Aspekte einer Weltreligion

Das gegenwärtige Bild des Islam wird fast nur noch von den Dschihadisten und jenen Islamisten geprägt, die den Terrorismus von al Qaida religiös legitimieren, das heißt ideologisch begründen wollen.

Von Jasper Barenberg | 07.02.2005
    Das schrieb, mit dem Ausdruck des Bedauerns, der Journalist und Autor Wolfgang Günter Lerch kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dort ist er seit vielen Jahren für den Bereich Nordafrika und Nahost zuständig – ein profunder Kenner der Region. Seine Analysen sind dem Anspruch verpflichtet, ein differenziertes Bild der islamischen Welt zu vermitteln, eines, das Abstand nimmt von einseitiger Harmonisierung wie auch von einseitiger Verteufelung. Von diesem Geist ist auch Lerchs jüngste Buchveröffentlichung getragen. "Der Islam in der Moderne - Aspekte einer Weltreligion". Unser Rezensent ist Jasper Barenberg:

    Ist der Islam eine gewalttätige Religion? Sind Islam und Demokratie westlicher Prägung überhaupt miteinander vereinbar? Im langen Schatten der Anschläge vom 11. September 2001, angesichts der andauernden terroristischen Gewalt militanter Islamisten und im Lichte des umstrittenen Krieges gegen den Irak Saddam Husseins und seiner Folgen sind Fragen dieser Art oft aufgeworfen und auf vielfältige Weise diskutiert worden. Sie beschäftigen auch Wolfgang Günter Lerch in seinen acht knappen Essays. Allerdings hütet er sich vor allzu schlichten Antworten. Weder nährt er die Hoffnung, im Prozess der islamischen Zivilisation könnten sich Religion und Moderne umstandslos versöhnen. Noch schließt er eine Vereinbarkeit kategorisch aus. Ein anderer Gedanke durchzieht die 135 Seiten des Buches wie einen roten Faden: Dass eine Verständigung, so notwendig und wünschenswert sie ist, überhaupt nur gelingen kann, wenn beide Seiten überkommene Feindbilder und Vorurteile überwinden.

    Wir haben, glaube ich, hier im Westen immer noch nicht verstanden, dass der Islam eine große Weltreligion und Weltkultur aus eigenem Recht ist, die ihre eigene Weltsicht in Anspruch nimmt – eine Weltsicht, die eben zum Teil auch abweicht von unserer. Und wir "Westler" sind immer noch nicht ganz frei von der Vorstellung, dass eigentlich alles sich um uns dreht und dass die anderen, außerwestlichen Kulturen, zu denen der Islam gehört, so etwas sind wie Anhängsel.

    Wie stark unser Islambild historisch belastet und bis heute verzerrt ist, illustriert Lerch anhand einer ganzen Reihe von Beispielen. Dem Erbe des Mittelalters etwa, als der Islam dem Christentum über Jahrhunderte schlicht als Ketzerei galt. Das Zeitalter der europäischen Aufklärung und Säkularisierung hat diesen Topos zwar abgeschwächt, dafür aber eine neue, nunmehr politisch gewendete und bis in die Gegenwart wirkende Herabsetzung geboren.

    Der Westen hielt (..) daran fest, dass das offenkundige Zurückbleiben des Islam in der modernen Welt ein schlagender Beweis für seine Minderwertigkeit sei oder zumindest ein Beweis dafür, dass er sich überholt habe, dass seine geistige Lebenskraft und sein Wille zu Innovationen erschöpft seien. Dies dürfte mit ein Grund dafür sein, dass Erscheinungen wie das neuerliche, scheinbar urplötzliche Erstarken Saudi-Arabiens in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, dann die Islamische Revolution in Iran der siebziger Jahre (...) zunächst für einen Schock sorgten und die alten Stereotypen (...) wiederbelebten. Mit dem Islam hatte man sozusagen nicht mehr gerechnet.

    Demgegenüber liegt Wolfgang Günter Lerch daran, den Islam als Religion und als Kultur aus sich selbst heraus zu verstehen und zu erklären. Ob er die historischen Ursprünge der Religion skizziert oder die Entwicklung der gelebten Glaubenspraxis; ob er die Stellung der Frau im Islam erörtert oder den Begriff des Dschihad in der islamischen Rechtslehre: immer geht es dem Autor darum, dem Islam als einem eingeständigen Subjekt der Geschichte gerecht zu werden – ohne darüber jedoch aus den Augen zu verlieren, dass auch die Wahrnehmung des Westens in der islamischen Welt von Feindbildern und Vorurteilen geprägt ist – und dort kaum etwas beharrlicher gepflegt wird als Verschwörungstheorien.

    Das heißt, die westliche Moderne wird für alles verantwortlich gemacht, was in der islamischen Welt in den vergangenen Jahrhunderten schief gelaufen ist. Natürlich ist da auch was dran – man kann sagen, die beiden Stichworte sind eben Imperialismus und Kolonialismus. Nur machen es sich die Muslime nach meinem Dafürhalten zu einfach, wenn sie sozusagen auf diese Bestrebungen des Westens ihr ganzes Unglück zurückführen.

    Denn so sehr Lerch es für unerlässlich hält, die Verschiedenheit von Islam und christlicher Überlieferung anzuerkennen und zur Grundlage zu machen für einen aufrichtigen Dialog, so deutlich sieht er die muslimische Welt in der Verantwortung, sich zu reformieren – zu offensichtlich sei der Islam in einer Sterilität und Starre gefangen, zu offenkundig blockiere auch die Auslegung des islamischen Gesetzes jede Öffnung.

    Im Grunde genommen konserviert die Scharia den Zustand der islamischen Gesellschaften, wie sie vor ungefähr 1000 Jahren waren. Und da jetzt das Tor des "Idschtihad", wie das in der Fachsprache der ullemma, der Gelehrten heißt, weit zu öffnen und, sagen wir mal, das Essentiellen in der Scharia und im Koran von dem historischen Beiwerk zu trennen – das ist etwas, was ungeheuer schwierig ist, weil man da mit der traditionellen Auffassung eines göttlichen Gesetzes brechen müsste.

    Bei aller Skepsis: Eine Öffnung zur Demokratie, zum Liberalismus, zur individuellen Freiheit und zur Zivilgesellschaft hält Lerch prinzipiell trotz aller Hindernisse für möglich. Allerdings schließt er sich dem iranischen Staatspräsidenten Chatami an, der sich dafür ausgesprochen hat, eine eigene, eben islamische Zivilgesellschaft zu begründen, ohne den Westen blind nachzuahmen. Denn in einem Punkt ist sich der Autor sicher: Angesichts der bisherigen Erfahrungen von Fremdbestimmung und Gewalt durch westliche Mächte ist der Systemwechsel von außen keine Option.

    Ich warne vor den Versuchen, durch eine Art politisches Engineering, durch Druck oder gar Krieg, wie man es jetzt im Irak wieder versucht hat, die Dinge in diese Richtung zu drängen. Es gibt Veränderungen im Irak, das ist ohne Zweifel richtig, wie es auch in Ägypten durch den Einmarsch Napoleons vor mehr als 200 Jahren Anstöße gegeben hat. Aber natürlich waren es nicht die Anstöße in Richtung Demokratie oder westlicher Pluralismus. Die Dekrete von oben oder Eingriffe von außen werden scheitern.

    Entlang einer Fülle von Aspekten, religiösen und gesellschaftlichen, zeichnet Wolfgang Günter Lerch auf knapp bemessenem Raum ein dennoch vielfältiges Bild einer alten Religion, die vor neuen Herausforderungen steht. Wer ihm auf seiner gedanklichen Reise durch die islamische Welt folgt, dem legt der Autor vor allem einen Schluss nahe: Die notwendigen inneren Reformen können von der westlichen Welt vor allem dadurch unterstützt werden, dass sie dem Islam künftig nicht mehr als Vormund, sondern als Förderer entgegentritt.

    Ich votiere dafür, dass wir endlich auch als Europäer ein Verhältnis der Empathie zu den Muslimen entwickeln. Und so wie wir europäischen Völker eigentlich erst uns befriedet haben dadurch, dass wir eine gewisse Empathie entwickelt haben – für Frankreich, für andere Völker, die uns früher mehr oder weniger fremde Nachbarn waren – so müssen wir auch eine Empathie für die muslimische Welt entwickeln und sie nicht immer nur als Exoten, die Schwierigkeiten machen, sehen.

    Jasper Barenberg war das über: Wolfgang Günter Lerch: Der Islam in der Moderne. Aspekte einer Weltreligion. Publiziert hat es der Allitera Verlag in München. 136 Seiten, 14,90 Euro.