"Der Völkermord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg hat die zweifelhafte Ehre, der erste große Völkermord des 20. Jahrhunderts zu sein. Fast noch mehr zeichnet dieses Kapitalverbrechen aus, dass die Täter nie zur Rechenschaft gezogen wurden. Und bis heute wird dieser Völkermord von den Nachfolgern der Täter geleugnet. Die Hälfte der damals etwa zwei Millionen Armenier im Osmanischen Reich kam bei den Verfolgungen ums Leben. "
Mit dieser Thematik befasst sich seit geraumer Zeit Herausgeber Wolfgang Gust, Jahrgang 1935 und 27 Jahre lang Spiegel-Journalist. Seine jetzige Publikation umfasst Dokumente von 1913 bis 1921, nach ihrer originalen Datierung aufgereiht, wodurch der Leser mit einer heterogenen Fülle von Autoren – Diplomaten und Konsuln, Journalisten und Kaufleute, Geistliche und humanitäre Helfer, Deutsche und andere – und deren Urteilen konfrontiert ist. Nur in einem waren sich buchstäblich alle einig: dass der Bundesgenosse Türkei seinen armenischen Staatsangehörigen ein schreckliches, nie erlebtes Leid zufügt. Uneinigkeit bestand in anderen Fragen: Sind die Armenier loyale Bürger oder wurden sie von Russen, Engländern und anderen Feinden als fünfte Kolonne genutzt? Waren die Armenier-Massaker kriegsbedingte Prävention oder geplanter Völkermord? Ging türkisches Wüten nur gegen Armenier oder sollten nach ihnen alle nicht-türkischen Einwohner ausgerottet werden? Hat die türkische Regierung eine deutsche Mitwirkung propagandistisch vorgeschoben oder war das Deutsche Reich wirklich Initiator und Komplize eines Völkermords?
"Die systematische Niedermetzelung der aus ihren Wohnsitzen deportierten armenischen Bevölkerung hatte in den letzten Wochen einen derartigen Umfang angenommen, dass eine erneute eindringliche Vorstellung unsererseits gegen dieses wüste Treiben, das die Regierung nicht nur duldete, sondern offensichtlich förderte, geboten schien, zumal da an verschiedenen Orten auch die Christen anderer Rassen und Konfessionen nicht mehr verschont wurden. "
So berichtete Anfang August 1915 Sonderbotschafter Hohenlohe-Langenburg an Reichkanzler Bethmann-Hollweg. Sein Bericht war einer von ungezählten ähnlichen und oft drastischeren, deren Lektüre auch nach Jahrzehnten noch starke Nerven erfordert. Er sprach zudem einige Charakteristika des Pogroms an: Zentral geplant und befohlen, wurde es vor provinziellem Ort mit unvorstellbarer Brutalität exekutiert, was die chaotischen Verhältnisse im Inneren und die Schwäche der Zentralregierung bezeugte. Triebkräfte waren alter Christenhass, neuer Nationalismus und der alltürkische Wunsch nach einem ethnisch gesäuberten Großreich. So waren Politik und Ideologie der Jungtürken, die 1908 das Sultan-Regime stürzten und als Reformer begannen, damals sogar mit armenischen Parteien verbündet. Jetzt behandelten sie alle Armenier als Freiwild und änderten nach Monaten nur die Technik des Schlachtens: Wurden die Armenier anfänglich an Ort und Stelle umgebracht, so schickte man sie ab Ende 1915 auf lange Märsche, auf denen sie starben oder ohne lästige Zeugen getötet wurden. Das Deutsche Reich wand sich in Verlegenheit: Sollte es dem Bundesgenossen am Bosporus die Leviten lesen oder dessen Grausamkeit als innere Angelegenheit kommentarlos übersehen? Sonderbotschafter Wolff-Metternich empfahl im Dezember 1915 eine härtere Gangart:
"Unruhe und Empörung auch im befreundeten Ausland und in Deutschland weite Kreise ergriffen habe und der türkischen Regierung alle Sympathien entziehen würde, wenn nicht Einhalt geschehe. Dabei wird im Lande verbreitet, die Deutschen wünschten die Massaker. Ich habe eine äußerst scharfe Sprache geführt, und türkische Ableugnungen, dass keine Deportationen mehr vorgenommen werden sollen, sind wertlos. Auch soll man mit Lobhudeleien der Türken aufhören. Was sie leisten, ist unser Werk, sind unsere Offiziere, unsere Geschütze, unser Geld. Ohne unsere Hülfe fällt der geblähte Frosch in sich selbst zusammen. Wir brauchen gar nicht so ängstlich mit den Türken umzugehen. Leicht können sie nicht auf die andere Seite schwenken und Frieden machen. "
Unser Geld, Offiziere, Geschütze – mit solchen und ähnlichen Äußerungen sowie scharfen Blicken auf deutsch-türkische Kooperation in Politik und Kriegsführung will Herausgeber Gust seine These von deutscher Mitwirkung für den Völkermord untermauern. Aus diesem Versuch wurde kaum mehr als ein Verdacht mit minimaler Dokumenten-Stützung. Deutsche waren, wenn überhaupt, nur mittelbar beteiligt, als Ausbilder der türkischen Armee oder politische Kriegspartner. Von wenigen Einzelfällen abgesehen, wuchs die Ablehnung türkischer Greuel im Maße der Nähe zum Geschehen. Also erbärmliche Abwiegelungen vom Berliner Auswärtigen Amt, aber aufrüttelnde Berichte von Diplomaten wie Wolff-Metternich, Journalisten wie von Tyszka, Armenien-Experten wie Johannes Lepsius und vielen anderen. Lepsius hatte 1919 eine Dokumentation über Deutschlands Rolle beim Völkermord publiziert, die Berliner Ministeriale selbst dann noch unterdrücken wollten. Dabei hatte der Reichstagsabgeordnete Maximilian Pfeiffer im Vorjahr dem Ministerium berichtet, es seien zwei Millionen Armenier umgekommen, und hinzugefügt, doch erscheint diese Zahl ziemlich niedrig gegriffen.
Postskriptum: Am 5. September 1915 berichtete der Kölner Journalist von Tyszka von der Wut der Türken, sobald diese auf die Armenier-Greuel angesprochen würden. Diese Wut scheint auch 90 Jahre später noch türkische Reaktionen zu bestimmen: 1987 definierte das Europaparlament die Ereignisse von 1915 als Völkermord – 2001 zog es, nach heftiger Empörung der Türkei, die Forderung nach einem türkischen Eingeständnis des Genozids zurück. Ebenfalls 2001 urteilte die Französische Nationalversammlung identisch – die Türkei zog ihren Botschafter ab, türkische Unternehmen stornierten Millionen-Aufträge. 2003 zog sich das Land Brandenburg heftige Schelte von Botschafter Irtemcelik zu, als es den Völkermord im Geschichtsunterricht behandeln ließ; andere Bundesländer und die Bundesrepublik insgesamt wagten so etwas erst gar nicht. Anfang März 2005 war der türkische Botschafter erneut böse, nun auf die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die eine Verurteilung des türkischen Völkermords zum 90. Jahrestag, am 24. April, forderte. Der Botschafter sieht so etwas als Versuch, die Türkei zu zwingen, ein unbewiesenes Verbrechen zu akzeptieren. So haben alle Türken zu denken, denn am 14. April 2003 verpflichtete das türkische Erziehungsministerium alle Schuldirektoren, die gesamte Schülerschaft auf striktes Leugnen irgendeines Armenier-Völkermords durch die Türkei einzuschwören.
Wolf Oschlies über den von Wolfgang Gust herausgegebenen Band "Der Völkermord an den Armeniern 1915/18. Dokumente aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amts". Zu Klampen-Verlag Springe, 663 Seiten 39,80 Euro.
Mit dieser Thematik befasst sich seit geraumer Zeit Herausgeber Wolfgang Gust, Jahrgang 1935 und 27 Jahre lang Spiegel-Journalist. Seine jetzige Publikation umfasst Dokumente von 1913 bis 1921, nach ihrer originalen Datierung aufgereiht, wodurch der Leser mit einer heterogenen Fülle von Autoren – Diplomaten und Konsuln, Journalisten und Kaufleute, Geistliche und humanitäre Helfer, Deutsche und andere – und deren Urteilen konfrontiert ist. Nur in einem waren sich buchstäblich alle einig: dass der Bundesgenosse Türkei seinen armenischen Staatsangehörigen ein schreckliches, nie erlebtes Leid zufügt. Uneinigkeit bestand in anderen Fragen: Sind die Armenier loyale Bürger oder wurden sie von Russen, Engländern und anderen Feinden als fünfte Kolonne genutzt? Waren die Armenier-Massaker kriegsbedingte Prävention oder geplanter Völkermord? Ging türkisches Wüten nur gegen Armenier oder sollten nach ihnen alle nicht-türkischen Einwohner ausgerottet werden? Hat die türkische Regierung eine deutsche Mitwirkung propagandistisch vorgeschoben oder war das Deutsche Reich wirklich Initiator und Komplize eines Völkermords?
"Die systematische Niedermetzelung der aus ihren Wohnsitzen deportierten armenischen Bevölkerung hatte in den letzten Wochen einen derartigen Umfang angenommen, dass eine erneute eindringliche Vorstellung unsererseits gegen dieses wüste Treiben, das die Regierung nicht nur duldete, sondern offensichtlich förderte, geboten schien, zumal da an verschiedenen Orten auch die Christen anderer Rassen und Konfessionen nicht mehr verschont wurden. "
So berichtete Anfang August 1915 Sonderbotschafter Hohenlohe-Langenburg an Reichkanzler Bethmann-Hollweg. Sein Bericht war einer von ungezählten ähnlichen und oft drastischeren, deren Lektüre auch nach Jahrzehnten noch starke Nerven erfordert. Er sprach zudem einige Charakteristika des Pogroms an: Zentral geplant und befohlen, wurde es vor provinziellem Ort mit unvorstellbarer Brutalität exekutiert, was die chaotischen Verhältnisse im Inneren und die Schwäche der Zentralregierung bezeugte. Triebkräfte waren alter Christenhass, neuer Nationalismus und der alltürkische Wunsch nach einem ethnisch gesäuberten Großreich. So waren Politik und Ideologie der Jungtürken, die 1908 das Sultan-Regime stürzten und als Reformer begannen, damals sogar mit armenischen Parteien verbündet. Jetzt behandelten sie alle Armenier als Freiwild und änderten nach Monaten nur die Technik des Schlachtens: Wurden die Armenier anfänglich an Ort und Stelle umgebracht, so schickte man sie ab Ende 1915 auf lange Märsche, auf denen sie starben oder ohne lästige Zeugen getötet wurden. Das Deutsche Reich wand sich in Verlegenheit: Sollte es dem Bundesgenossen am Bosporus die Leviten lesen oder dessen Grausamkeit als innere Angelegenheit kommentarlos übersehen? Sonderbotschafter Wolff-Metternich empfahl im Dezember 1915 eine härtere Gangart:
"Unruhe und Empörung auch im befreundeten Ausland und in Deutschland weite Kreise ergriffen habe und der türkischen Regierung alle Sympathien entziehen würde, wenn nicht Einhalt geschehe. Dabei wird im Lande verbreitet, die Deutschen wünschten die Massaker. Ich habe eine äußerst scharfe Sprache geführt, und türkische Ableugnungen, dass keine Deportationen mehr vorgenommen werden sollen, sind wertlos. Auch soll man mit Lobhudeleien der Türken aufhören. Was sie leisten, ist unser Werk, sind unsere Offiziere, unsere Geschütze, unser Geld. Ohne unsere Hülfe fällt der geblähte Frosch in sich selbst zusammen. Wir brauchen gar nicht so ängstlich mit den Türken umzugehen. Leicht können sie nicht auf die andere Seite schwenken und Frieden machen. "
Unser Geld, Offiziere, Geschütze – mit solchen und ähnlichen Äußerungen sowie scharfen Blicken auf deutsch-türkische Kooperation in Politik und Kriegsführung will Herausgeber Gust seine These von deutscher Mitwirkung für den Völkermord untermauern. Aus diesem Versuch wurde kaum mehr als ein Verdacht mit minimaler Dokumenten-Stützung. Deutsche waren, wenn überhaupt, nur mittelbar beteiligt, als Ausbilder der türkischen Armee oder politische Kriegspartner. Von wenigen Einzelfällen abgesehen, wuchs die Ablehnung türkischer Greuel im Maße der Nähe zum Geschehen. Also erbärmliche Abwiegelungen vom Berliner Auswärtigen Amt, aber aufrüttelnde Berichte von Diplomaten wie Wolff-Metternich, Journalisten wie von Tyszka, Armenien-Experten wie Johannes Lepsius und vielen anderen. Lepsius hatte 1919 eine Dokumentation über Deutschlands Rolle beim Völkermord publiziert, die Berliner Ministeriale selbst dann noch unterdrücken wollten. Dabei hatte der Reichstagsabgeordnete Maximilian Pfeiffer im Vorjahr dem Ministerium berichtet, es seien zwei Millionen Armenier umgekommen, und hinzugefügt, doch erscheint diese Zahl ziemlich niedrig gegriffen.
Postskriptum: Am 5. September 1915 berichtete der Kölner Journalist von Tyszka von der Wut der Türken, sobald diese auf die Armenier-Greuel angesprochen würden. Diese Wut scheint auch 90 Jahre später noch türkische Reaktionen zu bestimmen: 1987 definierte das Europaparlament die Ereignisse von 1915 als Völkermord – 2001 zog es, nach heftiger Empörung der Türkei, die Forderung nach einem türkischen Eingeständnis des Genozids zurück. Ebenfalls 2001 urteilte die Französische Nationalversammlung identisch – die Türkei zog ihren Botschafter ab, türkische Unternehmen stornierten Millionen-Aufträge. 2003 zog sich das Land Brandenburg heftige Schelte von Botschafter Irtemcelik zu, als es den Völkermord im Geschichtsunterricht behandeln ließ; andere Bundesländer und die Bundesrepublik insgesamt wagten so etwas erst gar nicht. Anfang März 2005 war der türkische Botschafter erneut böse, nun auf die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die eine Verurteilung des türkischen Völkermords zum 90. Jahrestag, am 24. April, forderte. Der Botschafter sieht so etwas als Versuch, die Türkei zu zwingen, ein unbewiesenes Verbrechen zu akzeptieren. So haben alle Türken zu denken, denn am 14. April 2003 verpflichtete das türkische Erziehungsministerium alle Schuldirektoren, die gesamte Schülerschaft auf striktes Leugnen irgendeines Armenier-Völkermords durch die Türkei einzuschwören.
Wolf Oschlies über den von Wolfgang Gust herausgegebenen Band "Der Völkermord an den Armeniern 1915/18. Dokumente aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amts". Zu Klampen-Verlag Springe, 663 Seiten 39,80 Euro.