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Wolfgang Huber: Vor Gott und den Menschen

"Vor Gott und den Menschen" - diese Worte aus der Präambel des Grundgesetzes haben Wolfgang Huber und Stefan Berg ihrem Gesprächsband als Titel vorangestellt. Und dem Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland ist es durchaus ernst damit. Der Einzelne habe vor Gott und den Menschen sein Tun zu verantworten, und da will Wolfgang Huber mit gutem Beispiel vorangehen. Das Buch ist schon mal eine erste Antwort an die Menschen.

Rezension: Jacqueline Boysen | 09.08.2004
    Wir kehren nicht zurück in eine Klassengesellschaft im Sinn der Teilung von Kapital und Arbeit, sondern wir haben neue Ausgrenzungsprozesse. Und wenn ich jetzt sage, wir haben neue Prozesse der Exklusion, dann klingt das wahnsinnig gebildet und tut niemandem weh, und wenn ich mal einen Augenblick sage, da wird eine Klasse gebildet von Menschen, die ausgegrenzt sind aus aktiven Beteiligungsrechten, dann wird es vielleicht ein bißchen stärker ein Anstoß, darüber nachzudenken, ob wir das einfach so geschehen lassen sollen.

    Natürlich sollen wir nicht! Wolfgang Huber warnt ausdrücklich vor jenen kaum mehr zu zügelnden sozialen Veränderungen, die uns bedrohten. Eine Drift habe die Gesellschaft er- fasst und spalte sie in längst überwunden geglaubte Klassen. Der Bischof der Evangelischen Kirche von Berlin, Brandenburg und der schlesischen Oberlausitz scheut eine marxistisch inspirierte Diktion nicht. Der engagierte Prediger erhebt gern das Wort, bestimmt seine Position für die Ökumene, gegen den Krieg, gegen eine schrankenlose Wissenschaft oder gegen Gewissenlosigkeit und Eigennutz - dezidiert, in lutherischer Manier, würde man sagen, wenn sich der feingliedrige Theologe nicht schon äußerlich so stark vom handfesten Reformator unterscheiden würde. Hubers Appell, die Kirche müsse sich auf ihre Rolle besinnen und ‚Mund der Stummen und Anwalt der Ausgegrenzten' sein, könnte Luther indes gefallen:

    Die Exklusionsprozesse, die wir beobachten, sind alle von der Art, daß Menschen keine - irgendwie - faire Chance dazu haben sich selber einzubringen in einen Arbeitsprozeß, in eine Ausbildung, in eine Verantwortung für eine Familie, die nicht mit einem Armutsrisiko verbunden ist und anderes dergleichen. Und ich glaube, statt andauernd nur wie wir das jetzt wieder erleben - eine festgefahrene Diskussion über Verteilungsgerechtigkeit zu führen, wäre es angezeigt - obwohl es ein kleines bißchen komplizierter ist -, dieses Nachdenken über Beteiligungsgerechtigkeit und die Eröffnung von fairen Möglichkeiten der aktiven Mitwirkung zum Schlüssel eines gesellschaftlichen Dialogs zu machen.

    Wie fruchtbringend ein Dialog mit dem neuen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche sein kann, belegt das Bändchen "Vor Gott und den Menschen" mit Gesprächen zwischen
    Huber und dem aus der ostdeutschen Opposition stammenden Spiegelredakteur Stefan Berg, der durchaus provozierende Fragen stellt. Kein Zufall, dass der Titel das Grundgesetz zitiert: Huber legt uns gewissermaßen die Präambel seiner eigenen Tätigkeit vor. Der Bischof kämpft gegen die unverbindliche Rede beseelter Gutmenschen und setzt ihnen ein Plädoyer für eine aktive Verantwortungsethik im Sinn Dietrich Bonhoeffers entgegen. Im Buch heißt es:

    Christlicher Glaube ohne praktische Konsequenzen ist blind, und soziales Engagement ohne Glaubenssubstanz ist taub.

    Das Anliegen Hubers, der sich geschickt Zuhörer- oder Leserkreise jenseits von Kirchenmauer und Predigerseminarraum erschlossen hat, ist es, aufzurütteln: die Gesellschaft, vor allem aber auch seine eigene Kirche. In drastischen Worten wirft der Theologe der eigenen Zunft vor, sich weit von den Gläubigen entfernt zu haben und die Botschaft des Evangeliums viel zu zögerlich in die Welt hinauszutragen. Laien wie Seelsorgern legt er die Mission ans Herz - sollen sie doch die Verkündigung wieder hörbar machen!

    Ich habe starke Erwartungen an die Rolle von Christen in der Politik, und das ist eine Erwartung, aus der man sich selber nicht herausnehmen kann, das ist der Vorteil gegenüber anderen Erwartungen, die man dann nur an andere adressiert, ohne selbst beteiligt zu sein. Und so weit Parteien und ihre Mitglieder sich auf das christliche Menschenbild, die christliche Vorstellung von Verantwortung für den anderen berufen, möchte ich sie dabei auch gerne in Anspruch nehmen. Auch im politischen Handeln reicht es eben nicht mehr - ich sag's jetzt mal ein bißchen schnöde -, nur die Interessen der eigenen Klientel im Blick zu haben, nur die Interessen der eigenen Wählerschaft im Blick zu haben. So wichtig das ist, denn sonst kann man keine Politik machen, aber: Wir spüren ja im Augenblick, daß ein politisches Denken, das über den nächsten Wahltermin hinausreicht, zwingend erforderlich ist, wenn man verantwortliche Entscheidungen treffen will.

    Der 61-jährige Bischof hat selbst persönliche, zum Teil erstaunliche Wandlungen erlebt oder begleitet: Da ist der Vater, der mit dem Makel des Juristen aus dem Nationalsozialismus behaftet war und schließlich mit dem Sohn gemeinsam eine mehrbändige Edition "Staat und Kirche im 19. und 2o. Jahrhundert" herausgab. Dann zählte der junge Wolfgang Huber, SPD-Mitglied mit nunmehr ruhender Parteimitgliedschaft, einst zu den Propheten einer offenen Kirche - so offen, dass ihre Glaubenssubstanz kaum noch wahrzunehmen war, wie der ein-astige Kirchentagspräsident heute selbstkritisch bemerkt. Auch seine Haltung zur DDR war oder ist ambivalent. Dem aus der Diktatur nicht unbefleckt hervorgegangenen ‚Bruder Manfred', gemeint ist Manfred Stolpe, gratulierte der Bischof hochoffiziell zum Amt als Bundesminister und entbot Gottes Segen. Die historischen Verdienste der oppositionellen Christen in der DDR aber stehen so lange unter einem Scheffel, wie die Verstrickungen von Teilen der Kirche mit der Staatsmacht nicht offen diskutiert werden. Gewandelt hat sich - nicht zuletzt - Wolfgang Hubers Frömmigkeit, der das letzte Kapitel des Bands gewidmet ist. Nicht nur, dass der Bischof dem Klischee vom freudlosen Evangelen das Bild des engagierten Christen fröhlichen Glaubens entgegensetzt. Wolfgang Huber entdeckt Gott im Kern seines Daseins:

    Mein Leben empfange ich als Geschenk, genau dieses Bewußtsein gibt mir die Kraft, mit diesem Leben etwas anzufangen.

    Wolfgang Huber im Gespräch mit Stefan Berg, "Vor Gott und den Menschen". Das war eine Rezension von Jacqueline Boysen. Das Buch erschien im Wichern-Verlag in Berlin, es hat 100 Seiten und kostet sieben Euro.