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Wolfgang Mönninghoff: Enteignung der Juden. Wunder der Wirtschaft, Erbe der Deutschen

Ging es um die Beziehung zwischen deutschen Unternehmen und dem Nationalsozialismus, dann wurde bis in die siebziger Jahre vor allem deren Anteil an Hitlers Aufstieg verhandelt. Erst nach und nach wurden einzelne Großunternehmen ins Visier genommen und nach ihrem Profit aus Arisierung und Vernichtungspolitik gefragt. Die peinliche Debatte um die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter sorgte in den letzten Jahren für größeres Interesse an diesem Kapitel der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Doch von der Arisierung profitierten nicht nur die Unternehmen, auch die ganz gewöhnlichen Bürger waren zur Stelle, wenn der Besitz der Deportierten unter den Hammer kam. Auch davon berichtet die Studie „Enteignung der Juden. Wunder der Wirtschaft, Erbe der Deutschen“, die Wolfgang Mönninghoff im Europaverlag vorgelegt hat. Unser Rezensent ist Sven Kramer.

Sven Kramer |
    Ging es um die Beziehung zwischen deutschen Unternehmen und dem Nationalsozialismus, dann wurde bis in die siebziger Jahre vor allem deren Anteil an Hitlers Aufstieg verhandelt. Erst nach und nach wurden einzelne Großunternehmen ins Visier genommen und nach ihrem Profit aus Arisierung und Vernichtungspolitik gefragt. Die peinliche Debatte um die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter sorgte in den letzten Jahren für größeres Interesse an diesem Kapitel der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Doch von der Arisierung profitierten nicht nur die Unternehmen, auch die ganz gewöhnlichen Bürger waren zur Stelle, wenn der Besitz der Deportierten unter den Hammer kam. Auch davon berichtet die Studie "Enteignung der Juden. Wunder der Wirtschaft, Erbe der Deutschen", die Wolfgang Mönninghoff im Europaverlag vorgelegt hat. Unser Rezensent ist Sven Kramer.

    Sie nannten es Arisierung – gemeint war die Beraubung einer ganzen Bevölkerungsgruppe um ihr Hab und Gut sowie ihre Verdrängung aus Wirtschaft und Gesellschaft. Die Rede ist von der staatlich betriebenen Praxis der Enteignung jüdischen Besitzes in Deutschland nach 1933. In ihrem antisemitischen Wahn zeichneten die Nationalsozialisten das Bild vom raffenden jüdischen Kapital, das für die Weltverschwörung eingesetzt werde und gegen das etwas unternommen werden müsse. Dieses Konstrukt diente als Legitimation für eine Politik, die ganz ideologiefreie, lebenspraktische Folgen hatte. Den einen bescherte sie eine Bereicherung im großen Stil, den anderen die wirtschaftliche Existenzvernichtung, die später bekanntlich bis zur physischen Auslöschung gesteigert wurde.

    Wolfgang Mönninghoff vollzieht den historischen Ablauf der Enteignungen nach und geht auf die mit ihnen verknüpften Debatten ein. Dabei präsentiert er keine eigenen Forschungsergebnisse, sondern arbeitet den Forschungsstand mit journalistischen Mitteln auf. Weil er seine Quellen nur ungenau angibt, werden Historiker mit dem Buch nichts anfangen können. Dass es dennoch genau recherchiert ist und zusätzlich noch leserfreundlich geschrieben, werden dagegen alle interessierten Laien zu schätzen wissen.

    Gerade nach den Auseinandersetzungen um die Entschädigung der ehemaligen Zwangsarbeiter scheint der Zeitpunkt günstig zu sein, das Augenmerk einer sensibilisierten Öffentlichkeit auf das ganze Ausmaß der Beraubung zu lenken. Im System der sogenannten Arisierung hat auch die Zwangsarbeit ihren Ort – denn sie muss als Enteignung von Arbeitskraft beschrieben werden. Doch die Betriebe – bis hinauf zu den bekanntesten – profitierten in vielfältiger Weise. Mönninghoff schreibt:

    »Die Dresdner Bank hatte tonnenweise mit Raubgold aus Konzentrationslagern und Ghettos gehandelt, das von Schmuck, anderen Wertsachen oder Zahngold stammte. IG Farben und Degussa waren nicht nur eifrige ›Arisierer‹; sie bzw. ihre Tochterfirmen stellten auch das tödliche Gas Zyklon B her, das in den Gaskammern eingesetzt wurde. Die Allianz und andere Versicherungsgesellschaften zahlten von Juden abgeschlossene Policen nicht aus. Und Siemens baute einen der weltgrößten Elektrotechnikkonzerne auf und profitierte massiv vom NS-Programm ›Vernichtung durch Arbeit‹«.

    Nach der Machtübernahme begann die systematische Verdrängung der Juden aus dem Wirtschaftsleben, die bis zum Kriegsbeginn abgeschlossen war. Insgesamt wechselten ungefähr hunderttausend Betriebe den Besitzer oder wurden liquidiert. Zunächst geschah dies schleichend. Unter Anwendung psychologischen und indirekten Drucks nötigte man den Inhabern Abtretungsverträge auf. Dann wurden die Maßnahmen eindeutiger, bis nach der Pogromnacht von 1938 der offene Terror Überhand nahm. Zuvor waren schon eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen erlassen worden, die die Enteignungen legalisierten. So konnten namhafte Unternehmen auf Kosten ihrer jüdischen Konkurrenten expandieren oder überhaupt erst aufsteigen – Kaufhäuser wie Hertie, Kaufhof und Horten, Industriebetriebe wie Flick und Mannesmann, ein Tabakkonzern wie Reemtsma und Banken wie die Deutsche, die Dresdner und die Commerzbank – und dies sind nur einige der von Mönninghoff erläuterten Beispiele. Profitiert haben viele. Zunächst und vor allem hat sich der Staat die Taschen gefüllt. Aber auch Museen und Galerien griffen zu. Erst heute sind einige von ihnen bereit, die Herkunft ihrer wertvollen Exponate zu rekonstruieren und sie gegebenenfalls zurückzugeben. Nachdem die Deportationen begonnen hatten, wurde noch eine andere Gruppe zum Komplizen der Arisierer:

    »Besonders erschreckend ist die Tatsache, daß sich ganz normale Bürger massenhaft über die Hinterlassenschaften ihrer vertriebenen jüdischen Nachbarn hermachten, daß so manches liebevoll gepflegte und stolz vererbte Mahagonimöbel, so manche Meißner Tasse aus dem Besitz deportierter Juden stammte. Ersteigert oft noch in der Wohnung der eben Deportierten, auf dem Treppenabsatz, dem Bürgersteig.«

    Mitunter wird behauptet, der Norden Deutschlands sei resistenter gegen die nazistische Ideologie gewesen als der Süden. Mönninghoff kann aber zeigen, dass die Bereicherungen überall in gleichem Maße stattfanden. Gestützt auf die Forschungen des Historikers Frank Bajohr rechnet er vor:

    »Am Ende des Kriegs dürfte […] in fast jedem zweiten Hamburger Wohnzimmer Mobiliar aus jüdischem Besitz gestanden haben. Und es war bekannt, woher die schönen Stücke kamen. Ganz offen wiesen Auktionatoren in Anzeigen darauf hin, daß die Vorbesitzer Juden waren. Auch die Gestapo ließ in der Presse über ›jüdisches Umzugsgut‹ berichten. Die ehemaligen jüdischen Nachbarn waren bekannt, sie waren ja erst vor wenigen Tagen deportiert worden. Nach der öffentlichen Ankündigung erschienen die Finanzbeamten und boten den Hausrat an.«

    Die Inbesitznahme des Eigentums der deportierten Nachbarn war ein Massenphänomen. Allerdings scheint die Bevölkerung diesen Vorgang kollektiv vergessen zu haben. Vielleicht aus Scham. Oder aus Angst, die Vertriebenen könnten nach dem Krieg zurückkehren und ihren Besitz wieder einfordern. Aber die meisten von ihnen lebten zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr. Nachdem die Nazis den Juden ein ›Sühneopfer‹ abverlangt und ihr letztes Geld konfisziert hatten, schafften sie sie in die Vernichtungslager. Noch den Transport in Viehwaggons stellten sie ihren Opfern in Rechnung.

    Doch damit ist die Geschichte der Enteignung noch nicht zuende. Denn nun begann die sogenannte Wiedergutmachung. Um wieder politikfähig zu werden, schloss Adenauer mit Israel und einigen anderen Staaten Verträge über Entschädigungszahlungen ab. Jene Geschädigten, die östlich des Eisernen Vorhangs lebten, mussten weitgehend auf Entschädigungen verzichten. Und auch jene, die trotz allem nach Deutschland zurückgekehrt waren, gelangten nicht sogleich an ihr Eigentum. Zuerst waren bürokratische Hürden zu überwinden. Die Verfolgten mussten nämlich nachweisen, dass sie geschädigt waren:

    »Es war eine bittere Erfahrung für viele Opfer, daß nicht einmal das Personal ausgewechselt worden war: Derselbe Beamte, der die Verwertung des restlichen Besitzes geregelt hatte, saß nun als ›Fachmann für Judensachen‹ im ›Wiedergutmachungs‹-amt. Derselbe Mediziner, der Sterilisierung und Euthanasie verantwortet hatte, begutachtete nun die gesundheitlichen Schäden der Opfer. Derselbe Gerichtsvollzieher, der ›Judensachen‹ versteigert, und derselbe Finanzbeamte, der die finanzielle Ausplünderung organisiert hatte, traten nun als scheinbar neutrale Sachverständige in den Resitutionsverfahren auf.«

    Hatten die Verfolger die Juden jahrelang ausgeplündert, so lebten die antisemitischen Vorurteile nun in veränderter Gestalt wieder auf: Den Zurückgekehrten wurde vorgeworfen, sie würden sich an der Wiedergutmachung bereichern. Bis heute kursieren ähnliche Argumente, etwa im Zusammenhang mit der von Norman Finkelstein initiierten Debatte um eine angeblich existierende Holocaust-Industrie. Zurückerstattet wurde unter dem Strich höchstens ein Drittel des enteigneten Vermögens. Würde man den vorenthaltenen Lohn für die geleistete Zwangsarbeit hinzu rechnen, ergäben sich weit höhere Zahlen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum sich Mönninghoff trotz aller Sachlichkeit im Umgang mit den Fakten die engagierte Stellungnahme nicht verbieten lässt. Aus Zorn und Scham habe er das Buch geschrieben. Im Nachwort bekennt er:

    "Ich verstehe nicht, warum am Vermögen, an der Gesundheit Geschädigte, am beruflichen Fortkommen Gehinderte ständig und immer wieder Belege beibringen mußten für Ausmaß und Folgen der Verfolgung. Daß ganze Opfergruppen wie Sinti und Roma, Zwangssterilisierte und Homosexuelle so lange von jeder ›Wiedergutmachung‹ ausgeschlossen wurden. Ich verstehe nicht, warum den Opfern eines der brutalsten Unrechtsregimes der Menschheitsgeschichte eine kleine Entschädigung vorenthalten wird für den Popanz Rechtssicherheit."