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Wolfgang Sofsky: Zeiten des Schreckens - Amok, Terror, Krieg

Das Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag erinnert in diesen Tagen wieder vermehrt an Mord und Vergewaltigung auf dem Balkan. Taten, die zu verstehen manchmal schwer fällt:

Khosrow Nosratian |
    Ich wollte immer schon legal töten, ich wollte immer schon jenes Gefühl haben. Ich weiß, ich kann überleben, wenn ich genauso werde wie das , was ich bekämpfe. Kein Mitgefühl, keine Emotionen. Keine Liebe im Krieg. Totale Gnadenlosigkeit. Ich werde töten ohne Mitgefühl für meinen Feind, auch wenn's Frauen sind. Dieses Feeling will ich, das ist besser als jede Droge.

    Aussage eines britischen Söldners, der auf kroatischer Seite gegen die Serben kämpfte. Das Zitat stammt aus dem neuesten Buch des Soziologen Wolfgang Sofsky, der sich darin nicht zum ersten Mal mit dem Thema Gewalt und Krieg befasst. Es ist nicht eben eine erbauliche Lektüre, und Sofsky ist ganz anders als Chomsky der Auffassung, eine Welt ohne Amok, Terror und Krieg wird es nicht geben, zu tief seien die Impulse der Grausamkeit anthropologisch verankert. In seinem Buch Zeiten des Schreckens hat er das zu begründen versucht. Khosrow Nosratian hat es für uns gelesen.

    Wolfgang Sofskys Buch über die Zeiten des Schreckens ist eine furiose Abhandlung. Amok, Terror, Krieg werden in einer finsteren Chronik vom Treiben der Mordbuben und Leuteschinder behandelt. Man kann das Unternehmen als Historische Anthropologie bezeichnen. Das Konfliktforschungsprogramm setzt deutlich Elemente der phänomenologischen Tradition ein. Wahrnehmungsanalysen prägen den methodischen Zugriff. Dabei ist das Buch eine aktuelle Fortschrift des großen Werks von Elias Canetti über "Masse und Macht". Er ist nicht nur der erste Autor, der durch Zitation gewürdigt wird. Sofskys Anmerkung unterstreicht vielmehr, dass jenes Werk "an Weitsicht und Radikalität unübertroffen" sei.

    Canettis Gegenreden zum Thema Tod stellt Sofsky in prägnanten Szenarien nach. Von ihm übernimmt er das Menschenbild eines Lebewesens, das hart ist und unerlöst. Auf Anhieb weiß sich sein "Diskurs über die Gewalt" auf einem "Streitplatz der Ideologien und Illusionen". Wie sein Vorbild Canetti will Sofsky Klarheit schaffen. Für beide hat der Überlebenswille des Menschen Suchtcharakter. Er bildet die Triebkraft für die Illusion der Unsterblichkeit. Das Überleben verleiht triumphale Machtgefühle gegenüber den Toten, die man hinter sich lässt.

    Sofsky pflegt ein Verfahren der dichten Beschreibung. In rascher Folge werden Darstellungen menschlicher Gewalt entfaltet. Die Episoden um Helden und Märtyrer, Berserker und Gladiatoren, Warlords und Marodeure verdichten sich zu einem Panorama menschentypischer Verwandlungsfähigkeit. Drehbuchartig werden die Potenzen der phänomenologischen Perzeption entfaltet: Ein einziger Umschnitt, und Sofsky gewinnt das Epochenbild des Amoklaufs.

    Da verlässt einer morgens seine Wohnung, fährt ins Büro, verrichtet wie gewohnt seine Arbeit, kehrt nach Hause zurück - ein Tag wie jeder andere. Dann kleidet er sich um, holt Waffen und Munition aus dem Keller, erschießt seine Familie, verschanzt sich auf dem Dach und feuert auf jeden, der zufällig vorbeikommt. Scheinbar über Nacht können sich Nachbarn in Todfeinde, Kinder in Scharfschützen, Dorfschullehrer in Amokläufer, Softwarefabrikanten in Kinderschänder, Arbeiter einer Schokoladenfabrik in Menschenfresser verwandeln.

    Sofskys anthropologische Schlüsselattitüde ist rationalismuskritisch. Zur neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie verhält er sich polemisch. Seiner Auffassung nach ist dem Blutrausch durch vernünftige Erklärungen nicht beizukommen. Individuelle Krankheit oder seelischer Kurzschluss, persönliches Unglück oder kollektives Elend sind ihm allzu gängige Erklärungsmodelle. Ihm gelten sie als arrogante Abstraktionen einer überlebten Kulturkritik. In der Theorie setzen sie zu hoch an, für die Praxis greifen sie zu kurz. Deshalb ist sein Verfahren "nicht kulturalistisch, sondern universalistisch angelegt", wie er schreibt. Es zielt "nicht auf den Sinn, sondern auf die Formen sozialen Verhaltens." Sofkys Schwarzbuch untersucht die Lizenz zum Plündern, Quälen, Töten in ihrer Formenvielfalt. Bei manchen Einsichten stehen Arnold Gehlen, Helmuth Plessner, Friedrich Nietzsche Pate.

    Die Gewalt ergibt sich aus der spezifischen Menschlichkeit des Menschen. Weil er immer schon außer sich ist, ist er zu jeder Grausamkeit in der Lage. Weil er nicht aus seiner Mitte heraus von Instinkten gelenkt wird, sondern als geistiges Wesen ein Verhältnis zu sich selbst hat, kann er sich schlimmer aufführen als jede Bestie. Weil er nicht festgestellt ist, ist er zu jeder Untat imstande.

    Die Berichterstattung vom Schauplatz menschlicher Grausamkeit ist drastisch. Im Rhythmus der Reportage studiert Sofsky die Triebstruktur niederer Beweggründe.

    Wenn die Barrieren fallen, erfasst und zerstört das Ich die gesamte Welt. Nichts hält den Mörder auf, triumphierend lässt er sich selbst hinter sich. Das alte Ich verlöscht, die Tat befreit von jahrelanger Angst und bohrendem Hass.

    Sofskys Skepsis zweifelt am Siegeszug der Vernunft. Die Utopie der Friedfertigkeit findet er unpolitisch und weltfremd, das Ideal der Verständigung geschichtsfern und hilflos. Das Symbolverstehen der Kulturtheorie gilt ihm als tröstliche Illusion. Sie hat Sofsky - wie man im Deutschen sagt - "gefressen".

    Der Frieden ist nur eine Pause im Regime der Kriegs- und Rachegötter. Sie sind die wahren Herren der Geschichte.

    Der Kern seiner Historischen Anthropologie ist ernüchternd: Gewaltverhältnisse sind Bestandteil der Menschenwelt.

    Es widerspräche jeder historischen Erfahrung zu glauben, dass das Ärgste, dass das ‚Unvorstellbare' nicht erneut übertroffen werden könnte. Daher ist es unausweichlich, alle trügerischen Wunschbilder ein für allemal aufzulösen.

    Tabula rasa ist eine ambitionierte Geste. Sofsky erklärt, dass die Imagination die Vorstellung verzaubere, dass der Wunsch das Wissen ergreife, dass das Bild den Begriff verstelle.

    Die Imaginationen des Gewaltaktes sind kein Produkt moderner Massenmedien. Die Leidenschaft der Vorstellung verhalf immer schon zum Sprung über die Mauer.

    Die Reflexionen über das Bewusstseinsleben des Raubtiers Mensch sind eisig. Sie fahren in die Eingeweide des Ensembles von Vorstellungskraft, Erfindungsgabe und Gewaltakt herab.

    Es ist die Imagination, welche immerzu neue Gewaltformen erfindet. (...) Uferlos ist die Imagination, sie ersinnt neue Greuel, erprobt neue Waffen, entwirft Utopien, erschafft die Götter, welche jedes Opfer rechtfertigen. (...) Es ist die Imagination, ein ganz und gar menschliches Vermögen, die dafür sorgt, dass die Geschichte der Gewalt weitergehen wird. Wollte man die Gewalt aus der Welt schaffen, man müsste die Menschen ihrer Erfindungsgabe berauben.

    Das zentrale Kapitel zur Politischen Ökonomie des "wilden Krieges" liefert den detaillierten Nachweis. Es porträtiert die "Rückkehr der Marodeure". Ihre vormoderne Bandentechnik sprenge das "Geschichtsbild einer befriedeten Zivilgesellschaft". Sie schneide der Zukunft der globalen Kriegsführung eine höhnische Fratze.

    Der Marodeur ist die Leitfigur eines Weltkrieges, der nicht zwischen Nationalstaaten, sondern zwischen lokalen Kriegsherren, Drogenbaronen, Clanverbänden oder privaten Milizen ausgefochten wird.

    Die Söldnercliquen und Legionärshaufen, aufs Blutbad spezialisiert, besetzen stets ordnungspolitisches Niemandsland. Diese Konstellation spielt Sofsky am Beispiel des Kosovokriegs durch. Ihm lag das Traumgespinst eines unpolitischen Wunschdenkens in Konsenskategorien zu Grunde. Doch der Autor betont:

    Der Marodeur kennt keinen Mut und keine Tapferkeit. Er sucht das Erlebnis des Tötens ohne Risiko. Sein Handwerk ähnelt demjenigen des Schlachters und Abdeckers.

    Der "Ausweg in die Autonomie" ist ohne Zivilcourage nicht zu haben. Gegen die brutale Feigheit hilft nur die Kardinaltugend Tapferkeit.

    Krieg setzt nicht nur die Bereitschaft zum Töten voraus, sondern auch den physischen Mut, für andere das eigene Leben zu riskieren, zu leiden, notfalls zu sterben. Gesellschaften, welche diese Tugend nicht aufbringen, sollten schleunigst den Rückzug antreten und sich von der Rhetorik der Menschenrechte verabschieden. Und sie sollten nicht so tun, als sei dieser Verzicht aus Feigheit in Wahrheit ein Akt der Gerechtigkeit.

    Das grundiert die letzten Seiten im Buch des phänomenologischen Kriegsberichterstatters, die dem Schwinden des Grauens gewidmet sind. Sofsky erzählt eine Geschichte, die ein KZ-Häftling überliefert hat. Im Lehrstückformat führt sie den Mut vor, mit dem ein furchtloser Mensch in Schreckenszeiten zu sterben verstehen muss.

    Ein schönes Mädchen wurde eingeliefert. Sie musste abends in einem Betrieb länger arbeiten, Wäsche bügeln. Der deutsche Chef belästigte dieses Mädchen, das einer Partisanengruppe angehört haben soll. Sie wehrte sich gegen die handgreiflichen Annäherungsversuche, traf den Mann so unglücklich mit dem Bügeleisen an der Schläfe, dass er starb. Dieses Mädchen wurde hier im Lager in aller Heimlichkeit gehängt. Als Anwesende nur Kommandant Haas und einige SS-Offiziere, Stolle, der Henker. (...) Das Mädchen trug Handschellen. Stolle wollte ihr nun die Schlinge um den Hals legen, doch dann ging alles sehr schnell! Das Mädchen spuckte Stolle voll ins Gesicht und stieß ihn mit den Fäusten kräftig vor die Brust, legte sich selbst die Schlinge um den Hals, streckte dem hohen SS-Stab die Zunge heraus und sprang hinab von der Plattform. Kommandant Haas lachte: ‚Donnerwetter! Was für eine Katze!' Und Stolle: ‚Das soll sie mir büßen.' Dann im Krematorium nahm Stolle einen Eisenhaken auf und zerriss der Toten die Genitalien.