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Wolfram Wette: Die Wehrmacht. Feindbilder, Vernichtungskrieg, Legenden

Es soll nicht verschwiegen werden, dass es für die Herausgeber keineswegs immer einfach war, Autorinnen und Autoren zu finden, die bereit waren, sich mit bestimmten Kriegsverbrechen des 20. Jahrhunderts historisch-kritisch auseinanderzusetzen. Dabei mag in manchen Fällen der negativ kodierte Stoff selbst - Kriegsverbrechen, ihre Täter und Opfer, die umstrittene Schuldfrage - eine Rolle gespielt haben, in anderen Fällen wohl auch die Furcht, sich alsbald in international noch nicht ausgefochtenen Meinungskonflikten wiederzufinden.

Hans G. Helms | 03.06.2002
    Wolfram Wette und Gerd Ueberschär schreiben das im Vorwort des von ihnen herausgegebenen Bandes "Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert". Wolfram Wette war von 1971 - 1995 Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes in Freiburg, also in einer Zeit, in der die Publikationen dieser Institution die Debatten über die Rolle des Militärs in der deutschen Geschichte bereicherten und sich dort niemand fürchtete, in "Meinungskonflikten" Stellung zu beziehen. Wette lehrt heute Geschichte an der Universität Freiburg und bereichert mit seinen Büchern nach wie vor die militärgeschichtliche Diskussion.

    Dass aus dem in der deutschen Gesellschaft vorhandenen Russlandbild das Feindbild "Jüdischer Bolschewismus" wurde, ist nicht nur den Nationalsozialisten zuzuschreiben. Reichswehr, Teile des Bildungsbürgertums, schließlich auch kirchliche Stimmen trugen dazu bei. Der Anteil der Wehrmacht am Holocaust hat hier seine Wurzeln. Ihre Mitwirkung an der Realisierung der Kriegsziele Hitlers im Osten musste nicht erzwungen werden. Die Generale sind nicht "verführt" worden.

    Mit diesen Sätzen umreißt Manfred Messerschmidt, der ehemalige Leiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamts, den heutigen Stand der kritischen Wehrmachtsforschung, wie ihn Wolfram Wette, sein einstiger Mitarbeiter, in seinem neuen Hauptwerk "Die Wehrmacht. Feindbilder, Vernichtungskrieg, Legenden" ebenso detailliert wie differenziert darlegt. Bis ins 19. Jahrhundert zurückgehend, zeichnet Wette den aus religiösen, sozialen, ökonomischen und ideologischen Quellen gespeisten fortschreitenden Antisemitismus in der preußischen Armee und in der Reichswehr nach und die parallele Entwicklung von Desinformation und Illusionen über den "tönernen Koloss" Russland,

    der dem "deutschen Drang nach Osten, der kriegerischen Landnahme im Osten, auf Kosten Russlands", im Wege stand.

    Die längst vorherrschenden antisemitischen und antirussischen Ressentiments verschmolz Hitler zu einem mörderischen rassistischen Amalgam. Diesem "diffusen Feindbildkomplex" schreibt Wette die Funktion zu,

    die deutschen Soldaten, die Angehörigen der SS sowie das übrige in Russland eingesetzte Besatzungspersonal mental in die Lage zu versetzen, das rassenideologische Programm des Nationalsozialismus, dessen Kernstücke die "Endlösung" und das deutsche Ostimperium waren, zu exekutieren.

    Aufgrund des Göring zugesprochenen Diktums

    Wer arisch ist, bestimme ich!

    durften sich Tausende unersetzliche "Voll-, Halb- und Vierteljuden" bis hinauf zum Rang eines Generalfeldmarschalls an den Verbrechen der Wehrmacht beteiligen. Mit welchen Empfindungen sie das taten, ist bislang unerforscht, vielleicht unerforschlich. Zur Wehrertüchtigung der deutschen Soldateska

    trug die antisemitische und eroberungspolitische "Indoktrination im nationalpolitischen Unterricht und ab 1939 durch die Schulungshefte des Oberkommandos der Wehrmacht" bei.

    Offizierskorps und Generalität bedurften, wie Wette nachweist, keiner Indoktrination. Seit dem Überfall auf Polen hatten sie sich als zuverlässige Exekutoren von Hitlers rassistischen Vernichtungswünschen erwiesen. Deshalb hege ich Zweifel, wenn Wette den "Schulterschluss der Generäle mit Hitler" erst auf den 30. März 1941 datiert,

    auf "die Hitlersche Geheimrede in der Reichskanzlei vor etwa 250 Generälen, die wenig später das Ostheer im Unternehmen Barbarossa befehligen sollten. Hitler wiederholte in aller Offenheit seine rassenideologischen Vorstellungen und seine Vernichtungsabsichten".

    Schon in Serbien gehorchte die Wehrmacht nicht bloß "verbrecherischen Befehlen" zur "Ermordung der Juden".

    Sie plante deren Vernichtung selbst (...). Getarnt als "Geiselerschießungen", exekutierte sie seit Herbst 1941 Tausende Juden, und zwar ohne eine ausdrückliche Weisung "von oben".

    Die von Wette ausgewählten und beschriebenen Wehrmachtsverbrechen in der Sowjetunion müssen hier nicht referiert werden. Dank der Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 - 1944" sind sie hinlänglich bekannt. Gerd Überschär und Winfried Vogel haben in ihrer Dokumentation "Dienen und verdienen. Hitlers Geschenke an seine Eliten" erst jetzt erforscht, dass sich die Generalität für ihre Untaten von Hitler üppig hat beschenken lassen. Einer sorgsamen Erforschung harrt noch das Faktum,

    dass es wohl einige Dutzend, vielleicht sogar um die hundert Angehörige der Wehrmacht gegeben haben mag, die Kriegsgefangenen, Juden und anderen politisch oder rassisch Verfolgten geholfen haben.

    Ein paar Dutzend human handelnde Menschen unter 18 Millionen Wehrmachtsangehörigen. In dem von Wolfram Wette herausgegebenen Band "Retter in Uniform" haben verschiedene Autoren das Leben und Handeln von zwölf Unteroffizieren und Offizieren dargestellt, denen ein paar hundert Juden ihr Überleben verdanken. Die meisten "Retter" kamen mit Strafversetzungen davon. Sie waren fast alle "tief religiöse" Menschen, zumeist Katholiken.

    Anders als die Propaganda des Goebbels-Ministeriums hatte die Wehrmacht gegen Kriegsende kaum etwas von ihrer Glaubwürdigkeit eingebüßt.

    Deshalb wurde die Erkundung der Volksseele durch den Sicherheitsdienstes im Laufe des Jahres 1944 von der "streng geheimen Mundpropaganda-Aktion" der Wehrmacht abgelöst. Ob die handverlesenen Propaganda-Soldaten mit ihren Durchhalteparolen geholfen haben, den Krieg zu verlängern, sagen die Dokumente nicht aus, die Wolfram Wette, Ricarda Bremer und Detlef Vogel unter dem Titel "Das letzte halbe Jahr. Stimmungsberichte der Wehrmacht 1944/45" erstmals publiziert haben. Was die Zweier-Teams - je einer in Uniform, einer in Zivil - in Kneipen, Restaurants, Kinos, auf der Straße, in der Straßenbahn oder vor Rüstungsbetrieben aufgeschnappt haben, scheint zu belegen:

    Der Antisemitismus floriert ungebrochen. Die Volksgenossen betrachten russische Sklavenarbeiter weiterhin als "Untermenschen". Deserteure können nicht streng genug bestraft werden. In Rüstungsbetrieben wird aus Materialmangel gefeiert. Trotzdem setzt das Volk der Mitläufer bis zum Februar 1945 auf den durchschlagenden Erfolg der Vergeltungswaffen. Danach erst ist in den Berliner "Stimmungsberichten" die Rede davon, dass "die Sorge um einen guten Ausgang des Krieges steigt".

    Angesichts dieser bis in die Gegenwart nachwirkenden Indoktrination und Verblendung sei dem "zweiten großen Thema" in Wolfram Wettes "Die Wehrmacht zur Zeit der Kriegseinsätze der Bundeswehr" besondere Bedeutung beizumessen, urteilt Manfred Messerschmidt:

    der Geschichte des Umgangs mit der Rolle der Wehrmacht, die zugleich eine Geschichte der Verdeckung, der Verharmlosung und der Verfälschung war, deren Folgen bis heute nicht beseitigt sind. Hier hat es sich um eine nationalkonservative "Gesamtleistung" gehandelt, begünstigt vom "Kalten Krieg", maßgeblich gefördert von Militär, Justiz und dem politischen Interesse an der Aufrüstung.

    Dieser folgenreichen Legendenbildung hat Wolfram Wette gemeinsam mit Detlef Bald und Johannes Klotz den Band "Mythos Wehrmacht" gewidmet. Die Autoren untersuchen u.a. das Zusammenwirken der NS-Generalität mit den NS-Ministern und Staatssekretären in den ersten Regierungen der Bundesrepublik und mit den US-Besatzern. Detlef Bald erinnert an die bis heute auf Deutsch unveröffentlichte "Denkschrift" der "obersten Generale und Feldmarschälle für das Internationale Nürnberger Tribunal",

    über tausend Manuskripte mit ungefähr 34.000 Seiten, in denen sie sich vehement von "Partei und SS" distanzieren und frech behaupten, nahezu alle wichtigen Entscheidungen Hitlers missbilligt und gegen Kriegsverbrechen opponiert zu haben. 1947 verlagerte sich das Interesse der amerikanischen Auftraggeber auf die Erarbeitung von Studien über die Sowjetunion.

    Das Zentralorgan der Mythenbildung wurde die von den USA gegründete "Historical Division", in der 15 Jahre lang, also bis zum Vietnam-Krieg, 250 NS-Kriegsverbrecher im Generalsrang den Zweiten Weltkrieg befehlsgemäß umdeuteten:

    Siege der Wehrmacht wurden erschrieben, ihr Erfolg und ihre Effizienz hervorgehoben und ihr Mythos bekräftigt. Die Elemente der Kriegführung, die vom völkerrechtswidrigen und rassistischen Vernichtungsdenken geprägt waren, wurden ausgeblendet, weggelassen, übersehen, beschönigt.

    Die ersten Befehlshaber der nach Druck der USA 1955 in diesem Geist gegründeten Bundeswehr ließen sich ausnahmslos als Kriegsverbrecher bezeichnen, wären sie nicht 1949 durch die "Bundesamnestie" sozusagen "freigesprochen" worden. Im Januar 1951 gab der NATO-Oberbefehlshaber Dwight D. Eisenhower eine Ehrenerklärung ab:

    Ich für meinen Teil glaube nicht, dass der deutsche Soldat als solcher seine Ehre verloren hat. Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass ein wirklicher Unterschied zwischen deutschen Soldaten und Offizieren als solchen und Hitler und seiner kriminellen Gruppe besteht.

    In der Einleitung zum "Mythos Wehrmacht" äußern Bald, Klose und Wette die Befürchtung,

    dass bei den Planungen und Vorbereitungen vermeintlich "gerechter Kriege" die Wahrheit das erste Opfer bleibt. Das gilt in besonderer Weise für die Zeit nach 1990.

    Die Autoren denken dabei an den NATO-Krieg gegen Jugoslawien, den sie jedoch, der allgemeinen Desinformation folgend, zum "Kosovo-Krieg" minimieren. Als Manko bleibt anzumerken, dass Wette nirgends in diesen vier Büchern den Zusammenhang zwischen den Verbrechen der Wehrmacht und denen der Rüstungsindustrie und der Banken analysiert.

    Wolfram Wettes Band "Die Wehrmacht. Feindbilder, Vernichtungskrieg, Legenden" ist im Frankfurter S. Fischer Verlag erschienen. 376 Seiten zu 24,90 Euro. Im Fischer Taschenbuch Verlag hat der Historiker die Sammlung "Retter in Uniform" herausgebracht. Der Untertitel benennt die Forschungsperspektive: "Handlungsspielräume im Vernichtungskrieg der Wehrmacht". 247 Seiten, 13,90 Euro. Neben Ricarda Bremer und Detlef Vogel zeichnet Wolfram Wette verantwortlich für "Das letzte halbe Jahr. Stimmungsberichte der Wehrmachtpropaganda 1944/45". Der Band ist im Essener Klartext Verlag erschienen. 449 Seiten, 29,90 Euro. Als Taschenbuchausgabe des Berliner Aufbau Verlags liegt vor: "Mythos Wehrmacht. Nachkriegsdebatten und Traditionspflege". Die Herausgeber dieses 211 Seiten umfassenden Bandes, der für 8,50 Euro erhältlich ist, sind Detlef Bald, Johannes Klotz und Wolfram Wette. Die in der Rezension erwähnte Dokumentation "Dienen und Verdienen. Hitlers Geschenke an seine Eliten" wurde von Gerd Überschär und Winfried Vogel herausgegeben. Fischer Verlag, Frankfurt. 302 Seiten, 9,90 Euro