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''Wolga'' und ''Ural''

"Eine besondere Bedeutung bekamen die dicken literarischen Zeitschriften in Rußland - so nennen wir sie auch: ‘dicke’ Journale - durch die Besonderheiten des Lebens in Rußland, durch die Geschichte Rußlands und sicherlich auch durch den besonderen Charakter seines Volkes", so Wladimir Panow, Redakteur der Literaturzeitschrift "Wolga" aus Saratow. "Da gab es immer dieses besondere Bedürfnis nach einem breiten Gespräch über alles, nach einem Ort, nach einer Tribüne, wo man über alles sprechen, alles erörtern konnte, und wo man sich bemühte das in den bestimmten Grenzen so frei wie nur möglich zu tun. Und das waren eben die ‘dicken’ Zeitschriften. Sie hatten diese Rolle nicht nur unter den Zwangsbedingungen der Sowjetzeit, wo es das freie Wort praktisch nicht gab. Auch schon vor der Revolution haben sie eine solche Rolle gespielt. Es waren also zwei Faktoren: die Besonderheiten unseres Volkes, die Spezifik der russischen Kultur, seiner Geschichte, und die Unterdrückung des geistigen Lebens. Diese beiden Faktoren ergaben diese Legierung. Ich weiß nicht, ob es irgendwo sonst in der Welt Zeitschriften dieser Art gibt. Sie wurden bei uns wirklich vom ganzen Volk gelesen. Man hat auf sie gehofft, hat auf das Erscheinen einzelner Nummern gewartet, besonders, wenn da eine interessante Debatte begonnen hatte. Hier wurden Probleme diskutiert, die sonst nirgendwo erörtert wurden, weder in Zeitungen oder wissenschaftlichen Zeitschriften noch auf wissenschaftlichen Konferenzen. Da war alles viel strenger unter Kontrolle, viel mehr von der Zensur, von allen möglichen Verboten eingeengt. Die Zeitschriften aber hatten sich - ich weiß eigentlich auch nicht, wie es dazu kam - ein ganzes Stück nun nicht gerade Freiheit, aber doch ein freieres Gespräch mit dem Volk erkämpft."

Karla Hielscher |
    Vladimir Panow gerät ins Schwärmen, wenn er die gewaltige Bedeutung dieser Zeitschriften in der Vergangenheit beschreibt. Die Redaktionsadresse des renommierten Journals weist auf eine exzellente Lage direkt an der Wolga hin: Uferkai der Kosmonauten Nr. 3. direkt neben dem Denkmal des aus Saratow stammenden Schriftstellers Konstantin Fedin. Vor dem Nachbargebäude parken mehrere schwarzglänzende Mercedes, hier befindet sich ein von finster blickenden Bodygards bewachter Billardclub der Saratower Neuen Reichen. Der Eingang zur Redaktion der Zeitschrift aber führt über einen schmutzigen Hinterhof voll streunender Katzen in düstere Kellerräume. In den nur halb die Straßenhöhe erreichenden Schaufenstern sind Bücher und Heftchen ausgestellt, und auf Anschlägen werden "Qualitätskopien ab 50 Stück zu superniedrigen Preisen" angeboten. Damit nämlich und dem Drucken von Broschüren, Formularen und Handzetteln im Auftrag von Firmen und Institutionen hält sich die Literaturzeitschrift nun - unter den Bedingungen der Marktwirtschaft - über Wasser. Eine vom Soros-Fond, der bekanntlich einen beachtlichen Teil des Kulturlebens in Ost-Europa sponsert, gestiftete Druckmaschine macht das möglich. "In letzter Zeit hat sich sehr viel verändert", so Panow. "Natürlich vor allem infolge des Ruins unseres Landes. Dadurch ist die finanzielle Grundlage der Zeitschriften völlig untergraben. Früher trugen die Zeitschriften sich selbst, arbeiteten rentabel. Sie erschienen in riesigen Auflagen, und es gab kein Finanzierungsproblem. Es gibt aber auch noch andere Ursachen: Die Vorstellungen, die Werte, die Weltanschauungen der Menschen haben sich gewandelt. Es ist etwas aus den Fugen geraten. Das Interesse an den Zeitschriften ist gesunken. Das hat aber auch objektive Gründe: man kann jetzt vieles, was früher nur in diesen Zeitschriften erörtert werden konnte - politische und weltanschauliche Fragen - in Zeitungen, auf allen möglichen Versammlungen und Konferenzen völlig frei erörtern. Das heißt die Freiheit hat den Zeitschriften das Brot genommen."

    Die dicken Literaturzeitschriften verkörpern vielleicht den wesentlichsten Teil der Literaturtradition Rußlands, seiner kulturellen Identität. Sind doch schon im 19. Jahrhundert nicht nur die großen Werke von Dostojewski und Tolstoi als Fortsetzungsromane hier zuerst erschienen, sondern in diesem Medium wurden auch alle das Land bewegenden geistigen Debatten geführt. Während der Sowjetmacht, insbesondere seit Ende der 60er Jahre, waren es diese Zeitschriften, in denen sich der rasante Zerfall der kommunistischen Ideologie manifestierte und in denen man die verdeckten ideologischen Auseinandersetzungen zwischen Liberalen und orthodoxen Stalinisten, zwischen weltoffenen Demokraten und antiwestlichen Nationalisten verfolgen konnte. Und es waren die dicken literarischen Zeitschriften, die - mit der Publikation des verdrängten und verbotenen literarischen Erbes sowie der politischen Dissidenten und Emigranten - den Prozeß der geistigen Perestrojka vorangetrieben haben. Ende der 80er / Anfang der 90er Jahre gab es einen Zeitschriftenboom, bei dem Auflagenzahlen bis zu zweieinhalb Millionen die Nachfrage noch längst nicht befriedigen konnten.

    Das ist vorbei. Die bekannten Haupstadtzeitschriften wie "Nowyj Mir" ("Neue Welt") oder "Znamja" ("Das Banner") haben sich inzwischen gestützt auch durch die Hilfe von Soros, auf einem allerdings viel niedrigeren Niveau als früher, stabilisiert. Die Zeitschriften aus der Provinz haben es da schwerer. In der Tauwetterzeit der späten 50er Jahre hatten sich in dem traditionell durch und durch zentralistisch organisierten russischen Kulturleben auch in der Provinz kulturelle Zentren gebildet. Zeitschriften, die schon in ihrem Namen stolz auf ihre Heimatregion hinweisen wie "Wolga" in Saratow, "Ural" in Jekaterinburg, "Norden" in Petropawlows, "Sibirische Feuer" in Nowosibirsk, begannen weit über ihr Gebiet hinaus auf sich aufmerksam zu machen und gingen häufig ganz eigenständige Wege. In der Phase der Perestrojka haben sie oft eine mutige Vorreiterrolle gespielt. Der Chefredakteur der "Wolga", Sergej Borowikow, zählt stolz die Namen auf, die seine Zeitschrift damals zum Teil als erste veröffentlichten und die der Zeitschrift zu einem nie gekannten Auftrieb verhalfen: Nabokov und Solschenizyn, Platonow und Tschajanow, Schmeljow und Chodasewitsch. In den Jahren 1989 bis 1991 hatte die "Wolga" fast 100000 Abonnenten. Heute ist die Auflage auf ein Hundertstel dieser Zahl gesunken, und abonniert haben sie gerade noch 600.

    Ganz ähnlich ist die Entwicklung in Jekaterinburg im Ural, jener boomenden Provinzstadt, von der aus Jelzin seinen Weg an die Macht in der Hauptstadt antrat. Der Chefredakteur der dortigen Literaturzeitschrift "Ural", Valentin Lukjanin - selbst ein bekannter politischer Publizist - kennt Jelzin persönlich und ist voller Verbitterung über ihn und dessen - wie er sagt - "von Dummköpfen und Kriminellen durchgeführten Reformkurs", der die Demokratie in Rußland auf Jahrzehnte diskreditiert habe. Lukjanin sitzt mir im sogenannten "Jugendmuseum" in Jekaterinburg gegenüber, einer alten Stadtvilla, die sich mit ihren originellen und ideenreichen Veranstaltungen und Ausstellungen zu einem qicklebendigen Zentrum der jungen Intellektuellen und Literaten der Uralstadt entwickelt hat. Die Zeitschrift "Ural" hatte zu ihrer besten Zeit eine Auflage von 120000 Exemplaren. Das war allerdings noch zu Sowjetzeiten Anfang der 80er Jahre, als man sich durch die Publikation von Krimis und Phantastik einen breiten Leserkreis geschaffen hatte. Seit der Perestrojka setzt die Redaktion mit ihrem Chefredakteur Lukjanin gezielt auf literarische Qualität. Die Zeitschrift "Ural" war es, die zum Beispiel als erste Nabokovs Roman "Die Gabe" und radikale experimentelle Prosa publizierte. Aus dem Umkreis der Zeitschrift kamen die jungen Kritiker Kurizyn und Lipowetzkij, die inzwischen in der Postmoderne-Diskussion in Moskau den Ton angeben. "Unsere Leserschaft hat sich schrittweise verändert", so Valentin Lukjanin. "Die Zeitschrift wurde allmählich immer elitärer. In dem Sinne, daß sie sich immer weniger an ein breites Publikum wandte, das Krimis liest, sondern an Menschen, die sich ernsthaft für Literatur interessieren, die sich damit beschäftigen, ihre Entwicklung verfolgen."

    Auch die Jekaterinburger Zeitschrift kämpft wie "Wolga" heute - mit einer Auflage von 1200 - ums Überleben. Es gelang dem Chefredakteur zwar, den Gebietsgouverneur von Jekaterinburg Rossel von der Notwendigkeit und dem Prestige eines derartigen Organs für die Region zu überzeugen und sie wiederum staatlich finanzieren zu lassen. Das bedeutet jedoch bei der heutigen krisenhaften Haushaltslage des Gebiets nicht etwa, daß das Geld fließt. Beide Zeitschriften "Wolga" wie "Ural" haben trotz aller Schwierigkeiten bis heute ihr literarisches Renommee bewahrt und werden weiterhin in Moskau und Petersburg aufmerksam beachtet. Ist es doch nun die wichtige Aufgabe dieser Literaturmedien, in einer Zeit der wachsenden Dezentralisierung Rußlands, junge Talente aus der Provinz zu entdecken und ihnen den Weg ins überregionale Kulturleben zu ebnen. Wladimir Panow dazu: "Man kann es beklagen, aber man kann sich auch darüber freuen, daß viele Autoren, die bei uns in der Zeitschrift ‘Wolga’ ihre Entwicklung als Schriftsteller begannen, unser Nest verlassen haben und zu prestigeträchtigeren Verlagen nach Moskau und ins Ausland gegangen sind. Aber so ist der Lauf der Dinge in der Literatur. Es ist eine unserer besonderen Aufgaben, die Provinzschriftsteller zu unterstützen. Wir entdecken sie, wir machen auf sie aufmerksam zu einer Zeit, da die Moskauer Zeitschriften sie noch nicht kennen. Wir gehen ein gewisses Risiko, ein Wagnis ein, in dem wir ihnen eine Tribüne zur Verfügung stellen. Aber das zahlt sich aus. Ein Mensch, der in der Zeitschrift ‘Wolga’ publiziert hat, der findet schon seinen Weg. Er hat sozusagen das Eintrittsbillett für alle anderen Zeitschriften des Landes in der Tasche."

    Die Zeitschrift "Wolga" etwa war es, die die Romane Jewgeni Popows zuerst veröffentlichte. Inzwischen sind sie alle ins Deutsche und andere westliche Sprachen übersetzt worden, und Popow gehört zu den bekanntesten Vertretern der Generation der russischen Postmoderne. Von der Saratower Zeitschrift wurde auch Alexej Slapowski entdeckt, der inzwischen in ganz Rußland bekannt ist. Auch Valentin Lukjanin vom "Ural" ist auf seine Entdeckungen stolz: "Man muß sagen, daß wir uns ungeachtet unser schrecklichen materiellen Schwierigkeiten in schöpferischer Hinsicht ziemlich stark fühlen. Ich bringe Ihnen wenigstens zwei drei Beispiele. Sie wissen welche Autorität in letzter Zeit der Booker-Preis hat. Jedes Jahr werden bei uns publizierte Werke für den Booker-Preis vorgeschlagen, und es gab schon Fälle daß sie auf die sogenannte Short-List der letzten Vier gesetzt wurden. Einmal war das Alexander Iwanschenko, ein Moskauer Schriftsteller. Im letzten Jahr war das Olga Slawnikowa."

    Auch Sergej Borowikow zählt stolz die Autoren seiner Zeitschrift auf, die schon als Kandidaten für den Booker-Preis, jenen englischen Literaturpreis, der im heutigen Rußland das allerhöchste Ansehen genießt, im Gespräch sind: "Ja, das sind unsere Debütanten, die es geschafft haben. Unsere Zeitschrift erscheint wie früher; wir geben sie heraus, wenn auch mit großen ökonomischen Schwierigkeiten. Aber wie seltsam das auch ist, der Strom der literarischen Werke ist nicht abgerissen. Die Literatur in Rußland hat zwar nicht mehr einen solchen Ehrenplatz wie früher, aber sie ist weiterhin da. Sie lebt."