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Wonderbook, App und Tiptoi-Stift

In Kinder- und Jugendbüchereien wird längst nicht mehr nur gelesen. In Wonderbooks wird der Nutzer selbst per Computerspiel zum Protagonisten seiner Lieblingsgeschichten. Und mit einem Tiptoi-Stift fangen die Hähne im Bauernhof-Buch plötzlich an zu krähen.

Von Angela Gutzeit | 31.08.2013
    Auf den ersten Blick ist der Wandel nicht zu erkennen: stapelweise, reihenweise Bücher in Regalen und auf den Ablageflächen der Rückgabe im Kinder- und Jugendbereich der Zentralbibliothek Köln. Aber die raumgreifende Präsenz der Druckerzeugnisse täuscht: Das Buch hat bei der jungen Generation seine Vorrangstellung bzw. Eigenständigkeit längst eingebüßt, ist mehr denn je nur noch Teil einer vielgestaltigen Unterhaltungskultur. Nun ist diese Tendenz wahrlich nicht neu. Schließlich sind Generationen mit Filmen, Schallplatten, Hörkassetten und CDs großgeworden. Und die literarischen Stoffe aus Gutenbergs Welt haben längst Eingang gefunden in auditive und audiovisuelle Produktionen, deren technische Darbietungsformen sich immer schneller verändern, verfeinern, verzweigen. Das klassische Kinder- und Jugendbuch, das über viele Generationen Literaturerwerb und Lesesozialisation garantierte, geht darin auf wie in einem großen multimedialen Hefeteig. Das heißt, die Grenzen zwischen den Medien verschwimmen.

    Das Kinder und Jugendbuch passt sich von Inhalt, Form und Sprache vielgestaltig den veränderten Rezeptionsgewohnheiten an. Andererseits wird dessen Inhalt aufgesogen von anderen Medien. Ist das nun ein Drama? Geht eventuell eine Literaturtradition verloren, die über viele Generationen junge Lesende prägte? Und drohen unsere Kinder zu literarischen Analphabeten zu werden? Schauen wir zunächst, was eine Kinder- und Jugendbibliothek, die bewusst mit der Zeit gehen und sich nicht gegen sie stellen will, zu bieten hat.

    Pamela Baber, die zum Leitungsteam des Kinderbereichs in der Kölner Zentralbibliothek gehört, hat zwei Bilderbücher auf den Tisch gelegt, ein Dinosaurier-Buch und auf dem anderen liest man "Entdecke den Bauernhof". Was altbekannt zu sein scheint, entpuppt sich im nächsten Moment als interaktives Powerpaket. Die Bibliothekarin nimmt einen dicken Stift und im nächsten Moment grunzt das Schwein bei Berührung oder kräht der Hahn, wenn man ihn antippt mit dem sogenannten Tiptoi-Stift.

    Und auch aus den Tiefen des Dino-Buches ertönen mithilfe eines sogenannten Ting-Stifts, einem ähnlichen Zauberstab aus der multimedialen Welt, Geräusche und Stimmen.

    "Das ist auch ein Stift, mit dem man sich das Buch erschließen kann. Man muss nur auf diesen Stift auch immer die Datei geladen haben, sonst erkennt er das Buch nicht. Dann gibt es am Anfang des Buches immer so ein Zeichen, auf das man tippen muss, damit der Stift weiß, welches Buch jetzt damit betrieben werden soll. Man kann sich übrigens auch den Text vorlesen lassen."

    "Das stand jetzt z.B. nicht im Buch. Das war jetzt einfach draufgetippt. Das war ´ne Zusatzinformation jetzt. Also, das Schöne am Buch ist, dass man es auch weiter nutzen kann. Also, man kann nicht nur den Text lesen, sondern man kann sich auch Geräusche anhören. Man kann sich noch Hintergrundwissen anhören, wenn es einen interessiert, was hier nicht abgebildet ist. Und das ist eben das Schöne daran."

    Das Schöne kann man aber auch kritisch sehen: Man setzt das Kind mit dem Buch in die Ecke und überlässt es sich selbst. Der vorlesende Erwachsene mit seiner gestischen und stimmlichen Ausdruckskraft ist überflüssig geworden. Hier ist es das Buch, das sich verändert. Längst aber bieten Verlage schon sogenannte Literatur-Apps für den Tablet-PC oder das I-Phone an mit interaktiven Aufbereitungen von Grimms Märchen, von "Alice im Wunderland", "Robin Hood" oder "Benjamin Blümchen". Spielerische Erkundung und Teilhabe am Geschehen stehen hier im Vordergrund. Das Lesen oder Betrachten der Bilder ist hier nur noch eine Variante von mehreren. Da bei Weitem nicht allen Kindern vorgelesen wird, kann diese Vermittlungsform auch sinnvoll sein. Wie auch immer - die Tendenz weg vom lebendigen Vorleser, hin zum technischen Apparat als Direktvermittler ist unübersehbar. Prof. Hans-Heino Ewers vom Kinder- und Jugendbuch-Institut der Universität Frankfurt beschreibt die Situation so:

    "Die Vermittlungsstrukturen von Literatur haben sich sehr tiefgreifend verändert. Heute gerät die Leseempfehlung bezüglich bestimmter Angebote für Jugendliche - heute läuft die nicht mehr über die klassischen Ebenen. Der Erwachsene als Vermittler tritt fast gar nicht mehr in Erscheinung. Auch die hochgelobte Buchhändlerin als beratend für erwachsene Käufer von Kinderbüchern, tritt ebenfalls wenig in Erscheinung. Die Bibliothekarinnen der Kinder- und Jugendbuch-Abteilungen haben auch an Bedeutung verloren. Es findet eine Art Direktkommunikation, Direktvermarktung über das Internet statt, über die sozialen Netzwerke und dergleichen mehr. Und diese Ausschaltung der traditionellen Vermittler, finde ich, hat tiefgreifende Folgen gehabt, insofern als sich die Angebote der sogar auch Traditionsverlage wirklich in eine ganz, ganz moderne Unterhaltungsindustrie verwandelt haben."

    Zumindest was die Funktion der Bibliothekarinnen in der Kinderbuch-Abteilung angeht, sehen die Kölner Bücherei-Fachfrauen wie Cordula Nötzelmann, zuständig für die Stadtteilbibliotheken, die Sache doch etwas anders:

    "Es ist anspruchsvoller geworden. Das Berufsbild hat sich sehr stark geändert in der Hinsicht, dass wir noch stärker in die Beratung gehen. Wenn Eltern bei dem großen, großen Medienangebot in allen Formen jetzt verunsichert sind und sagen: Was empfehlen Sie denn jetzt? In diesem großen Wust an Informationen und Büchern, da sind wir die Lotsen, ne? Das ist schon ganz klar. Die Frühförderung setzt jetzt viel eher ein. Die Eltern sind verunsichert. In der bibliothekarischen Ausbildung wird dem auch Rechnung getragen durch medienpädagogische Anteile, durch Leseförderungs-Know-how, was vor 20/30 Jahren noch nicht die große Rolle spielte. Da war eher wichtig: Wie stellen wir die Bücher ins Regal, dass die gefunden werden. Ganz klassisch. Wir gehen jetzt doch noch mehr zu der Kunden-Orientierung über, also zur Vermittlung unserer Bestände."

    Zum Bestand gehört mittlerweile auch eine sogenannte Wii-Spielkonsole. Die silbernen Scheiben, die hier eingelegt werden können, beziehen sich zum Teil auf bekannte Kinderbücher. Mit einer Fernbedienung kann die Handlung auf dem Bildschirm vorangetrieben werden und immer wieder gilt es, Aufgaben zu lösen, um weiter zu kommen. Ein Prozess, der den Kindern den Eindruck vermittelt, immer mehr Teil des Geschehens zu werden. Die Bibliothekarinnen begegnen diesen interaktiven Novitäten betont aufgeschlossen. Aber ein bisschen hat man schon das Gefühl, das funktioniert nach dem Prinzip: Was die Medienindustrie hervorbringt, also sich nicht verhindern lässt, wollen wir wenigstens im positiven Sinne flankierend begleiten.

    Eine Alternative zu dieser Haltung gibt es auch wohl nicht. Würden die Bibliotheken sich verweigern, würden sie das jugendliche Publikum bald verlieren und damit auch jede sinnvolle Einflussnahme und Gestaltungsmöglichkeit. Der Renner bei diesen Spielen ist übrigens in den meisten Bibliotheken, die diese Spielkonsolen anbieten, "Harry Potter". In der Kölner Zentralbibliothek zündet aber durchaus auch noch die altbewährte Kinderbuch-Detektiv-Reihe "Die drei ???". Neben den Büchern wird hier z. B. die Folge "Das verfluchte Schloss" als Computerspiel bereitgehalten, wie Cordula Nötzelmann demonstriert.

    "Ich habe Ihnen mal die ‚Drei ???‘ als Computerspiel auf die Wii gelegt. Da kann man ganz gut sehen, wie diese Medienformen ineinander übergehen, konvergieren, sich zu interaktiven Inhaltsvermittlungsformen aufs Schönste zueinander fügen. Und viele Eltern sehen das auch. Wir haben auch hier die ganze Bandbreite von Eltern, die sehr stark noch konservativ aufs Buch Wert legen, die aber sagen, mein Kind spielt ohnehin am Computer, da soll es doch wenigstens was Anständiges spielen. Da nehmen wir das gute Jugendbuch, das es in der Form als Spiel gibt und da weiß ich, das ist in Ordnung und die Bibliothekarin hat das geprüft und das ist alles jugendschutzrechtlich in Ordnung. Dann sehen die auch, dass da viel gelesen wird in diesen Spielen. Man muss die Texte lesen, man muss die Anleitungen lernen. Man kann sich auch dort mit Charakteren identifizieren - wie beim Lesen auch. Ist nur ein bisschen interaktiver."

    Diese Wii-Spiele setzen nicht unbedingt voraus, dass man die Bücher gelesen hat, aber sie regen zweifellos dazu an, das nachzuholen. Da man mit mehreren spielt, ist es nur vorteilhaft, wenn man Kenntnisse über die Abenteuer der kleinen Detektive vorweisen und mit Wissen über deren charakterliche Eigenarten und besonderen Vorzüge zu brillieren vermag.

    "Wir stellen also fest, wenn man sich für einen Stoff begeistert, dann in jeglicher Form, ne? Dann will man auch das Buch lesen, vergleichen. Das gibt einen großen Zweig an Erforschungen der Auswirkungen von Computerspielen auf Lese und Lernprozesse. Seit auch der Deutsche Kulturrat 2008 gesagt hat, Computerspiele sind Kulturgut. Offiziell wird da ´ne Menge getan in der Medienpädagogik, aber auch in der Pädagogik insgesamt - und im Schulbereich. Also, es ist gut erforscht."

    Der neueste Schrei ist das Wonderbook". Hier ist es mit dem Gemeinschaftssinn gar nicht gut bestellt, da dieses Spiel nur für einen Akteur vorgesehen ist. Das "Wonderbook" ist ein Computerspiel für die Playstation 3, die zusammen mit einem präparierten Buch, einer Kamera und einem Controller funktioniert. Erst einmal wurde es nur für das Harry-Potter-Universum konzipiert. Es gibt ein weiteres "Wonderbook", das sich aber nicht auf eine literarische Vorlage bezieht. Die Funktionsweise zu erklären ist kompliziert. Deshalb nur so viel: Das Kind oder der Jugendliche hat ein Buch vor sich, das nur aus Codes besteht. Mithilfe des Controllers, der im Spiel zum Zauberstab wird, und der die Zeichen liest, und einer Kamera, die den Spieler erfasst, kann er sich selbst auf dem Bildschirm in die Abläufe einbinden und den Spielverlauf mithilfe seines Zauberstabs lenken. Ein bisschen viel Hokuspokus das Ganze. Hier ein Ausschnitt aus dem Harry-Potter-"Wonderbook":

    "Harry-Potter- Wonderbook."

    Vor dem Bildschirm sitzt Jenny Kruse von der Stadtteilbibliothek Köln-Kalk und entfacht mit ihrem Zauberstab Feuersbrünste und lässt Drachen fliegen. Die leidenschaftliche Gamerin meint zu Sinn und Unsinn dieser neuesten Erfindung der Spiele-Industrie:

    "Also, das Wonderbook finde ich eigentlich super gemacht. Ich denke, dass es wirklich gut ist, wenn die Kinder kommen und das Spiel spielen, dass wirklich Interesse geschaffen wird. Es ist immer wieder eine große Manie - und darüber dann Interesse bekunden und bekommen, um zu lesen. Es ist auch die Hoffnung, dass sie natürlich lesen. Also ich finde, es ist eine Überbrückung. Von den Kleinkindern, die das Spiel lernen und dann zu den Büchern gelangen. Aber im Grunde genommen hat das Spiel so gesehen mit den Büchern eigentlich nicht viel zu tun, außer mit der Zauberei, die betrieben wird, und den Zaubersprüchen. Aber es ist nicht geschichtlich so aufgebaut, wie man es von den Büchern oder dem Film her kennt."

    Kurz und gut: Beim Harry-Potter-"Wonderbook" kommt man ohne die literarische Vorlage aus. Aber da echte Harry-Potter-Fans eigentlich jedes Detail aus Joanne K. Rowlings Fantasy-Welt parat haben wollen, lockt vielleicht dann doch irgendwann einmal die Lektüre.

    Nina Bätzgen, in der Bücherei Hilden für den Kinder- und Jugendbereich zuständig, kennt auch aus ihrem Erfahrungsbereich dieses zunehmende Ineinandergreifen der Medien. Sie hat erst vor sechs Jahren ihre Diplomarbeit abgeschlossen und zwar über "Moderne Literaturadaptionen eines Klassikers der Kinder- und Jugendliteratur", nämlich über Antoine de Saint-Exupérys "Der kleine Prinz". Sie ist also mit dem Thema vertraut und auch vom Alter her noch sehr nah dran an der nachwachsenden, oft schon von Kindesbeinen an gut vernetzten Generation. Sie sieht in der multimedialen Entwicklung sehr viel positives Potential.

    "Ich glaube schon, dass solche multimedialen Umsetzungen das Leseerlebnis ergänzen und nicht zerstören. Es gibt ein deutliche Vernetzung. Die Jugendlichen lesen nicht nur Bücher, sondern leihen sich natürlich auch Hörbücher aus, die wir anbieten. Nehmen auch ein E-Book mit, spielen auch die Computerspiele dazu. Das ist eine Ergänzung zum Buch hin."

    Computerspiele und Apps sind nach Nina Bätzgens Beobachtung ein großer Renner, der auch von Kinder- und Jugendbuchautoren offensichtlich zunehmend als Chance zur Vermittlung ihrer Bücher und Geschichten gesehen wird.

    "Also, ich weiß, dass Cornelia Funke z.B. ihr Buch "Reckless" auch als App herausgebracht hat. Da ist es so, dass die Geschichte präsentiert wird, auch als Text. Es gibt Hörbeispiele oder Geschichten, die sie selber vorliest. Diese Geschichten hat sie extra zusätzlich für dieses App geschrieben."

    "Ich denke, dass das eine schöne Möglichkeit ist, in die Geschichte einzutauchen, dass man eben nicht nur liest und sich eigene Gedanken macht, sondern dass man vielleicht noch andere Aufgaben erledigen kann. Dass man vielleicht in dieser Geschichte selber der Held ist und Abenteuer erleben kann."

    Für Prof. Hans-Heino Ewers ist genau dies eine hochinteressante Entwicklung. Er beobachtet sogar bei seinen Studenten, dass "die aufgeklärte Trennung zwischen Wirklichkeit und Fiktion", wie er in unserem Gespräch meinte, immer mehr durchlöchert wird. Das Übergewicht der Bildkommunikation mit ihren starken und schnellen Anreizen hat offensichtlich das Rezeptionsverhalten beim Lesen von gedruckten Texten schon verändert. Aber was sich da wirklich tut, ist ein noch zu erforschendes weites Feld für die Wissenschaft und Pädagogik. Wer das nur kulturkritisch sieht und mit der schwindenden Bedeutung des gedruckten Buches und der gewandelten Aufnahme von literarischen Inhalten den Untergang des Abendlandes heraufziehen sieht, vergibt eine Chance in zweierlei Hinsicht. Erst einmal würde man übersehen, über welche interessanten künstlerischen Möglichkeiten neue Bildmedien - wozu auch die prosperierende Graphic Novel zu zählen ist - verfügen, um aus dem schöpferischen Reichtum der literarischen Vorlagen Funken zu schlagen. Literatur wird im Kinder- und Jugendbereich zunehmend zum Spiel- und Erlebnisraum und der Rezipient zum Akteur. Der Phantasie und damit auch der Literatur muss das nicht schaden - wie Ewers anklingen lässt.

    "Ich würde sagen, ich bin immer wieder erstaunt, wie Adaptionen, seien es Film-Adaptionen, seien es Comic-Adaptionen von Klassikern - wie großartig die gelingen! Wie diese Adaptionen aus den Klassikern Bedeutungsdimensionen herausholen, auch Bedeutungsdimensionen, die man als durchaus aktuell bezeichnen kann. Also, da wird eigentlich ganz Hervorragendes geleistet. Auch hier würde ich sagen, spielt eben auch die visuelle, also die bildliche Kommunikation eine Rolle in einem Maße, wie wir das in der Form früher nicht kannten. Interessant ist zu beobachten bei den Klassikern der Fantasy-Romane, denken wir an die Tolkien-Werke, "Der kleine Hobbit" und "Der Ring" ... Wenn Sie sich die frühesten Illustrationen anschauen, dann müssen Sie heute lächeln, weil die Imaginationen der ersten Illustratoren eine ganz andere war als die, die wir heute aus dem Film kennen. D.h., die Verfilmungen, die bildlichen Umsetzungen dieser Literatur infizieren und beeinflussen unsere Phantasie. Und ich glaube, zumindest im Bereich der Fantasy mit den neuen Filmtechniken der Computeranimation ist uns zum ersten Mal bildlich vorgeführt worden, welche gewaltige Dimension diese Art von Literatur hat."

    Der zweite Grund, weswegen man die neue Medienkultur und bilddominierte Literaturrezeption der heutigen jungen Menschen nicht ignorieren oder verdammen sollte, lässt sich ganz einfach formulieren: weil man den Kontakt zu ihnen nicht verlieren sollte. Ewers, der Professor von der Frankfurter Uni, sieht da bereits in eine gähnende Kluft.

    "Es gibt einen bestimmten Kulturbereich und den würde ich auf bestimmte Medien beziehen, ein Kulturbereich, der von älteren Generationen getragen wird und wo ein tiefes Fremdheitsgefühl gegenüber dem stattfindet, was jüngere Generationen produzieren. (...) Die Erfahrung, die ich mache ist, dass der etablierte Kulturbereich einfach aufgrund einer, ja, tiefsitzenden Arroganz und Hochnäsigkeit gegenüber der Popularkultur vollkommen verkennt, welche Aufarbeitung der gesamten weltliterarischen Tradition dort stattfindet. Und dass sozusagen der Hochkulturbereich sich flexibilisieren muss und in eine Kommunikation mit Populärkulturen treten muss. Sonst gibt es einen Generationenbruch, nicht?"

    Halten wir fest: Besonders Computer und Internet haben sich bei Kindern und Jugendlichen als Leitmedien etabliert. Das gilt für den Unterhaltsbereich, aber auch für die Lern- und Wissenskultur - was in gut ausgestatteten Bibliotheken schön zu beobachten ist. Das Medium Buch tritt nur noch ergänzend hinzu, in den vergangenen Jahren auch verstärkt als Sekundärverwerter von Film- und Fernsehangeboten.

    Literarische Stoffe werden heutzutage in den verschiedensten medialen Formen verarbeitet und aufgenommen. Welche Konsequenzen das z.B. für anspruchsvolle Kinder- und Jugendbücher hat, die sich nicht in die neuen medialen Vermittlungsformen einfügen, lässt sich noch nicht absehen. Man sollte auf jeden Fall ein waches Auge darauf halten, inwieweit multimediale Inszenierungen von den literarischen Vorlagen überhaupt noch etwas übrig lassen. Vielleicht überleben so manche von ihnen auch nur noch als Schullektüre.

    Schon vor Jahren wiesen Prof. Ewers wie auch andere Wissenschaftler darauf hin, dass man wahrscheinlich mit dem Niedergang oder wenigstens einer Zurücknahme moderner Literaturformen und -gattungen wie dem anspruchsvollen Adoleszensroman oder dem Kinder- und Jugenddrama rechnen müsse. Das ist wohl der Preis der Multimedialisierung der Lebenswelt - mittlerweile auch schon der der Jüngsten. Aber dieses Thema lässt sich hin- und herwenden und immer finden sich zu kritischen Gesichtspunkten auch wieder nützliche oder beruhigende Gegenargumente.

    So gibt es ein sehr interessantes und anschauliches Heft aus der Reihe "Praxis Grundschule", in dem die beiden Didaktik-Professorinnen Anita Schilcher und Karla Müller die Meinung vertreten, dass viele Kinder Heidi, Pinocchio, Nils Holgersson oder Jim Knopf nicht aus Büchern kennen würden, sondern aus audiovisuellen Medien.

    Ja, diese Helden der klassischen Kinderliteratur hätten wahrscheinlich gar keinen Eingang in den Literaturkanon gefunden, wenn sie nicht über mediale Adaptionen verbreitet worden wären. Und überhaupt, so schreiben die beiden Wissenschaftlerinnen, Literatur wäre immer schon über verschiedene mediale Formate - wie in früheren Zeiten durch orale Überlieferung, Minnegesang oder das Theater - transportiert worden. Das habe sich grundlegend geändert, sodass wir heute das intime Lesen als Idealform literarischen Genusses und als Voraussetzung für das Lernen verabsolutierten. Besser wäre es, die heutige mediale Vielfalt für die literarische Bildung zu nutzen.

    Und ansonsten, so lässt sich abschließend sagen, müssen wir vielleicht einfach akzeptieren, dass in der Kinder- und Jugendkultur völlig neue Strukturen der literarischen Kommunikation aufscheinen - und ihnen wird die Zukunft gehören!


    Weitere Informationen:
    Christian Dawidowski: Literarische Bildung in der heutigen Mediengesellschaft. Eine kultursoziologische Leseforschung. Peter Lang Verlag

    Hans-Heino Ewers (Hrsg.): Lesen zwischen Neuen Medien und Popkultur. Kinder- und Jugendliteratur im Zeitalter multimedialen Entertainments. Juventa Verlag

    Gerhard Härle/Gina Weinkauff (Hrsg.): Am Anfang war das Staunen. Wirklichkeitsentwürfe in der Kinder- und Jugendliteratur. Schneider Verlag

    Anita Schilcher/ Karla Müller: Literarisches Lernen mit Medien. In: Praxis Grundschule Heft 6/2010. Westermann

    John R.R. Tolkien: Der kleine Hobbit/Der Herr der Ringe. dtv

    Entdecke den Bauernhof. Für interaktiven Tiptoi-Stift. Ravensburger

    Dinosaurier. Ein Buch zum Lesen, Lernen und Hören. Für interaktiven Ting-Stift. Velber Verlag

    Antoine de Saint-Exupéry: Der kleine Prinz.Verschiedene audiovisuelle Adaptionen u.a. beim Verlag Edel Germany CD/DVD

    Grimms-Märchen/ u.a. Schneewittchen. Kinderbuch-Literatur-App. Verlag Oetinger

    Weitere Kinderbuch-Apps zu "Robin Hood", "Pinocchio", Grimms Märchen, "Alice im Wunderland" etc. von verschiedenen Anbietern u.a. "Märchen Labyrinth 123".

    "Die drei ???", Folge: "Das verfluchte Schloss". Kiddinx. Für Wii-Spielkonsole

    Joanne K.Rowling: "Harry Potter"- Wonderbook. Das Buch der Zaubersprüche für Playstation 3. Sony Computer Entertainment