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Wortgewalt und missionarischer Eifer

Der Rostocker Pastor Joachim Gauck war der erste Leiter der Stasi-Unterlagen-Behörde. In der Öffentlichkeit bürgerte sich rasch der Begriff Gauck-Behörde ein. Im Januar feiert Joachim Gauck seinen 70. Geburtstag - schon jetzt hat er seine Memoiren vorgelegt.

Von Jacqueline Boysen | 16.11.2009
    Ich kam von der Universität als ein Mensch, der sich ständig selbst infrage stellte und seine Unsicherheit durch ein forsches Auftreten kompensierte.
    Seit fast zehn Jahren ist er im Ruhestand. Doch daran, dass Joachim Gauck ein forsches Auftreten hat, können wir uns wohl alle gut erinnern. Unvergessen sind Wortgewalt und missionarischer Eifer des ersten ostdeutschen Chefs einer gesamtdeutschen Behörde, der sich in seinen zehn Dienstjahren zur moralischen Instanz entwickelte.

    "Schuld ist eine merkwürdige Sache. Viele Völker denken, man muss sie nicht besprechen und sie verschwindet automatisch. Das ist doch gerade das, was wir Deutsche gelernt haben, dass eine Nation sich nicht verliert, wenn sie zu ihrer Schuld steht, und dass sie ein neues Gesicht bekommt, dass sie auch glaubwürdig wird und nicht nur für die Außenwelt um uns herum, sondern für die eigenen Landsleute. So kann sich eben Distanz zur eigenen Nation dann wandeln auch in Bejahung, aber doch nicht durch Herumdrücken. Deshalb mein Appell: Wir können nicht per Ordre de Mufti sagen, jetzt interessiert uns alles nicht mehr, sondern wir erwarten, dass dieser Prozess, der eingeleitet ist, die Wahrheit zu benennen und auch Schuld zu benennen und nicht nur strafrechtliche Schuld, sondern auch politische Verantwortung und moralische Schuld zu benennen und zu besprechen. Das ist ein heilsamer Prozess und er führt letztendlich zur Befreiung."
    Der Pastor aus Mecklenburg hatte seine Berufung gefunden: Als Herr über die Geheimdienstakten der DDR erklärte er wieder und wieder, was aus den schrecklichen, den beschämenden und den auch entlastenden Dokumenten der Staatssicherheit zu lernen sei. Hartnäckig verteidigte er erst den Erhalt der Akten und dann die Öffnung der Archive als Errungenschaft der Demokratie, als Konsequenz aus der friedlichen Revolution und als Mittel gegen die Verharmlosung der Diktatur. Und nun, kurz vor Vollendung seines 70. Lebensjahres stellt er neben das Bild dessen, der mit der Kraft des Wortes Freund und Feind betäubt, auch einen unsicheren jungen Mann: den Vikar, der im Glauben zweifelt, der sich ins Gemeindeleben einfinden muss und der im Realsozialismus aneckt. Vor dem Mauerbau, als 15-Jähriger, reiste er nach Paris. In Westberlin bewunderte er das bohèmehafte Leben seiner Freunde. Daheim in Mecklenburg aber hatte Joachim Gauck bereits als Kind erlebt, was Willkür bedeutet: 1951 wurde sein Vater verhaftet:

    Selbst uns Kindern war dieses Wort vertraut, es signalisierte Unheil und Gefahr. Dass schon in der Ära der braunen Diktatur "abholen" eine böse Bedeutung hatte, würde ich erst später erfahren. Aber alle wussten damals: Wer in der Kneipe zu tief ins Glas schaute und ungeschützt redete, wer bei Familienfeiern zu laut politische Witze erzählte oder Lieder von gestern sang, wurde schnell gewarnt: "Halt den Mund, oder willst Du abgeholt werden."
    Der Vater von Joachim Gauck wurde aus nichtigem Anlass zu zweimal 25 Jahren Haft verurteilt, angeblich hätte er mit westlichen Geheimdiensten kooperiert und antisowjetische Hetze betrieben, dafür musste er in die Verbannung nach Workuta.

    Das Schicksal unseres Vaters wurde zur Erziehungskeule. Die Pflicht zur unbedingten Loyalität gegenüber der Familie schloss auch die kleinste Form von Fraternisierung mit dem System aus. Das machen wir nicht, vermittelte uns die Mutter unmissverständlich. Ich hatte dieses Gebot so verinnerlicht, dass ich nicht einmal mehr durch die Freizeitangebote der FDJ in Versuchung geriet. Dafür lebte ich in dem moralisch komfortablen Bewusstsein: Wir sind die Anständigen.
    Diese Maxime nährte Joachim Gauck. Aus seinen Erinnerungen wird deutlich, wie seine Unbeugsamkeit wuchs. Er lernte den aufrechten Gang, geriet auch später als Pastor immer wieder in Konfliktsituationen und verteidigte andere Menschen gegen Ungerechtigkeit. Zum Kreis der frühen aktiven, politischen Kämpfer wider das Regime aber zählt er sich nicht.

    Für mich war Heimat frühes Glück.
    Sie beginnt leider etwas schwülstig, die Schilderung der Kindheit in Mecklenburg. Für die Besinnung auf die eigene Jugendzeit findet Gauck nicht das rechte Vokabular. Doch je weiter er in seiner Erinnerung voranschreitet, umso authentischer klingt der Rückblick. Aus kleinen Begebenheiten spricht die geistige Enge der DDR. Deutlich wird die Insellage der evangelischen Kirche, die sich in Mecklenburg gegen die ideologische Flut zu schützen suchte, während sich die benachbarte Greifswalder Kirche in Staatstreue übte und kollaborierte. Gauck berührt ein lange tabuisiertes deutsch-deutsches Thema: die Ausreise: Sehr eindrücklich schildert er die Verlusterfahrung, die seine Frau und er machen mussten, nachdem drei ihrer vier Kinder in die Bundesrepublik übergesiedelt waren.

    Wir werden bleiben wollen, wenn wir gehen dürfen, predigte er auf dem Kirchentag 1988 in der Rostocker Marienkirche – und gelangte mit diesem Satz in die Nachrichten der Feindsender ARD und ZDF. Die Ereignisse der friedlichen Revolution, die Mecklenburg später erreichte als den Süden der Republik, aber nicht weniger machtvoll erschütterte, überschlugen sich. Gauck brach auf in die außerkirchliche Öffentlichkeit, engagierte sich im Neuen Forum. Wurde an den runden Tisch entsandt. Sein politischer Aufbruch gipfelte in seinem Amt als Behördenchef. Wie ein Krimi liest sich Gaucks Beschreibung der letzten, turbulenten Monate der DDR. Der Autor lässt die Vielstimmigkeit der Akteure erklingen, er positioniert sich, aber auch die anderen: jene, die Vorbehalte gegen eine rasche Wiedervereinigung hatten und jene, die verunsichert waren vom gesellschaftlichen Wandel und von der Dominanz der Westdeutschen.

    Wir lernten viel über die demokratischen und parlamentarischen Gepflogenheiten -, aber es gab auch einen Nachteil: Wir waren die Laienspieler, sie die Profis. Überall wurde der Ostdeutsche, der gerade noch der Sieger der Geschichte gewesen war, zum Lehrling. Mancher fühlte sich da fremd im eigenen Land.
    Joachim Gauck lässt in seinen Memoiren Platz für andere – erstaunlich viel Platz. Personen, die ihn prägten wie der aufrechte Bischof der mecklenburgischen evangelischen Kirche, Heinrich Rathke, aber auch Mitglieder seiner Gemeinde, Oppositionelle oder sein erster Pressesprecher David Gill begegnet Gauck im Rückblick mit hohem Respekt und ehrlicher Dankbarkeit. Unter anderem erhält Hansjörg Geiger, erster Verwaltungsdirektor der Gauck-Behörde und Pionier beim Aufbau der umstrittenen Einrichtung, Gelegenheit, aus eigener Sicht zu berichten. Auf zehn Seiten beschreibt der bayerische Jurist die Aufbauphase der weltweit einmaligen Einrichtung: den Kampf zwischen Bürgerrechtlern, Besetzern der Stasi-Archive auf der einen Seite und westlichen Geheimdiensten, die ihrerseits Einfluss nehmen wollten, sowie den hochrangigen Bonner Befürwortern der Aktenvernichtung auf der anderen Seite. Gauck passt die Schilderungen in den eigenen Text ein, ohne sich fremder Verdienste zu rühmen. Es ergibt sich ein facettenreiches Bild, zum Beispiel, wenn er den Mauerfall nicht als wichtigstes Ereignis der Zeitenwende beurteilt. Obgleich selbst Verfechter der Einheit, weckt Gauck Verständnis für die "andere" DDR-Opposition, die eine Reform des sozialistischen Staates und nicht dessen Verschwinden anstrebte. Joachim Gauck selbst nahm den Weg in den Westen mit Bravour. Er bezeichnet sich als "demokratischen Fundamentalisten" und die lohnende Lektüre des Buches zeigt schlüssig, wie er dazu wurde.

    Jacqueline Boysen, angetan von den Erinnerungen von Joachim Gauck. Unter dem Titel "Winter im Sommer – Frühling im Herbst" sind die 350 Seiten im Siedler-Verlag erschienen – zum Preis von Euro 22.95, ISBN: 3886809358.