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Wortkaskaden mit Hühnerbrühe

Nach seinem Erfolg mit dem Roman "Dreckskerl" vor sechs Jahren war es still geworden um Wojciech Kuczok. Jetzt meldet sich der polnische Autor mit einer Geschichte über drei Menschen zurück, die beschlossen haben, ihr Leben radikal zu ändern.

Von Marta Kijowska | 28.02.2011
    "Es begann damit, dass sie ein paar Mal am Tag das Bewusstsein verlor, und zwar in der Regel dann, wenn Herr Ehemann sich für längere Zeit eher zärtlich als prinzipiell zeigte und dabei Rosa geschickt und körperlich zu überreden versuchte, ihren Urlaub um eine Schwangerschaft zu verlängern."

    Narkolepsie heißt die Krankheit, an der Rosa, eine der drei Hauptfiguren in Wojciech Kuczoks neuem Roman, leidet. Sie ist eine bekannte Schauspielerin und eines der bestbezahlten Gesichter der Werbebranche. Doch sie ist nicht wirklich glücklich, und der Grund dafür ist eben ihr Ehemann. Er ist ein erfolgreicher Finanzexperte, der sein Privatleben wie seine Geschäfte managt: Die Bilanzen müssen stimmen, und dazu gehören eine vorzeigbare Frau und ein Kind. Und da sie ihm dieses nicht schenkt und auch noch ständig ihre seltsamen Schlafanfälle bekommt, betrügt er sie nach Strich und Faden.

    Er weiß nicht, dass seine Unaufrichtigkeit der Auslöser ihrer Krankheit ist. Sie selbst weiß es anfangs auch nicht. Doch dazu ist ja Wojciech Kuczok da - um sie und die beiden anderen Protagonisten aus ihrer "Lethargie" zu wecken. Die beiden anderen, das sind Robert und Adam. Robert ist ein Schriftsteller mittleren Alters. Früher sehr produktiv, leidet er seit einiger Zeit unter Schreibblockade, und seine Krise scheint etwas mit seiner Frau und seinen Schwiegereltern zu tun zu haben. Beide Paare leben unter einem Dach, und Robert weiß kaum noch, was ihm am meisten zusetzt: die Wutausbrüche seiner Angetrauten, der Kontrolltick seines Schwiegervaters oder die Bigotterie seiner Schwiegermutter.
    Adam ist ein angehender Arzt, der seine homosexuellen Neigungen unterdrückt. Er tut es wegen seiner konservativen Eltern, die in einem schlesischen Dorf leben. Vor dort ist er einst in die Stadt geflüchtet, doch jetzt, nach der frisch abgelegten Ärzteprüfung, fährt er wieder dahin. Zu Besuch, wie er denkt. Doch die Eltern sehen es anders und schenken ihm gleich zur Begrüßung ein kleines Haus. Als Adam, der sich soeben in einen Kleinkriminellen verliebt hat, das Geschenk ablehnt, ist es nur der Rückfall in die alten familiären Rituale, der einen neuen offenen Konflikt abwendet.

    "Hühnerbrühe zu dritt. Sie sitzen bei der Hühnerbrühe. Solange die Welt besteht, werden für die Zeit der Hühnerbrühe alle Zwistigkeiten, Fronthandlungen, heraufziehenden Katastrophen begraben, die Hühnerbrühe steht außerhalb der Wirklichkeit, die Hühnerbrühe braucht Ruhe, erfordert volle Konzentration, verlangt die Gründung einer Gemeinschaft der Hühnerbrühenstille, die nur bisweilen vom Geräusch der gegen den Teller klirrenden Löffel unterbrochen werden darf."

    Wenn man solche Passagen liest, glaubt man, den Wojciech Kuczok wiederzuerkennen, von dem die Kritiker nach dem Erscheinen von "Dreckskerl" schwärmten, er sei ein besonders stilsicherer Autor, der das Talent besitze, "sowohl die einfachsten als auch die grausamsten Dinge in einer faszinierenden Weise darzustellen". Diese Begabung stellt er auch in "Lethargie" unter Beweis, ohne Zweifel: Empathie wechselt sich mit Distanz ab, Ernsthaftigkeit mit Witz und Satire.

    Und doch ist diesmal etwas anders. Die viel gerühmte Stilsicherheit scheint Kuczok streckenweise zu verlassen, fast hat man den Eindruck, als wüsste er manchmal nicht recht, für welche literarische Konvention er sich entscheiden soll. Diese Unentschiedenheit versucht er, durch ein Augenzwinkern in Richtung Publikum zu kaschieren - meistens indem er darauf hinweist, dass das Buch die Vorlage zu einem Film sei, und sich selbst eine Art Regieanweisung gibt:

    "Unterbrechen wir diese Love-Story. Rosa sollte nicht so lange auf dem Boden liegen, lassen wir sie aufwachen, sie schläft in der Tat entschieden zu oft ein."

    Außer stilistischer Schwankungen weist das Buch leider auch andere Schwächen auf. Zum einen ist es die Konstruktion. Die drei Geschichten beginnen sich bald zu kreuzen, und zwar auf eine Weise, die oft recht künstlich wirkt. Und zum anderen sind es die Nebenfiguren: Sie sind grotesk überzeichnet, entsprechen aber zu stark den Klischees, die in Bezug auf die heutige polnische Gesellschaft herrschen, um wirklich amüsant zu wirken: nationalkonservative Politiker, fanatisch religiöse Frauen etc.

    Die Überraschungsmomente bleiben also aus, und die These des Buches - es genüge oft ein kleiner Impuls, um eine Krise zu überwinden - ist auch nicht sonderlich originell. Was am meisten also überzeugt, ist Kuczoks exzellentes Gefühl für Sprache, das in "Lethargie", etwa bei der Begegnung zwischen Adam und seinem späteren Lover, erneut voll zur Geltung kommt:

    "Der hübsche, ja sogar gut aussehende Junge, ja sogar Mann setzt sich ans Fenster, einfach so, ohne nachzudenken, setzt sich, obwohl wenig Plätze frei sind, fällt in seiner jugendlichen Zerstreutheit, ja sogar männlichen Rücksichtslosigkeit auf den Sitz, verstärkt dieses Fallen noch durch einen Seufzer, wie gut, dass er sich gesetzt hat, was für eine Lust für seine jungenhaft-männlichen Beine; mit diesem selbstsicheren Einnehmen des freien Platzes beweist er, dass in seinem gesunden jungendhaft-männlichen Geist für unnötige Zerrissenheit kein Platz ist."

    Es sind nicht zuletzt solche Wortkaskaden, denen Kuczok die Vergleiche mit dem berühmten Witold Gombrowicz verdankt. Und das verpflichtet und macht mitunter nervös. Wohl nicht zufällig ist diesmal eine der Hauptfiguren ein Schriftsteller, der nach anfänglichem Erfolg keinen zweiten Roman zustande bringt, weil er die Erwartungen der Kritiker fürchtet. Kuczok selbst wird ihnen, wie gesagt, nur zum Teil gerecht: Aus seiner "Lethargie" ist er zwar aufgewacht. Um aber seine literarische Handschrift ganz wiederzufinden, sollte er seine Liebe zum Film am besten eine Weile ruhen lassen.

    Wojciech Kuczok: "Lethargie". Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall, Suhrkamp Verlag, 2010. 252 Seiten, 19,90 Euro.