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Wovon wir im neuen Jahr nichts mehr hören wollen

Das ist ein großes philosophisches Problem. "Das Nichts nichtet", sagte Heidegger, und er muss den Raubkunstjournalismus unserer Gegenwart gemeint haben. Denn dort regiert das große Nichts, die Negation. Nicht die vorhandene Kunst steht im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit, sondern die nicht vorhandene. Raubkunst, Beutekunst oder gemeiner Einbruchdiebstahl: Was immer wir in Sachen Kunst erfahren, hat damit zu tun, dass sie gerade weg ist. Ja, das Wegsein von Bildern ist gewissermaßen die Voraussetzung für ihr Dasein in der Berichterstattung - ein eigentümlicher Zusammenhang, der an Tucholskys Erkenntnisse über das Wesen der Löcher erinnert: Wäre überall etwas, dann gäbe es kein Loch, stellte er scharfsinnig fest und folgerte daraus: "Das Loch ist ein ewiger Kompagnon des Nicht-Lochs."

Ein Beitrag von Burkhard Müller-Ullrich |
    Dementsprechend sind die meisten Kunstbetrachtungen heutzutage auf die Abwesenheit der Kunst fixiert. Als ob es in den Museen gar nicht mehr zu sehen gäbe, reden und schreiben die Kollegen unausgesetzt über die entsetzlichen Lücken, die überall in den Beständen klaffen. So wie die Künstler für die Kritiker erst dann richtig ernstzunehmen sind, wenn sie das Zeitliche gesegnet haben, so sind ihre Werke erst ab dem Augenblick ihres Verschwindens interessant. Im Krieg erschlichen oder erbeutet oder sonstwie weggeschafft: das ist die Schicksalsmelodie, die jedem Journalisten in die Finger geht, und schon schreibt er wieder einen Riesen-Riemen vom Heimweh unschuldiger Bilder. Aus allen Feuilletons erhebt sich heiseres Geschrei: Die Bilder müssen wieder bei. Da wird ermittelt und investigiert, gefordert und moralisiert - doch alle Kunstbetrachtung bleibt auf der Strecke zwischen Anwälten und Erben, Polizei und Militär.

    Auch die berühmteste Lücke der deutschen Architekturgeschichte wäre uns im neuen Jahr bedeutend lieber, wenn wir nichts mehr von ihr hörten. Denn es handelt sich zwar um ein hauptstädtisches Loch, aber eben doch ein Loch, und insofern ein großes Nichts. Der Lärm um dieses Nichts mit Namen Stadtschloss ist dem Radau um abgängige Bilder äußerst ähnlich. Empörung und Verklärung dampfen in den Zeitungsspalten, und für ekstatische Appelle zum sofortigen Stadtschlosswiederaufbau ist jede Radiominute gut. Nur das Fernsehen erweist sich in diesem einen Sonderfall als das vernünftigere Medium; es hält sich bei der Großen Berliner Stadtschlossdebatte ein wenig zurück, denn wo nichts ist, kann man auch nichts zeigen, das Nichts ist einfach wenig fotogen.

    Die kulturelle Phänomenologie der Löcher wird allerdings erst vollständig durch jene übergeordneten Manifestationen des Nichts, die immer dann für Schlagzeilen sorgen, wenn andere Formen der Nichtigkeit gerade nicht im Schwange sind. Wenn sich das Stadtschloss- und Beutekunst-Geheul erschöpft hat, dann ist es nämlich an der Zeit, die Mutter aller Lücken zu beklagen. Sie ist, da Löcher Logik und Methode haben, gewissermaßen das für alles zu behaftende Ur-Loch, das Loch, aus dem Nichts erst kroch. Man möge uns aber einmal für ein Jahr von weiteren Berichten über dieses Loch, das da Finanzloch heißt, verschonen. Gewiss, das Fehlen des Finanzlochs würde im Feuilleton enorme Lücken reißen; besonders aus Berlin, der Stadt der unzähligen Löcher, architektonischen und anthropomorphen, gäbe es fast nichts Erwähnenswertes mehr zu melden. Allein, es gibt noch eine vage Hoffnung, dass nach längerem radikalen Fortfall des Nichts plötzlich wieder ein Etwas im Blickfeld der verzweifelt Suchenden auftaucht. Erst eins, dann zwei, dann viele Etwasse: Es wäre der Beginn von so etwas wie Kultur.

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