Montag, 29. April 2024

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Wozu Sonderschulen?

Es gibt viele Gründe, warum ein Kind die "normale" Schule nicht besuchen kann: es ist körperbehindert. Oder geistig behindert. Oder...schwererziehbar, euphemistisch: "lernbehindert". Sind das wirklich Gründe für "Sonder- " oder "Förder"-Schulen jeglicher Art? Oder nicht vielmehr Vorwände, die "Normalen" möglichst unbehelligt zu lassen?

Moderation: Eva-Maria Götz | 21.02.2003
    Sicher, auch in Deutschland gibt es Ansätze integrativen Unterrichts - also des Einbeziehens behinderter Kinder in den Schulalltag. In aller Regel funktioniert das dort, wo sich zusätzliches Fachpersonal um die besonderen Bedürfnisse behinderter Schüler kümmert - wo also Geld für solche Zuwendung da ist - und wo die Eltern aller Schülerinnen und Schüler akzeptieren: Das Miteinander Behinderter und Nichtbehinderter ist ein Gewinn für alle, mindestens ein Gewinn an sozialer Erfahrung. In Zeiten zunehmenden Leistungsdrucks haben aber mehr und mehr Eltern die Sorge, dass ihre Kinder auf diese Weise weniger lernen, dass die Aufmerksamkeit der Lehrerin zu lange bei Klassenkameraden im Rollstuhl oder mit angeborenen geistigen Defiziten verweilt.

    Ganz ausgeschlossen halten die meisten ohnehin, dass "Schwererziehbare" mit in der Klasse sitzen. Sie bringen Unruhe ins Geschehen, sie stören massiv... Wirklich? Einer kann 30 am Lernen hindern? Was aber passiert mit diesen Kindern, wenn sie zu 15 in einer Klasse, zu 100 in einer Schule zusammenkommen? Von der ersten Klasse bis zum 10.? Die Praxis sieht die Perspektiven dieser Kinder düster. Sehr selten schafft es ein Kind aus der Sonderschule zurück ins "normale" Schulleben, selten ins Berufsleben. Aber schnell ist ein Kind mit sechs, sieben Jahren ein "Sonderfall": Weil es aus einer "bildungsfernen" und sozial schwierigen Familie stammt und "unerzogen" ist. Weil es - als Ausländerkind - aus Angst vor der fremden Welt verstummt, weil es ein Zappelkind, ein Kind mit Aufmerksamkeitsdefizit ist, weil es stottert und seine Eltern sich nicht zu wehren wissen. Das deutsche Bildungswesen ist hoch differenziert. Nach oben wie nach unten. Es gibt kein Industrieland mit so vielen Sonderschulen wie Deutschland.

    Gesprächspartner:

    Dr. Joachim Bröcher Sonderschullehrer in NRW und Privatdozent an der Universität Köln

    Justin Powell Soziologe, Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, Berlin http://ntfm.mpib-berlin.mpg.de

    Weitere Literatur zum Thema:

    Joachim Bröcher: Kreative Intelligenz und Lernen. Eine Untersuchung zur Förderung schöpferischen Denkens und Handelns unter anderem in einem universitären Sommercamp. München: K.G. Saur 1989

    Joachim Bröcher: Lebenswelt und Didaktik. Unterricht mit verhaltensauffälligen Jugendlichen auf der Basis ihrer (alltags-) ästhetischen Produktionen. Winter-Verlag Heidelberg 1997

    Joachim Bröcher: Bilder einer zerrissenen Welt. Kunsttherapeutisches Verstehen und Intervenieren bei auffälligem Verhalten an Grund- und Sonderschulen. Winter-Verlag Heidelberg 1999

    Joachim Bröcher: Kunsttherapie als Chance. Das Ästhetische in der Grund- und Sonderschuldidaktik bei auffälligem Verhalten. Winter-Verlag, Heidelberg 1999

    Joachim Bröcher: Zwischenfall im Zug. PädFORUM/Heft 6/2002

    Joachim Bröcher: Unterrichten aus Leidenschaft? Eine Anleitung zum Umgang mit Lernblockaden, widerständigem Verhalten und institutionellen Strukturen. Universitätsverlag C. Winter, Edition S., Heidelberg 2001

    Justin P.W.Powell: "Hochbegabt, behindert oder normal? Klassifikationssysteme des sonderpädagogischen Förderbedarfs in Deutschland und den Vereinigten Staaten". erscheint in: Cloerkes, Günther (Hrsg.), Wie man behindert wird. Texte zur Konstruktion einer sozialen Rolle und zur Lebenssituation betroffener Menschen. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2003, S. 103-140.

    Justin J.W. Powell: "Grenzen der Inklusion: Die Institutionalisierung von sonderpädagogischem Förderbedarf in Deutschland und den USA, 1970-2000.” In: Allmendinger, Jutta (Hg.): "Entstaatlichung und soziale Sicherheit. Verhandlungen des 31. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Leipzig 2002". 2 Bände + CD-ROM. Opladen: Leske & Budrich, in press.

    Rainer Winkel (Herausgeber): Schwierige Kinder. Problematische Schüler. Fallberichte aus dem Erziehungs- und Schulalltag. Schneider Verlag Hohengehren (2001)

    Walter Züblin : Das schwierige Kind. Einführung in die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Thieme, Stgt. (1983)

    Ursel Mielke: Schwierige Kinder besser verstehen. Ursachen erkennen, Vertrauen schaffen, Probleme lösen. Midena (1998)

    Ingeborg Becker-Textor : Schwierige Kinder gibt es nicht - oder doch? 'Problemkinder' im Kindergarten. Herder, Freiburg (1997)

    Amft, Gerspach, Mattner: Kinder mit gestörter Aufmerksamkeit. ADFS als Herausforderung für Pädagogik und Therapie. Kohlhammer, Stuttgart (2002)

    Zeltner, Eva: Elternlust - Elternfrust Wie der Nachwuchs uns lebenslang in Atem hältZYTGLOGGE-VERLAG 2001

    Weitere Links zum Thema:

    http://ntfm.mpib-berlin.mpg.de

    http://www.uni-koblenz.de

    Staatliches Förderzentrum "Marianne Frostig" in Dorndorf Thüringen http://www.th.schule.de

    Ingeborg Milz gibt gerne Auskunft zum Themenkomplex Sonderschulen. Sie ist Gründerin einer privaten Grund-, Haupt- und Realschule für Kinder mit besonderen Bedürfnissen Telefonnummer: 030-33308134 E-Mail: Ingeborg.Milz@t-online.de

    Modellbeitrag: Forum PISA vor Ort: Die Carl von Linné Schule in Berlin-Lichtenberg

    Ihre Fragen und Meinungen erwarten wir während der Sendung unter: Hörertelefon: 00800 - 44 64 44 64 Hörerfaxnummer: 00800 - 44 64 44 65 E-Mail: forumpisa@dradio.de

    Die nächste Sendung:

    28. Februar 2003 10.10 Uhr bis 11.30 Uhr: Was heißt Idealfamilie? Moderation: Jürgen Wiebicke

    Von allen Sendungen können Sie einen Kassettenmitschnitt bestellen. Senden Sie einen Verrechnungsscheck über EUR 10,- an: DeutschlandRadio Marketing und Service GmbH Raderberggürtel 40 50968 Köln

    Außerhalb der Sendung erreichen Sie die Redaktion unter: 0221 - 345 - 1527 oder - 1503