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Wozzeck - kehrt zurück

Extremer lassen sich die Gegensätze des neuen Musiktheaters kaum denken. Und doch gehen die beiden experimentellen Produktionen, die an diesem Wochenende in Stuttgart und Aachen vorgestellt wurden, auf analoge Weise von großer Literatur aus. Am Aachener Stadttheater hat Helmut Oehring einen berühmten Literatur- und Opern-"Fall" nachverhandelt: die Eifersucht, die Selbstzweifel und die Wahnsinns-Tat des Stadtsoldaten Woyzeck. Oehring , der auch Text-Partikel aus Georg Büchners Briefen und der "Lenz"-Novelle, von Martin Luther und Theodor Fontane verwendet, ging es in keiner Weise um historische Rekonstruktion, um Büchner-Philologie oder einen musikalischen Kommentar zu Alban Berg Oper "Wozzeck", sondern um Spotlights: sie zielten auf zentrale Motive der historischen Texte und suchten sich eine neue Musik.

Von Frieder Reininghaus |
    Der 43jährige Berliner Komponist Helmut Oehring ist von der Aktualität seiner Wozzeck-Fragen überzeugt:
    Ich würde niemals denken, dass man da eine Schuldfrage klären kann, sondern es ist wichtig, dass man betrachtet, woran es liegt, dass etwas passiert.

    Nicht "Aufzüge" komponierte Helmut Oehring, sondern "Abzüge" – und er verweist damit ebenso auf die Sphäre der Photographie wie mit dem Stichwort der "12 Kontakte", die den Musiktheaterabend strukturieren: "GelindWetter" oder "Obsession", "Süchtig", "Wilderer" oder "Ausklang toter Wanderer" heißen diese Kontakte, mit denen es mehr um Kontakt-Störungen geht, nicht um unmittelbar Verstehbares und Verständnis. Im Verbund mit der ganzen Palette gesprochener und eingeblendeter Text, von animierten Fotos und live-Video-Zuspielungen wird ein demonstrativ uneinheitliches musikalisches Material genutzt: Orchester-Erregung, die sich auf rasche, steile Crescendi stützt und Anklänge an Rock- und Pop-Musik (insbesondere bei den von Jörg Wilkendorf zur e-Gitarre gehauchten Liedern vom ungetreuen Liebchen). Eine Sopranistin und zwei Mezzo-Sopranistinnen singen in extremen Lagen; ausgiebig zitiert der Chor Madrigale des mutmaßlich mörderischen Fürsten Don Carlo Gesualdo; drei Gebärden-Solisten unterstreichen die unbeantworteten Fragen der restringierten Kommunikation – und die live-Elektronik wohl auch. Das szenische Konzert, das sich aus diesen Ingredienzen ergibt, scheint auf tiefsitzende Ängste zu verweisen; es signalisiert immer wieder hohe Verbundenheit mit der Leidens- und Schreckens-Figur Georg Büchners.

    Was Michael Simon an Bildern zuspielte, wirkt teils ein wenig naiv – wenn z.B. zum Stichwort von Maries rotem Mund sich tatsächlich ein solcher in Großaufnahme auf dem Gaze-Vorhang auftut; teilweise aber wird die Video-Kamera wie im Selbstlauf über der mit alten Schränken und drei Tischen vollgestellten Drehbühne losgelassen. Am Ende mochte man etwas ratlos sein, ob die halbe Nähe zu Büchner dem Projekt als Strohhalm fürs Sinnverständnis gut tat oder ob man sich nicht gleich eine ganz frei assoziierende Studie über Eifersucht und Suizidgefahr gewünscht hätte.

    Auch wenn sie in ihrer Form und der weithin moderat freitonalen Tonsprache erst einmal konventionell wirkt, präsentiert Stephen Olivers Kammeroper von Mario und dem Zauberer ein Experiment ganz anderer Art: die Rekonstruktion der Hypnosekünste, der zynischen Massenverführung, wie dies in den späten 20er Jahren ein hoch brisantes Thema war (und, bei Lichte besehen, immer noch ist). Mit den einfachen Mitteln des von Manfred Weiß präzise choreographierten Buden-Theaters versteht es die Junge Oper in Stuttgart – und vornan der tatsächlich zaubernde Sänger Motti Kastón – ein Werk der großen Literaturgeschichte, dessen Veroperung man vielleicht eher skeptisch entgegenblickte, mit den Mitteln eines intensiv gesungenen Theaters zu einem Abend von wahrhaft verblüffendem Erkenntniswert zu promovieren.