Christian Wulff: Wir sind eine besonders offene Gesellschaft mit sehr vielen ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, und es ist in Deutschland leicht, einen Aufenthaltstitel zu erlangen, beispielsweise zum Zweck eines Studiums. Und deswegen müssen wir die Überwachungsformen, die Kontrollmechanismen, die Zusammenarbeit ganz gewiss verbessern. Und es spricht nichts gegen eine liberale, eine offene Gesellschaft, wenn alle die Augen ein bisschen offener halten, wenn wir in den Sicherheitsbehörden beispielsweise mehr haben, die Arabisch sprechen, die auch bestimmte Dinge verfolgen können, was dort in Koranschulen, in Moscheen und anderswo zum Teil stattfindet und an Hass gesät wird. Das sind Minderheiten, das sind Randgruppen, das ist nicht pauschalierend gegen alle islamischen Gemeinden gemeint, aber wenn man da genauer hinguckt, hat man nichts gegen den Islam, sondern erkennt einfach, dass sich dort ein bisschen etwas tut, was uns alle mit Sorge erfüllen muss. Ich bin also dafür, dass man die Zusammenarbeit verbessert, dass man die Abwehrmechanismen verstärkt, dass man mehr weiß über das, was sich dort tummelt. Und vielleicht müssen wir auch ernsthafter darüber nachdenken, dass man nicht nur die deutsche Staatsbürgerschaft hier erteilt, sondern dass man sie auch aberkennen kann, wenn jemand das Vertrauen nicht rechtfertigt, was wir ihm entgegenbringen, dass er hier auf Dauer verbleiben kann. Das sieht unsere Verfassung bis heute nicht vor.
Birke: Herr Wulff, Sie sagen, wir müssen die Augen offener halten, diese Aktivitäten mutmaßlicher Terrorurheber intensiver verfolgen. Wie weit wollen Sie da gehen? Lockerung bei den Telefonabhörmaßnahmen, Videoüberwachungen, wie Sie es ja schon direkt nach den Terroranschlägen in Madrid angeregt haben – Videoüberwachung insbesondere von Moscheen? Wie weit möchten Sie gehen?
Wulff: Sobald irgendwelche Anhaltspunkte da sind, dass sich Menschen irgendwo bewegen, die in El-Kaida-Ausbildungscamps in Afghanistan gewesen sind, muss es möglich sein, dass dort eine Videoüberwachung stattfindet – vorbeugend, vorsorgend –, um zu sehen, wer sich dort mit wem trifft. Das ist eine Information, die der Staat haben darf, haben sollte, und zwar vor folgendem Hintergrund: Die Täterinnen und vor allem Täter, mit denen wir es hier zu tun haben, begehen häufig nur ein einziges Delikt. Das ist dann ihr einziges, aber auch das schwerwiegendste – mit Hunderten von Menschenleben, die geopfert werden, die umgebracht werden, ermordet werden. Und das ist ein ganz neuer Tätertypus, die leben unauffällig, die machen keine Kleinstkriminalität, die kommen nicht in polizeiliche Register und in irgendwelche Datensysteme. Da hilft auch Rasterfahndung ganz offenkundig nicht, sondern die werden eben einmal kriminell, aber dann so schwerwiegend, dass die gesamte zivilisierte Welt – wie in New York, wie in Madrid – herausgefordert ist. Und da muss man einfach erkennen: Es braucht neue Formen der Bekämpfung dieser Kontakte und Mechanismen und Gruppen. Und wenn da international zusammengearbeitet wird, heißt das, dass man auch Beamte hat, die diese Sprache sprechen, dass man auch moderne Telekommunikationsmöglichkeiten nutzt – natürlich nur bei Anhaltspunkten. Aber wenn Anhaltspunkte da sind, dann soll dort auch schon mal abgehört werden können. Und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum großen Lauschangriff, die ist nicht sehr ermutigend, weil sie vieles auch erschwert.
Birke: Das wäre gerade die Frage gewesen an den Juristen Wulff. Haben Sie da nicht verfassungsrechtliche Bedenken, wenn Sie jetzt die Videoüberwachung und auch die Telefonüberwachung so drastisch ausweiten möchten?
Wulff: Die Politik muss alles tun, was die Sicherheit der Bevölkerung verbessert – bis an die Grenze dessen, was die Verfassung zulässt, aber auch keinen Millimeter über das hinaus, was die Verfassung zulässt. Und insofern werden wir es die nächsten Jahre häufig mit einer Entwicklung der Rechtsprechung zu tun bekommen, die eben auch auf neue Herausforderungen, neue Gefährdungen und neue technische Möglichkeiten reagieren muss. Es kann ja nicht sein, dass abhörsicher und abhörgeschützt die Kriminellen untereinander kommunizieren und die Polizei tatenlos zuguckt und weniger weiß als sie wissen könnte. Damit kann man auf Dauer nicht leben, denn die Bevölkerung hat das Anrecht darauf, dass im Mittelpunkt der Opferschutz steht und nicht der Täterschutz.
Birke: Nun haben wir auf EU-Ebene, Herr Wulff, die Tendenz, dass man die Nachrichtenerfassung zentralisieren will, die Kooperation verbessern möchte. Das wurde gerade auf dem zurückliegenden EU-Gipfel auch so von den Staats- und Regierungschefs beschlossen. Wären Sie auch dafür, dass man in Deutschland zum Beispiel den Verfassungsschutz zentralisiert und auch die Erfassung der verschiedenen Dienste zentralisiert?
Wulff: Ich kann nicht erkennen, dass Zentralisierung, Fusion, Größe automatisch mehr Sicherheit brächte, sondern eine bessere Koordination, Abstimmung, eine größere Transparenz der jeweils vorliegenden Erkenntnisse würde vollkommen ausreichen. Die Sicherheitslücken entstehen ja auch am ehesten dadurch, dass in einigen Bundesländern massiv Polizei abgebaut wird, die Zahl der Polizeibeamten verringert wird, während wir in Niedersachsen jetzt etwa 400 Polizisten mehr haben als vor einem Jahr und weitere 250 Anwärterstellen pro Jahr mehr schaffen, um eben dem Thema der inneren Sicherheit, der Bekämpfung der Kriminalität auch bereits im Bereich der Gefahrenabwehr, der Vorbeugung, sehr viel größeres Gewicht beimessen. Und das alles an den Bund zu delegieren gibt keineswegs mehr Gewissheit für höheren Schutz der inneren Sicherheit, sondern die Länder müssen sich zu diesem Bereich bekennen, ihn wahrnehmen. Und wenn dort alle sich Bayern beispielsweise zum Vorbild nehmen, dann haben wir ein hohes Maß an innerer Sicherheit.
Birke: Dennoch will Ihre Partei, die Union, ja eine Grundgesetzänderung, indem sie dann auch die Möglichkeit schafft, dass die Bundeswehr, die bisher ja nur für die Sicherheit im Äußeren zuständig ist, auch Aufgaben zur Wahrung der Sicherheit im Inneren wahrnimmt. Passt das zusammen? Brauchen wir das?
Wulff: Es gibt Fälle von chemischen, biologischen Angriffen auf Deutschland in Deutschland, wo nur die Bundeswehr die entsprechenden Fahrzeuge, die entsprechenden Abwehrmechanismen, das geschulte Personal hat. Und hier wird es unverzüglich dazu kommen, dass man die Bundeswehr um Hilfe bittet. Und das auf eine klare gesetzliche Grundlage zu stellen und mit dem Grundgesetz kompatibel zu machen, das ist das Ziel der Union. Und darüber muss jetzt sehr schnell eine Klärung herbeigeführt werden, und wir selber müssen auch mit unserem Koalitionspartner, der FDP, auf dem Feld noch einen Weg der Verständigung suchen. Aber der Vorstoß kam sowohl aus den Reihen der SPD als auch aus den Reihen der CDU/CSU, dass man den Einsatz der Bundeswehr im Inneren in extremen Gefährdungslagen klar regelt. Und die Angst, dass die Bundeswehr beispielsweise bei Demonstrationen eingesetzt werden könnte, ist völlig absurd und abwegig. Das will niemand. Die Demonstranten stehen allenfalls der Polizei gegenüber, aber nicht der Bundeswehr in Deutschland. Dazu bekennen wir uns auch klar. Aber für extreme Fälle von Angriffen aus der Luft oder auf dem Wasserweg, dort den Einsatz der Bundeswehr klar zu regeln, kann eigentlich niemand etwas haben.
Birke: Sie sehen auch keine Abgrenzungsprobleme zwischen der Arbeit der Polizei und den anderen Sicherheitskräften, wie zum Beispiel Bundesgrenzschutz und der Bundeswehr dann?
Wulff: Wir müssen auch die Zusammenarbeit zwischen der Polizei und dem Bundesgrenzschutz deswegen noch klarer regeln, weil ja der Bundesgrenzschutz längst keine wesentliche Verantwortung mehr an den Grenzen hat. Durch Schengen haben wir die meisten Grenzen in Europa beseitigt, und deswegen hat er seine Zuständigkeiten ja ins Inland verlegt – auf Autobahnen mit Kontrollen bisher noch nicht, aber möglicherweise in Zusammenarbeit mit der Polizei auf Flughäfen, auf Bahnhöfen, in Zügen. Und dort muss die Zusammenarbeit noch besser entwickelt werden zwischen der Polizei und dem Bundesgrenzschutz. Jedenfalls ist für uns der Bundesgrenzschutz eine große Unterstützung unserer Arbeit, eine wirkliche Hilfe. Und wir sind froh, wenn ein bisschen aufgepasst wird, wer in diesem Lande wo unterwegs ist, mit welchen Absichten und Zielen. Das ist auch, glaube ich, ein weit verbreiteter Wunsch der Bevölkerung. Und der Verfassungsschutz schützt die Verfassung, und die Bundeswehr schützt unser Land und die Freiheit und die Demokratie und die zivilisierte Welt, und die Polizei bemüht sich um Gefahrenabwehr. Das sind Dinge, die in einem Rechtsstaat offener Grenzen in einer globalen Welt von großer Bedeutung sind, denn wir sollten doch erkennen, dass unsere Gesellschaft in Gefahr gebracht werden soll, unter Druck geraten soll. Und daneben – das ist vielleicht auch ganz wichtig, zu sagen – sollten wir uns alle klaren Verstandes und auch mit Emotion dem Thema widmen, mit dem Koran, dem Islam, mit Muslimen den Dialog zu vertiefen und zu verstärken, über unser Leben zu reflektieren und über Brücken zu reden, die wir bauen in die islamische Welt, denn die große Mehrzahl der Muslime distanziert sich dankenswerterweise und glücklicherweise vom Terror. Sie wollen ein friedliches Zusammenleben, sie verfechten die Religion des Friedens, der Friedfertigkeit. Und mit denen müssen wir die Kontakte vertiefen und das Bild der westlichen Welt auch reflektieren, wie es sich in islamischen Staaten zum Teil darstellt. Und da müssen wir einfach sehen – mit jedem, den wir rüberziehen können, auf den Dialog bringen können, sollten wir den Dialog führen. Jeder, der sich des Dialogs verweigert, der eine Gefährdung darstellt, der soll auch wissen, dass er bei uns nicht die Freiheiten hat, die er gerade zerstören will.
Birke: Distanziert sich der Islam – der moderate Islam – deutlich genug Ihrer Meinung nach von den extremen Elementen?
Wulff: Ich glaube, wir müssen hier noch ein bisschen Verstärker spielen. Ich glaube, dass manche Imane und manche Vertreter der islamischen Gemeinden einfach in den nächsten Jahren deutlicher den Finger heben müssen, öffentlich vernehmbarer, und dass wir auch verstärkend wirken müssen. Ich glaube, wir brauchen Konferenzen in Berlin und in den Landeshauptstädten zum Dialog, aber auch zur gemeinsamen Abwehr gegen diese Form von Menschenverachtung, die wir in Madrid erlebt haben – also Lichterketten beispielsweise in München und anderswo mit unseren islamischen Freunden, die bei uns leben – einige Millionen Muslime, die bei uns leben –, eine Lichterkette gegen diesen Missbrauch des Koran, diesen Missbrauch des Islam. Das wird die nächsten Jahre wichtig werden.
Birke: Herr Wulff, Sie haben es vorhin selbst angesprochen, dass wir natürlich gefährliche Leute, Leute, die in El-Kaida-Trainigslagern waren, nicht hier dulden sollten. Das heißt ja für das Zuwanderungsgesetz, dass man hier eine rasche Abschiebung ermöglichen soll. Aber wie wollen Sie das genau definieren? Wann ist ein Mensch wirklich gefährlich? Kommen wir hier nicht an eine sehr fragwürdige – unter Bürgerrechts- und Menschenrechtsaspekten fragwürdige – Argumentationslinie?
Wulff: Ein Staat definiert sich aus Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt. Und wenn wir hier sagen, Leute, die in diesen Camps ausgebildet wurden, wollen wir hier nicht haben, dann brauchen wir sie nicht zu dulden, dann brauchen wir sie nicht einreisen zu lassen, und wenn sie reingekommen sind, können wir sie nach Hause schicken und sagen: Wir wollen das nicht. Das ist ein viel normalerer Vorgang, als er in den öffentlichen Debatten geschildert wird.
Birke: Mal unabhängig von den Camps jetzt: Wen würden Sie sonst für gefährlich einstufen? Zum Beispiel der Marokkaner, der jetzt unter dem Verdacht steht, mit an den Madrider Anschlägen beteiligt gewesen zu sein, ist ja nicht irgendwie vorher aufgefallen.
Wulff: Das ist eben die Problematik dieses Tätertypes, dass er in der Regel eben erst auffällt, wenn er in Verbindung mit solchen Anschlägen gebracht wird. Dagegen ist dann niemandem ein Kraut gewachsen. Aber wenn jemand Hass sät, wenn jemand aufruft, wenn jemand Broschüren verteilt, bei sich trägt, die zur Gewalt aufrufen, die Gewalt verharmlosen, die Bin Laden verherrlichen, dann gehört er nicht in unser Land, dann muss er sich wo anders ein Zuhause suchen. Hier in Deutschland hat jemand keinen Platz, der Bin Laden als Menschenverächter sozusagen zum Idol macht. Das muss das klare Signal sein – ich hoffe, aller Demokraten.
Birke: Wie zuversichtlich ist der niedersächsische Ministerpräsident denn, dass wir beim Zuwanderungsgesetz bald zu einer Einigung kommen?
Wulff: Die CDU-FDP-Landesregierung Niedersachsens setzt sich für einen Kompromiss ein. Wir glauben, dass man das Ausländerrecht vereinfachen kann, verklaren kann, neu regeln kann für die Zukunft, ohne zu einer Ausweitung der Zuwanderung in Deutschland zu kommen, wie das der ursprüngliche rot-grüne Entwurf vorsah, also die Zuwanderung tatsächlich ernsthaft sachlich zu begrenzen. Und dann wird es einen Kompromiss geben, mit der SPD haben wir ihn im Kern. Die Frage ist jetzt: Werden die Grünen in der Koalition der Bundesregierung den Kompromiss verhindern oder werden sie dem Kompromiss ihre Zustimmung geben? Wir haben einen Konsens von 80 Prozent im Deutschen Bundestag und im Deutschen Bundesrat. Das Problem sind die Grünen. Und das müssen die Grünen sehen, ob sie sich hier einer Neuregelung verweigern wollen.
Birke: Spielen Sie da nicht ein bisschen auch die Taktik-Karte und wollen da so einen Keil in die rot-grüne Koalition treiben?
Wulff: Die rot-grüne Koalition hat den Vermittlungsausschuss damals verweigert, hat verfassungswidrig das Zuwanderungsgesetz durch den Bundesrat gebracht. Jetzt endlich sind wir im Vermittlungsausschuss dabei, über eine Kompromisslinie zu verhandeln, und jetzt sollte es auch einen Kompromiss geben. Aber dass es den nicht geben kann zu grünen Bedingungen, mit einer Ausweitung der Zuwanderung in Deutschland, das war jedem von Anfang an klar. Das ist mit uns nicht zu machen, dafür sehen wir die Gefährdungspotentiale zu groß. Und der Arbeitsmarkt verkraftet im Kern nicht weitere Zuwanderung, wir müssen erst einmal hier für die vorhandenen Arbeitslosen ordentlich Arbeit schaffen.
Birke: Für die vorhandenen Arbeitslosen ordentlich Arbeit schaffen, Herr Wulff, das ist ja auch das Streitthema gewesen letzte Woche noch einmal im Bundestag, wo ja über die Reform-Agenda von Kanzler Schröder – 2010 – noch einmal heftig debattiert und gestritten wurde. Wo sehen Sie eigentlich noch Ansätze für eine gemeinsame Linie auch dort, die ja nötig ist, um gewisse Dinge wirklich auf den Weg zu bringen zwischen Regierung und Opposition?
Wulff: Die Lage ist schwieriger geworden durch die Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom vergangenen Donnerstag, weil die SPD keine wirkliche Analyse vollzogen hat, warum es ihr derzeit so schlecht geht. Die SPD ist nicht deshalb im Keller, weil sie zuviel gemacht hätte, weil sie zu große Reformen versucht hätte, weil sie das Volk überfordert hätte, sondern sie ist im Keller, weil sie kleine Schritte des Richtigen getan hat im vergangenen Jahr, aber das Gegenteil von dem getan hat, was sie über Jahre versprochen und angekündigt hat. Das heißt, die haben ein Riesen-Vertrauensproblem, denen folgt keiner, weil er sich nicht richtig fair und ehrlich behandelt fühlt. Und jetzt haben wir die Situation, wo nach einem Jahr Agenda 2010 Bilanz gezogen wird. Und diese Bilanz habe ich so verstanden, dass gesagt wird, wir seien über den Berg, es würde jetzt besser, es ginge jetzt aufwärts, die großen Dinge seien gemacht, jetzt könnte man Tempo nehmen aus dem Rennen. Und wir sind im Wettbewerb, wir sind immer noch hinten. Wir müssen nach vorne kommen, wir müssen Tempo verstärken, wir müssen aufs Gas drücken. Stattdessen nimmt der Bundeskanzler Tempo raus aus dem Rennen, wir würden also weiter zurückfallen. Jeder spürt, jeder hat Ängste vor der Zukunft, dass Deutschland auf der Kippe steht. Entweder Exzellenz – besonders gut zu sein weltweit, oder Exodus – Verlust von Arbeitsplätzen ins Ausland. Und vor diesem Hintergrund halte ich es für einen ganz, ganz kapitalen Grundfehler vom Bundeskanzler, dass er hier nicht zu weiteren Schritten, zu weiteren Veränderungen, zu mehr Eigenverantwortung, zu mehr Flexibilität, zu Veränderungen des Arbeitsrechts, Tarifrechts, Steuerrechts aufgefordert hat, sondern dass er eigentlich gesagt hat: Alles wird gut, wir haben's im Griff und das Wesentliche ist gemacht. Das ist der zweite große Fehler, da wird es wieder an Vertrauen fehlen.
Birke: Herr Wulff, greifen wir mal einen der Punkte heraus. Sie haben ja darauf hingewiesen, dass der Kanzler in seiner Rede angedeutet hat, dass keine weiteren tiefen Einschnitte ins soziale Netz kommen sollen. Sie haben jetzt gerade Kündigungsschutz, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes noch mal als Stichpunkte genannt. Wie weit wollen Sie da gehen?
Wulff: Es ist in Deutschland der Arbeitnehmer dreimal besser geschützt als in Amerika, arbeitslos zu werden, das ist wahr . . .
Birke: . . . also Kündigungsschutz noch weiter herunter, ab fünf Beschäftigten oder null?
Wulff: Wissen Sie, den Kündigungsschutz gibt es ja nach Zivilrecht für alle, der bleibt ja auch. Die Frage ist – Kündigungsschutzgesetz, Sozialauswahlverpflichtung, Tarifvertragsrecht: Ist es nicht so, dass der Schutz, einen Arbeitsplatz zu verlieren, dreimal besser ist als in Amerika, aber wieder einen Arbeitsplatz zu finden zwölf mal schwerer als in Amerika? Das heißt: Wir haben sechs Millionen ohne Arbeit, und denen hat der Kündigungsschutz gar nichts gebracht, die sind alle arbeitslos geworden, ohne dass ihnen der Kündigungsschutz geholfen hätte. Aber jetzt erweist sich manche Regelung als unüberwindbar, als eine Mauer um vorhandene Arbeitsplätze herum, die für Arbeitslose nicht übersprungen werden kann. Einer über 50 wird eben in der Regel gar nicht mehr einen Arbeitsplatz finden, weil der Arbeitgeber sagt: Wenn ich den einstelle, dann kann ich bei notwendig werdenden Kündigungen den gerade nicht kündigen wegen der Sozialauswahl, und deswegen stelle ich ihn lieber gar nicht erst ein. Und denen die Chancen zu erhöhen, wieder Arbeit zu finden, weil sie selber auch mehr Freiheit haben, Arbeitsverträge abzuschließen, wird eine wichtige Aufgabe sein. Der Einzelne soll in Option verzichten können auf Kündigungsschutz und dafür eine vorher vereinbarte Abfindung aushandeln. Wenn er dann drei, vier Jahre beschäftigt war, bekommt er eine bestimmte Abfindung – mehrere Monatsgehälter –, wenn er gekündigt würde. Aber der Arbeitgeber hat nicht das Risiko eines Rechtsstreits von sechs, von acht, von zehn Monaten, wo derjenige, der den Rechtsstreit führt, nicht arbeitet und anschließend vielleicht die acht Monate nachgezahlt bekommt und wieder beschäftigt bleibt. Dieses Risiko fürchten viele Mittelständler. Und wenn wir Beschäftigung in Deutschland wieder erhöhen wollen, dann brauchen wir mehr Flexibilität - lieber befristet Arbeit zu haben als unbefristet arbeitslos zu sein, lieber 40 Stunden arbeiten zu müssen als Anspruch auf 35 Stunden, aber keinen Arbeitsplatz zu haben. Dies Umdenken wird in den Köpfen, in den Mentalitäten stattfinden müssen, sonst ist dies Land nicht wettbewerbsfähig gegenüber anderen Ländern.
Birke: Herr Wulff, ist denn diese Position in Ihrer Partei, in der Union – ich denke da auch an die Schwesterpartei, die CSU – mehrheitsfähig, oder gilt das, was Ihrer Parteivorsitzenden Angela Merkel so als 'Freudscher Versprecher' in der Bundestagsdebatte herausgerutscht ist, wo sie von der 'Zerstrittenheit der Opposition' sprach?
Wulff: Ich bin erst einmal froh, dass wir jetzt streiten – ringen – um den besten Weg, denn wir müssen in dem Moment, wo wir die Bundesregierung übernehmen – und danach sieht ja heute dankenswerterweise alles aus, dass das demnächst der Fall ist, spätestens 2006 –, dann müssen wir im Detail wissen, was wir tun. Und dann müssen wir es tun, und zwar sofort tun und Politik aus einem Guss machen. Dann können wir nicht mehr ringen um den besten Weg. Jetzt in der Opposition kann man sich das leisten. Die Oppositionszeit ist eine Zeit, wo man sich vorbereitet auf das Regieren. Und wir wollen nicht den Fehler der jetzigen Bundesregierung wiederholen, jetzt die Konflikte unter den Teppich kehren, dann die Regierung übernehmen und dann den Streit beginnen und gar nicht zu wissen, was wir dann tun wollen. Sondern wir wollen dann genau wissen, was wir dann machen. Und daran haben Roland Koch, Ole von Beust, ich und andere deshalb ein Interesse, weil wir eineinhalb Jahre nach 2006 unsere Landtagswahlen haben. Dann wollen wir gut dastehen und nicht so wie die heutige Bundesregierung. Deswegen ringen wir jetzt in der Steuerpolitik, in der Gesundheitspolitik, beim Arbeits- und Tarifrecht. Ich glaube, entscheidend für die Mehrheitsfähigkeit in Deutschland ist, dass die Bevölkerung sagt: Die machen Politik aus einem Guss, ein Gesamtkonzept verwirklichen sie. Jeder wird herangezogen, jeder wird betroffen, gerecht behandelt, und am Ende wird's besser werden. Ohne die Vision, dass es besser wird, kann man überhaupt keine Veränderung mehr in Deutschland mehrheitsfähig machen.
Birke: Sie wollen hier eine Vision, eine geschlossene Linie haben. Wie ist in dem Zusammenhang die alte Forderung der Union nach dem Familiengeld abzuwägen gegenüber dem Vorschlag, den der Bundeskanzler Gerhard Schröder ja auch in der Debatte letzte Woche eingebracht hat, nämlich die Eigenheimzulage zu streichen – acht Milliarden –, auch die Goldreserven der Bundesbank zu verkaufen, um einerseits in Forschung und Entwicklung zu investieren, aber vor allen Dingen auch für die Familien etwas zu tun?
Wulff: Wir wollen im Bereich der Eigentumsförderung die Wohnungsbauprämie erhalten, damit Menschen auch ein Stück weit in Eigentum investieren, und wir wollen eine gewisse Begünstigung der Eigenkapitalsbildung im Eigenheimbereich, weil das Vorsorge fürs Alter ist und weil das gesellschaftspolitisch gewollt ist, denn Familien, die Eigentum haben, die ziehen ihre Kinder so auf, dass diese auch weniger folgelastig werden für andere Politikfelder. Und die Bauwirtschaft braucht auch gewisse Impulse. Aber natürlich kann man hier abschmelzen und das Geld zur Entlastung auf der steuerlichen Seite nehmen oder für bestimmte Ausgaben im investiven Bereich. Problem ist, dass man nicht investive Ausgaben wie die Eigenheimzulage zugunsten konsumtiver Ausgaben verlagern darf, sondern man muss sparsam sein im Verwaltungsbereich und das in Investitionen umleiten. Daran hat der Bundeskanzler nicht zureichend gedacht. Er müsste sparsamer werden in seinem eigenen Bereich. Und was da die Bundesregierung für Geld verschleudert und verschwendet, beispielsweise für Öffentlichkeitsarbeit, das geht auf gar keine Kuhhaut. Also, Sparsamkeit würde ich mir im konsumtiven Bereich wünschen, und investive Anschübe für die Bauwirtschaft sollte man nicht als erstes heranziehen, wenn man sparen will. Die Investitionsquote ist historisch auf einem Tiefststand. Ich sehe beim Familiengeld, weil Sie danach fragen, den Schwerpunkt auf der großen Steuerreform. Wenn wir es schaffen, dass jedes Familienmitglied, jedes Kind, einen Freibetrag von 8.000 Euro bekäme, wie wir das vorsehen, dann hätte eine Familie mit zwei Kindern Steuern überhaupt erst zu bezahlen ab etwa 33.000 Euro im Jahr. Das wäre eine wirkliche familienpolitische Maßnahme, und das wäre auch eine weitreichende Verwirklichung des Familiengeldes.
Birke: Was halten Sie denn von der Idee Ihrer Ministerpräsidenten-Kollegin Heide Simonis, nun statt Ehegattensplitting eine Art Kindessplitting einzuführen und notfalls eben auch die Mehrwertsteuer zu erhöhen, um somit auch Aufgaben für die Familien zu finanzieren?
Wulff: Familiensplitting ist sehr gut, dass man jedes Familienmitglied fair und gleich behandelt mit einem großen Freibetrag. Abbau des Ehegattensplittings halte ich für verfassungswidrig. Wir genehmigen jeder Erwerbsgemeinschaft, selber zu entscheiden, wie sie das Einkommen, was gemeinsam erzielt wird, den einzelnen Köpfen zuordnet. Und es ist nun einmal Privatsache, ob einer viel und der andere wenig, ob beide gleich viel arbeiten und verdienen. Auf jeden Fall steht dies der Familie als Erwerbsgemeinschaft zu und muss auch gemeinsam besteuert werden. Nichts anderes macht das Ehegattensplitting. Und wir wollen ja die Familie begünstigen deshalb, weil in der Familie der eine für den anderen ein Leben lang Verantwortung übernimmt, und wenn die Ehe scheitert, über die Unterhaltspflichten trotzdem ein Leben lang verpflichtet ist. Und diese Verpflichtung entraubt den Staat seiner Zuständigkeiten. Das heißt, das ist lebendes Subsidiaritätsprinzip. Erst mal kommen Menschen für andere direkt in Verantwortung auf und erst im Nachklang der Staat mit Sozialhilfe und anderen Hilfsmaßnahmen. Wenn die Leute nicht mehr heiraten würden, wenn sie sich zur Ehe und Familie nicht mehr bekennen würden, dann würde immer dann, wenn ein Problem auftritt, sofort der Staat primär haften und nicht mehr subsidiär. Das muss man mal wieder erkennen, wie stark die Familien den Staat von bestimmten Aufgaben entlasten. Und deswegen gehören Familien begünstigt.
Birke: Auch über die Mehrwertsteuererhöhung notfalls? Die Frage hatten Sie nicht beantwortet.
Wulff: Ich glaube, dass wir Kapital, was ja in großer Zahl aus Deutschland abgeflossen ist, dann wieder nach Deutschland bekommen, wenn hier einfach mal fünf Jahre ein Moratorium vereinbart wird: Keine Steuererhöhung – wenn wir einfach mal sagen: Jetzt kommen wir mal überein, fünf Jahre lang überhaupt keine Steuern zu erhöhen – die Ökosteuer nicht, die Stromsteuer nicht, die Mehrwertsteuer nicht, die Lohn- und Einkommensteuer nicht. Lasst uns über Entlastungen nachdenken, aber bitte keine Steuererhöhungsdebatte. Denn diese ganze Debatte um Mehrwertsteuer, Erbschaftssteuer, Schenkungssteuer, Vermögenssteuer, die bei der SPD immer den großen Beifall findet, sie wirkt einfach depressiv stimmend. Sie legt Mehltau über unser Land. Die Menschen sind nicht mehr zu belasten. Wir sollten endlich aufhören, uns immer auf der Einnahmeseite die Diskussionen aufzuhalsen. Wir sollten uns der Ausgabeseite zuwenden.
Birke: Tun wir das, das heißt, wir streichen Subventionen – womöglich auch Kohlebergbau – nach Rasenmähermethode, oder entwurzeln wir? Sollen wir einige Subventionen ganz ausrotten?
Wulff: Wir müssen differenziert vorgehen. Wir haben mit Koch/Steinbrück pauschal überall gekürzt, dreimal vier Prozent, manchmal zwölf Prozent. Das war okay, aber man muss auch bestimmte Subventionen ganz zurückführen und andere muss man dauerhaft durchhalten. Und die Frage von Splitting ist auch für manche eine Subvention. Das wollen wir dauerhaft, dass Familien und Kinder begünstigt werden. Aber bestimmte andere Subventionen sind eben bestandssichernd, substanzerhaltend, veränderungblockierend, und über deren Abschaffung muss man reden. Und dazu gehören die Steinkohlesubventionen natürlich dazu.
Birke: Das heißt, Sie würden durchaus dafür plädieren, dass man da offensiv rangeht und die zur Disposition stellt?
Wulff: Die gehören auf Dauer abgeschafft. Das muss sozialverträglich passieren, es soll auch bestimmte Technologien nicht behindern, aber sie gehören im Kern abgeschafft.
Birke: Und wie ist es mit der Pendlerpauschale, Herr Wulff?
Wulff: Die Pendlerpauschale ist deshalb ja so hoch geworden, weil die Ökosteuer so enorm gesteigert wurde. Und man kann die Pendlerpauschale nicht jenseits der Ökosteuer diskutieren. Wenn also bei jeder Tankfüllung der Staat richtig zulangt, dann muss er die Arbeitnehmer, die lange Wege zur Arbeit haben, auch entsprechend entlasten. Das ist im Übrigen verfassungsrechtlich bewährt, nämlich das Nettoprinzip. Wenn jemand einen hohen Aufwand hat, um Geld zu verdienen, dann muss ihm der Aufwand abgezogen werden und erst der Rest darf versteuert werden. Das sagt das Bundesverfassungsgericht sehr deutlich. Deswegen müssen wir dem Arbeitnehmer gestatten, seine Aufwendungen ein Stück weit auch absetzen zu können, die er gehabt hat, um Geld zu verdienen, denn Sozialhilfe zu beziehen, kostet gar nichts, allenfalls eine Briefmarke im Monat, Arbeitseinkommen zu erzielen, hat Aufwand zur Folge. Und den Aufwand muss ich absetzen können.
Birke: Herr Wulff, wir haben jetzt viel über Details gesprochen. Aber ich möchte noch einmal ein Stichwort von Ihnen aufgreifen. Sie sagten, wir brauchen ein geschlossenes Programm, wir brauchen eine geschlossene Mannschaft, um 2006 anzutreten. Spielführerin Angela Merkel, und vielleicht ein Hauptmitspieler Christian Wulff – auch in einem Kabinett in Berlin?
Wulff: Ich bin absoluter Mitspieler von Angela Merkel. Ich bin ihr Stellvertreter und finde es außerordentlich angenehm, mich im Wesentlichen damit zu befassen, sie zu unterstützen in ihrer Arbeit als Fraktionsvorsitzende von CDU und CSU und auch als Parteivorsitzende der CDU Deutschlands. Es ist immer gut, wenn man sich auf Stellvertreter verlassen kann. Ich habe keinerlei eigenen Ambitionen damit verbunden, sondern habe das Amt, was ich über Jahre angestrebt habe – ich bin ja sozusagen der jüngste Ministerpräsident, aber wohl mit der längsten Vorbereitungszeit, einer langen Oppositionszeit –, und bin jetzt das, was ich werden wollte, habe daran große Freude und möchte lange Ministerpräsident in Niedersachsen sein. Und die Probleme sind so groß, dass ich auch in aller Bescheidenheit sage: Ich werde noch für längere Zeit hier in Niedersachsen gebraucht.
Birke: Vielen Dank, Herr Ministerpräsident, für dieses Gespräch.
Birke: Herr Wulff, Sie sagen, wir müssen die Augen offener halten, diese Aktivitäten mutmaßlicher Terrorurheber intensiver verfolgen. Wie weit wollen Sie da gehen? Lockerung bei den Telefonabhörmaßnahmen, Videoüberwachungen, wie Sie es ja schon direkt nach den Terroranschlägen in Madrid angeregt haben – Videoüberwachung insbesondere von Moscheen? Wie weit möchten Sie gehen?
Wulff: Sobald irgendwelche Anhaltspunkte da sind, dass sich Menschen irgendwo bewegen, die in El-Kaida-Ausbildungscamps in Afghanistan gewesen sind, muss es möglich sein, dass dort eine Videoüberwachung stattfindet – vorbeugend, vorsorgend –, um zu sehen, wer sich dort mit wem trifft. Das ist eine Information, die der Staat haben darf, haben sollte, und zwar vor folgendem Hintergrund: Die Täterinnen und vor allem Täter, mit denen wir es hier zu tun haben, begehen häufig nur ein einziges Delikt. Das ist dann ihr einziges, aber auch das schwerwiegendste – mit Hunderten von Menschenleben, die geopfert werden, die umgebracht werden, ermordet werden. Und das ist ein ganz neuer Tätertypus, die leben unauffällig, die machen keine Kleinstkriminalität, die kommen nicht in polizeiliche Register und in irgendwelche Datensysteme. Da hilft auch Rasterfahndung ganz offenkundig nicht, sondern die werden eben einmal kriminell, aber dann so schwerwiegend, dass die gesamte zivilisierte Welt – wie in New York, wie in Madrid – herausgefordert ist. Und da muss man einfach erkennen: Es braucht neue Formen der Bekämpfung dieser Kontakte und Mechanismen und Gruppen. Und wenn da international zusammengearbeitet wird, heißt das, dass man auch Beamte hat, die diese Sprache sprechen, dass man auch moderne Telekommunikationsmöglichkeiten nutzt – natürlich nur bei Anhaltspunkten. Aber wenn Anhaltspunkte da sind, dann soll dort auch schon mal abgehört werden können. Und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum großen Lauschangriff, die ist nicht sehr ermutigend, weil sie vieles auch erschwert.
Birke: Das wäre gerade die Frage gewesen an den Juristen Wulff. Haben Sie da nicht verfassungsrechtliche Bedenken, wenn Sie jetzt die Videoüberwachung und auch die Telefonüberwachung so drastisch ausweiten möchten?
Wulff: Die Politik muss alles tun, was die Sicherheit der Bevölkerung verbessert – bis an die Grenze dessen, was die Verfassung zulässt, aber auch keinen Millimeter über das hinaus, was die Verfassung zulässt. Und insofern werden wir es die nächsten Jahre häufig mit einer Entwicklung der Rechtsprechung zu tun bekommen, die eben auch auf neue Herausforderungen, neue Gefährdungen und neue technische Möglichkeiten reagieren muss. Es kann ja nicht sein, dass abhörsicher und abhörgeschützt die Kriminellen untereinander kommunizieren und die Polizei tatenlos zuguckt und weniger weiß als sie wissen könnte. Damit kann man auf Dauer nicht leben, denn die Bevölkerung hat das Anrecht darauf, dass im Mittelpunkt der Opferschutz steht und nicht der Täterschutz.
Birke: Nun haben wir auf EU-Ebene, Herr Wulff, die Tendenz, dass man die Nachrichtenerfassung zentralisieren will, die Kooperation verbessern möchte. Das wurde gerade auf dem zurückliegenden EU-Gipfel auch so von den Staats- und Regierungschefs beschlossen. Wären Sie auch dafür, dass man in Deutschland zum Beispiel den Verfassungsschutz zentralisiert und auch die Erfassung der verschiedenen Dienste zentralisiert?
Wulff: Ich kann nicht erkennen, dass Zentralisierung, Fusion, Größe automatisch mehr Sicherheit brächte, sondern eine bessere Koordination, Abstimmung, eine größere Transparenz der jeweils vorliegenden Erkenntnisse würde vollkommen ausreichen. Die Sicherheitslücken entstehen ja auch am ehesten dadurch, dass in einigen Bundesländern massiv Polizei abgebaut wird, die Zahl der Polizeibeamten verringert wird, während wir in Niedersachsen jetzt etwa 400 Polizisten mehr haben als vor einem Jahr und weitere 250 Anwärterstellen pro Jahr mehr schaffen, um eben dem Thema der inneren Sicherheit, der Bekämpfung der Kriminalität auch bereits im Bereich der Gefahrenabwehr, der Vorbeugung, sehr viel größeres Gewicht beimessen. Und das alles an den Bund zu delegieren gibt keineswegs mehr Gewissheit für höheren Schutz der inneren Sicherheit, sondern die Länder müssen sich zu diesem Bereich bekennen, ihn wahrnehmen. Und wenn dort alle sich Bayern beispielsweise zum Vorbild nehmen, dann haben wir ein hohes Maß an innerer Sicherheit.
Birke: Dennoch will Ihre Partei, die Union, ja eine Grundgesetzänderung, indem sie dann auch die Möglichkeit schafft, dass die Bundeswehr, die bisher ja nur für die Sicherheit im Äußeren zuständig ist, auch Aufgaben zur Wahrung der Sicherheit im Inneren wahrnimmt. Passt das zusammen? Brauchen wir das?
Wulff: Es gibt Fälle von chemischen, biologischen Angriffen auf Deutschland in Deutschland, wo nur die Bundeswehr die entsprechenden Fahrzeuge, die entsprechenden Abwehrmechanismen, das geschulte Personal hat. Und hier wird es unverzüglich dazu kommen, dass man die Bundeswehr um Hilfe bittet. Und das auf eine klare gesetzliche Grundlage zu stellen und mit dem Grundgesetz kompatibel zu machen, das ist das Ziel der Union. Und darüber muss jetzt sehr schnell eine Klärung herbeigeführt werden, und wir selber müssen auch mit unserem Koalitionspartner, der FDP, auf dem Feld noch einen Weg der Verständigung suchen. Aber der Vorstoß kam sowohl aus den Reihen der SPD als auch aus den Reihen der CDU/CSU, dass man den Einsatz der Bundeswehr im Inneren in extremen Gefährdungslagen klar regelt. Und die Angst, dass die Bundeswehr beispielsweise bei Demonstrationen eingesetzt werden könnte, ist völlig absurd und abwegig. Das will niemand. Die Demonstranten stehen allenfalls der Polizei gegenüber, aber nicht der Bundeswehr in Deutschland. Dazu bekennen wir uns auch klar. Aber für extreme Fälle von Angriffen aus der Luft oder auf dem Wasserweg, dort den Einsatz der Bundeswehr klar zu regeln, kann eigentlich niemand etwas haben.
Birke: Sie sehen auch keine Abgrenzungsprobleme zwischen der Arbeit der Polizei und den anderen Sicherheitskräften, wie zum Beispiel Bundesgrenzschutz und der Bundeswehr dann?
Wulff: Wir müssen auch die Zusammenarbeit zwischen der Polizei und dem Bundesgrenzschutz deswegen noch klarer regeln, weil ja der Bundesgrenzschutz längst keine wesentliche Verantwortung mehr an den Grenzen hat. Durch Schengen haben wir die meisten Grenzen in Europa beseitigt, und deswegen hat er seine Zuständigkeiten ja ins Inland verlegt – auf Autobahnen mit Kontrollen bisher noch nicht, aber möglicherweise in Zusammenarbeit mit der Polizei auf Flughäfen, auf Bahnhöfen, in Zügen. Und dort muss die Zusammenarbeit noch besser entwickelt werden zwischen der Polizei und dem Bundesgrenzschutz. Jedenfalls ist für uns der Bundesgrenzschutz eine große Unterstützung unserer Arbeit, eine wirkliche Hilfe. Und wir sind froh, wenn ein bisschen aufgepasst wird, wer in diesem Lande wo unterwegs ist, mit welchen Absichten und Zielen. Das ist auch, glaube ich, ein weit verbreiteter Wunsch der Bevölkerung. Und der Verfassungsschutz schützt die Verfassung, und die Bundeswehr schützt unser Land und die Freiheit und die Demokratie und die zivilisierte Welt, und die Polizei bemüht sich um Gefahrenabwehr. Das sind Dinge, die in einem Rechtsstaat offener Grenzen in einer globalen Welt von großer Bedeutung sind, denn wir sollten doch erkennen, dass unsere Gesellschaft in Gefahr gebracht werden soll, unter Druck geraten soll. Und daneben – das ist vielleicht auch ganz wichtig, zu sagen – sollten wir uns alle klaren Verstandes und auch mit Emotion dem Thema widmen, mit dem Koran, dem Islam, mit Muslimen den Dialog zu vertiefen und zu verstärken, über unser Leben zu reflektieren und über Brücken zu reden, die wir bauen in die islamische Welt, denn die große Mehrzahl der Muslime distanziert sich dankenswerterweise und glücklicherweise vom Terror. Sie wollen ein friedliches Zusammenleben, sie verfechten die Religion des Friedens, der Friedfertigkeit. Und mit denen müssen wir die Kontakte vertiefen und das Bild der westlichen Welt auch reflektieren, wie es sich in islamischen Staaten zum Teil darstellt. Und da müssen wir einfach sehen – mit jedem, den wir rüberziehen können, auf den Dialog bringen können, sollten wir den Dialog führen. Jeder, der sich des Dialogs verweigert, der eine Gefährdung darstellt, der soll auch wissen, dass er bei uns nicht die Freiheiten hat, die er gerade zerstören will.
Birke: Distanziert sich der Islam – der moderate Islam – deutlich genug Ihrer Meinung nach von den extremen Elementen?
Wulff: Ich glaube, wir müssen hier noch ein bisschen Verstärker spielen. Ich glaube, dass manche Imane und manche Vertreter der islamischen Gemeinden einfach in den nächsten Jahren deutlicher den Finger heben müssen, öffentlich vernehmbarer, und dass wir auch verstärkend wirken müssen. Ich glaube, wir brauchen Konferenzen in Berlin und in den Landeshauptstädten zum Dialog, aber auch zur gemeinsamen Abwehr gegen diese Form von Menschenverachtung, die wir in Madrid erlebt haben – also Lichterketten beispielsweise in München und anderswo mit unseren islamischen Freunden, die bei uns leben – einige Millionen Muslime, die bei uns leben –, eine Lichterkette gegen diesen Missbrauch des Koran, diesen Missbrauch des Islam. Das wird die nächsten Jahre wichtig werden.
Birke: Herr Wulff, Sie haben es vorhin selbst angesprochen, dass wir natürlich gefährliche Leute, Leute, die in El-Kaida-Trainigslagern waren, nicht hier dulden sollten. Das heißt ja für das Zuwanderungsgesetz, dass man hier eine rasche Abschiebung ermöglichen soll. Aber wie wollen Sie das genau definieren? Wann ist ein Mensch wirklich gefährlich? Kommen wir hier nicht an eine sehr fragwürdige – unter Bürgerrechts- und Menschenrechtsaspekten fragwürdige – Argumentationslinie?
Wulff: Ein Staat definiert sich aus Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt. Und wenn wir hier sagen, Leute, die in diesen Camps ausgebildet wurden, wollen wir hier nicht haben, dann brauchen wir sie nicht zu dulden, dann brauchen wir sie nicht einreisen zu lassen, und wenn sie reingekommen sind, können wir sie nach Hause schicken und sagen: Wir wollen das nicht. Das ist ein viel normalerer Vorgang, als er in den öffentlichen Debatten geschildert wird.
Birke: Mal unabhängig von den Camps jetzt: Wen würden Sie sonst für gefährlich einstufen? Zum Beispiel der Marokkaner, der jetzt unter dem Verdacht steht, mit an den Madrider Anschlägen beteiligt gewesen zu sein, ist ja nicht irgendwie vorher aufgefallen.
Wulff: Das ist eben die Problematik dieses Tätertypes, dass er in der Regel eben erst auffällt, wenn er in Verbindung mit solchen Anschlägen gebracht wird. Dagegen ist dann niemandem ein Kraut gewachsen. Aber wenn jemand Hass sät, wenn jemand aufruft, wenn jemand Broschüren verteilt, bei sich trägt, die zur Gewalt aufrufen, die Gewalt verharmlosen, die Bin Laden verherrlichen, dann gehört er nicht in unser Land, dann muss er sich wo anders ein Zuhause suchen. Hier in Deutschland hat jemand keinen Platz, der Bin Laden als Menschenverächter sozusagen zum Idol macht. Das muss das klare Signal sein – ich hoffe, aller Demokraten.
Birke: Wie zuversichtlich ist der niedersächsische Ministerpräsident denn, dass wir beim Zuwanderungsgesetz bald zu einer Einigung kommen?
Wulff: Die CDU-FDP-Landesregierung Niedersachsens setzt sich für einen Kompromiss ein. Wir glauben, dass man das Ausländerrecht vereinfachen kann, verklaren kann, neu regeln kann für die Zukunft, ohne zu einer Ausweitung der Zuwanderung in Deutschland zu kommen, wie das der ursprüngliche rot-grüne Entwurf vorsah, also die Zuwanderung tatsächlich ernsthaft sachlich zu begrenzen. Und dann wird es einen Kompromiss geben, mit der SPD haben wir ihn im Kern. Die Frage ist jetzt: Werden die Grünen in der Koalition der Bundesregierung den Kompromiss verhindern oder werden sie dem Kompromiss ihre Zustimmung geben? Wir haben einen Konsens von 80 Prozent im Deutschen Bundestag und im Deutschen Bundesrat. Das Problem sind die Grünen. Und das müssen die Grünen sehen, ob sie sich hier einer Neuregelung verweigern wollen.
Birke: Spielen Sie da nicht ein bisschen auch die Taktik-Karte und wollen da so einen Keil in die rot-grüne Koalition treiben?
Wulff: Die rot-grüne Koalition hat den Vermittlungsausschuss damals verweigert, hat verfassungswidrig das Zuwanderungsgesetz durch den Bundesrat gebracht. Jetzt endlich sind wir im Vermittlungsausschuss dabei, über eine Kompromisslinie zu verhandeln, und jetzt sollte es auch einen Kompromiss geben. Aber dass es den nicht geben kann zu grünen Bedingungen, mit einer Ausweitung der Zuwanderung in Deutschland, das war jedem von Anfang an klar. Das ist mit uns nicht zu machen, dafür sehen wir die Gefährdungspotentiale zu groß. Und der Arbeitsmarkt verkraftet im Kern nicht weitere Zuwanderung, wir müssen erst einmal hier für die vorhandenen Arbeitslosen ordentlich Arbeit schaffen.
Birke: Für die vorhandenen Arbeitslosen ordentlich Arbeit schaffen, Herr Wulff, das ist ja auch das Streitthema gewesen letzte Woche noch einmal im Bundestag, wo ja über die Reform-Agenda von Kanzler Schröder – 2010 – noch einmal heftig debattiert und gestritten wurde. Wo sehen Sie eigentlich noch Ansätze für eine gemeinsame Linie auch dort, die ja nötig ist, um gewisse Dinge wirklich auf den Weg zu bringen zwischen Regierung und Opposition?
Wulff: Die Lage ist schwieriger geworden durch die Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom vergangenen Donnerstag, weil die SPD keine wirkliche Analyse vollzogen hat, warum es ihr derzeit so schlecht geht. Die SPD ist nicht deshalb im Keller, weil sie zuviel gemacht hätte, weil sie zu große Reformen versucht hätte, weil sie das Volk überfordert hätte, sondern sie ist im Keller, weil sie kleine Schritte des Richtigen getan hat im vergangenen Jahr, aber das Gegenteil von dem getan hat, was sie über Jahre versprochen und angekündigt hat. Das heißt, die haben ein Riesen-Vertrauensproblem, denen folgt keiner, weil er sich nicht richtig fair und ehrlich behandelt fühlt. Und jetzt haben wir die Situation, wo nach einem Jahr Agenda 2010 Bilanz gezogen wird. Und diese Bilanz habe ich so verstanden, dass gesagt wird, wir seien über den Berg, es würde jetzt besser, es ginge jetzt aufwärts, die großen Dinge seien gemacht, jetzt könnte man Tempo nehmen aus dem Rennen. Und wir sind im Wettbewerb, wir sind immer noch hinten. Wir müssen nach vorne kommen, wir müssen Tempo verstärken, wir müssen aufs Gas drücken. Stattdessen nimmt der Bundeskanzler Tempo raus aus dem Rennen, wir würden also weiter zurückfallen. Jeder spürt, jeder hat Ängste vor der Zukunft, dass Deutschland auf der Kippe steht. Entweder Exzellenz – besonders gut zu sein weltweit, oder Exodus – Verlust von Arbeitsplätzen ins Ausland. Und vor diesem Hintergrund halte ich es für einen ganz, ganz kapitalen Grundfehler vom Bundeskanzler, dass er hier nicht zu weiteren Schritten, zu weiteren Veränderungen, zu mehr Eigenverantwortung, zu mehr Flexibilität, zu Veränderungen des Arbeitsrechts, Tarifrechts, Steuerrechts aufgefordert hat, sondern dass er eigentlich gesagt hat: Alles wird gut, wir haben's im Griff und das Wesentliche ist gemacht. Das ist der zweite große Fehler, da wird es wieder an Vertrauen fehlen.
Birke: Herr Wulff, greifen wir mal einen der Punkte heraus. Sie haben ja darauf hingewiesen, dass der Kanzler in seiner Rede angedeutet hat, dass keine weiteren tiefen Einschnitte ins soziale Netz kommen sollen. Sie haben jetzt gerade Kündigungsschutz, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes noch mal als Stichpunkte genannt. Wie weit wollen Sie da gehen?
Wulff: Es ist in Deutschland der Arbeitnehmer dreimal besser geschützt als in Amerika, arbeitslos zu werden, das ist wahr . . .
Birke: . . . also Kündigungsschutz noch weiter herunter, ab fünf Beschäftigten oder null?
Wulff: Wissen Sie, den Kündigungsschutz gibt es ja nach Zivilrecht für alle, der bleibt ja auch. Die Frage ist – Kündigungsschutzgesetz, Sozialauswahlverpflichtung, Tarifvertragsrecht: Ist es nicht so, dass der Schutz, einen Arbeitsplatz zu verlieren, dreimal besser ist als in Amerika, aber wieder einen Arbeitsplatz zu finden zwölf mal schwerer als in Amerika? Das heißt: Wir haben sechs Millionen ohne Arbeit, und denen hat der Kündigungsschutz gar nichts gebracht, die sind alle arbeitslos geworden, ohne dass ihnen der Kündigungsschutz geholfen hätte. Aber jetzt erweist sich manche Regelung als unüberwindbar, als eine Mauer um vorhandene Arbeitsplätze herum, die für Arbeitslose nicht übersprungen werden kann. Einer über 50 wird eben in der Regel gar nicht mehr einen Arbeitsplatz finden, weil der Arbeitgeber sagt: Wenn ich den einstelle, dann kann ich bei notwendig werdenden Kündigungen den gerade nicht kündigen wegen der Sozialauswahl, und deswegen stelle ich ihn lieber gar nicht erst ein. Und denen die Chancen zu erhöhen, wieder Arbeit zu finden, weil sie selber auch mehr Freiheit haben, Arbeitsverträge abzuschließen, wird eine wichtige Aufgabe sein. Der Einzelne soll in Option verzichten können auf Kündigungsschutz und dafür eine vorher vereinbarte Abfindung aushandeln. Wenn er dann drei, vier Jahre beschäftigt war, bekommt er eine bestimmte Abfindung – mehrere Monatsgehälter –, wenn er gekündigt würde. Aber der Arbeitgeber hat nicht das Risiko eines Rechtsstreits von sechs, von acht, von zehn Monaten, wo derjenige, der den Rechtsstreit führt, nicht arbeitet und anschließend vielleicht die acht Monate nachgezahlt bekommt und wieder beschäftigt bleibt. Dieses Risiko fürchten viele Mittelständler. Und wenn wir Beschäftigung in Deutschland wieder erhöhen wollen, dann brauchen wir mehr Flexibilität - lieber befristet Arbeit zu haben als unbefristet arbeitslos zu sein, lieber 40 Stunden arbeiten zu müssen als Anspruch auf 35 Stunden, aber keinen Arbeitsplatz zu haben. Dies Umdenken wird in den Köpfen, in den Mentalitäten stattfinden müssen, sonst ist dies Land nicht wettbewerbsfähig gegenüber anderen Ländern.
Birke: Herr Wulff, ist denn diese Position in Ihrer Partei, in der Union – ich denke da auch an die Schwesterpartei, die CSU – mehrheitsfähig, oder gilt das, was Ihrer Parteivorsitzenden Angela Merkel so als 'Freudscher Versprecher' in der Bundestagsdebatte herausgerutscht ist, wo sie von der 'Zerstrittenheit der Opposition' sprach?
Wulff: Ich bin erst einmal froh, dass wir jetzt streiten – ringen – um den besten Weg, denn wir müssen in dem Moment, wo wir die Bundesregierung übernehmen – und danach sieht ja heute dankenswerterweise alles aus, dass das demnächst der Fall ist, spätestens 2006 –, dann müssen wir im Detail wissen, was wir tun. Und dann müssen wir es tun, und zwar sofort tun und Politik aus einem Guss machen. Dann können wir nicht mehr ringen um den besten Weg. Jetzt in der Opposition kann man sich das leisten. Die Oppositionszeit ist eine Zeit, wo man sich vorbereitet auf das Regieren. Und wir wollen nicht den Fehler der jetzigen Bundesregierung wiederholen, jetzt die Konflikte unter den Teppich kehren, dann die Regierung übernehmen und dann den Streit beginnen und gar nicht zu wissen, was wir dann tun wollen. Sondern wir wollen dann genau wissen, was wir dann machen. Und daran haben Roland Koch, Ole von Beust, ich und andere deshalb ein Interesse, weil wir eineinhalb Jahre nach 2006 unsere Landtagswahlen haben. Dann wollen wir gut dastehen und nicht so wie die heutige Bundesregierung. Deswegen ringen wir jetzt in der Steuerpolitik, in der Gesundheitspolitik, beim Arbeits- und Tarifrecht. Ich glaube, entscheidend für die Mehrheitsfähigkeit in Deutschland ist, dass die Bevölkerung sagt: Die machen Politik aus einem Guss, ein Gesamtkonzept verwirklichen sie. Jeder wird herangezogen, jeder wird betroffen, gerecht behandelt, und am Ende wird's besser werden. Ohne die Vision, dass es besser wird, kann man überhaupt keine Veränderung mehr in Deutschland mehrheitsfähig machen.
Birke: Sie wollen hier eine Vision, eine geschlossene Linie haben. Wie ist in dem Zusammenhang die alte Forderung der Union nach dem Familiengeld abzuwägen gegenüber dem Vorschlag, den der Bundeskanzler Gerhard Schröder ja auch in der Debatte letzte Woche eingebracht hat, nämlich die Eigenheimzulage zu streichen – acht Milliarden –, auch die Goldreserven der Bundesbank zu verkaufen, um einerseits in Forschung und Entwicklung zu investieren, aber vor allen Dingen auch für die Familien etwas zu tun?
Wulff: Wir wollen im Bereich der Eigentumsförderung die Wohnungsbauprämie erhalten, damit Menschen auch ein Stück weit in Eigentum investieren, und wir wollen eine gewisse Begünstigung der Eigenkapitalsbildung im Eigenheimbereich, weil das Vorsorge fürs Alter ist und weil das gesellschaftspolitisch gewollt ist, denn Familien, die Eigentum haben, die ziehen ihre Kinder so auf, dass diese auch weniger folgelastig werden für andere Politikfelder. Und die Bauwirtschaft braucht auch gewisse Impulse. Aber natürlich kann man hier abschmelzen und das Geld zur Entlastung auf der steuerlichen Seite nehmen oder für bestimmte Ausgaben im investiven Bereich. Problem ist, dass man nicht investive Ausgaben wie die Eigenheimzulage zugunsten konsumtiver Ausgaben verlagern darf, sondern man muss sparsam sein im Verwaltungsbereich und das in Investitionen umleiten. Daran hat der Bundeskanzler nicht zureichend gedacht. Er müsste sparsamer werden in seinem eigenen Bereich. Und was da die Bundesregierung für Geld verschleudert und verschwendet, beispielsweise für Öffentlichkeitsarbeit, das geht auf gar keine Kuhhaut. Also, Sparsamkeit würde ich mir im konsumtiven Bereich wünschen, und investive Anschübe für die Bauwirtschaft sollte man nicht als erstes heranziehen, wenn man sparen will. Die Investitionsquote ist historisch auf einem Tiefststand. Ich sehe beim Familiengeld, weil Sie danach fragen, den Schwerpunkt auf der großen Steuerreform. Wenn wir es schaffen, dass jedes Familienmitglied, jedes Kind, einen Freibetrag von 8.000 Euro bekäme, wie wir das vorsehen, dann hätte eine Familie mit zwei Kindern Steuern überhaupt erst zu bezahlen ab etwa 33.000 Euro im Jahr. Das wäre eine wirkliche familienpolitische Maßnahme, und das wäre auch eine weitreichende Verwirklichung des Familiengeldes.
Birke: Was halten Sie denn von der Idee Ihrer Ministerpräsidenten-Kollegin Heide Simonis, nun statt Ehegattensplitting eine Art Kindessplitting einzuführen und notfalls eben auch die Mehrwertsteuer zu erhöhen, um somit auch Aufgaben für die Familien zu finanzieren?
Wulff: Familiensplitting ist sehr gut, dass man jedes Familienmitglied fair und gleich behandelt mit einem großen Freibetrag. Abbau des Ehegattensplittings halte ich für verfassungswidrig. Wir genehmigen jeder Erwerbsgemeinschaft, selber zu entscheiden, wie sie das Einkommen, was gemeinsam erzielt wird, den einzelnen Köpfen zuordnet. Und es ist nun einmal Privatsache, ob einer viel und der andere wenig, ob beide gleich viel arbeiten und verdienen. Auf jeden Fall steht dies der Familie als Erwerbsgemeinschaft zu und muss auch gemeinsam besteuert werden. Nichts anderes macht das Ehegattensplitting. Und wir wollen ja die Familie begünstigen deshalb, weil in der Familie der eine für den anderen ein Leben lang Verantwortung übernimmt, und wenn die Ehe scheitert, über die Unterhaltspflichten trotzdem ein Leben lang verpflichtet ist. Und diese Verpflichtung entraubt den Staat seiner Zuständigkeiten. Das heißt, das ist lebendes Subsidiaritätsprinzip. Erst mal kommen Menschen für andere direkt in Verantwortung auf und erst im Nachklang der Staat mit Sozialhilfe und anderen Hilfsmaßnahmen. Wenn die Leute nicht mehr heiraten würden, wenn sie sich zur Ehe und Familie nicht mehr bekennen würden, dann würde immer dann, wenn ein Problem auftritt, sofort der Staat primär haften und nicht mehr subsidiär. Das muss man mal wieder erkennen, wie stark die Familien den Staat von bestimmten Aufgaben entlasten. Und deswegen gehören Familien begünstigt.
Birke: Auch über die Mehrwertsteuererhöhung notfalls? Die Frage hatten Sie nicht beantwortet.
Wulff: Ich glaube, dass wir Kapital, was ja in großer Zahl aus Deutschland abgeflossen ist, dann wieder nach Deutschland bekommen, wenn hier einfach mal fünf Jahre ein Moratorium vereinbart wird: Keine Steuererhöhung – wenn wir einfach mal sagen: Jetzt kommen wir mal überein, fünf Jahre lang überhaupt keine Steuern zu erhöhen – die Ökosteuer nicht, die Stromsteuer nicht, die Mehrwertsteuer nicht, die Lohn- und Einkommensteuer nicht. Lasst uns über Entlastungen nachdenken, aber bitte keine Steuererhöhungsdebatte. Denn diese ganze Debatte um Mehrwertsteuer, Erbschaftssteuer, Schenkungssteuer, Vermögenssteuer, die bei der SPD immer den großen Beifall findet, sie wirkt einfach depressiv stimmend. Sie legt Mehltau über unser Land. Die Menschen sind nicht mehr zu belasten. Wir sollten endlich aufhören, uns immer auf der Einnahmeseite die Diskussionen aufzuhalsen. Wir sollten uns der Ausgabeseite zuwenden.
Birke: Tun wir das, das heißt, wir streichen Subventionen – womöglich auch Kohlebergbau – nach Rasenmähermethode, oder entwurzeln wir? Sollen wir einige Subventionen ganz ausrotten?
Wulff: Wir müssen differenziert vorgehen. Wir haben mit Koch/Steinbrück pauschal überall gekürzt, dreimal vier Prozent, manchmal zwölf Prozent. Das war okay, aber man muss auch bestimmte Subventionen ganz zurückführen und andere muss man dauerhaft durchhalten. Und die Frage von Splitting ist auch für manche eine Subvention. Das wollen wir dauerhaft, dass Familien und Kinder begünstigt werden. Aber bestimmte andere Subventionen sind eben bestandssichernd, substanzerhaltend, veränderungblockierend, und über deren Abschaffung muss man reden. Und dazu gehören die Steinkohlesubventionen natürlich dazu.
Birke: Das heißt, Sie würden durchaus dafür plädieren, dass man da offensiv rangeht und die zur Disposition stellt?
Wulff: Die gehören auf Dauer abgeschafft. Das muss sozialverträglich passieren, es soll auch bestimmte Technologien nicht behindern, aber sie gehören im Kern abgeschafft.
Birke: Und wie ist es mit der Pendlerpauschale, Herr Wulff?
Wulff: Die Pendlerpauschale ist deshalb ja so hoch geworden, weil die Ökosteuer so enorm gesteigert wurde. Und man kann die Pendlerpauschale nicht jenseits der Ökosteuer diskutieren. Wenn also bei jeder Tankfüllung der Staat richtig zulangt, dann muss er die Arbeitnehmer, die lange Wege zur Arbeit haben, auch entsprechend entlasten. Das ist im Übrigen verfassungsrechtlich bewährt, nämlich das Nettoprinzip. Wenn jemand einen hohen Aufwand hat, um Geld zu verdienen, dann muss ihm der Aufwand abgezogen werden und erst der Rest darf versteuert werden. Das sagt das Bundesverfassungsgericht sehr deutlich. Deswegen müssen wir dem Arbeitnehmer gestatten, seine Aufwendungen ein Stück weit auch absetzen zu können, die er gehabt hat, um Geld zu verdienen, denn Sozialhilfe zu beziehen, kostet gar nichts, allenfalls eine Briefmarke im Monat, Arbeitseinkommen zu erzielen, hat Aufwand zur Folge. Und den Aufwand muss ich absetzen können.
Birke: Herr Wulff, wir haben jetzt viel über Details gesprochen. Aber ich möchte noch einmal ein Stichwort von Ihnen aufgreifen. Sie sagten, wir brauchen ein geschlossenes Programm, wir brauchen eine geschlossene Mannschaft, um 2006 anzutreten. Spielführerin Angela Merkel, und vielleicht ein Hauptmitspieler Christian Wulff – auch in einem Kabinett in Berlin?
Wulff: Ich bin absoluter Mitspieler von Angela Merkel. Ich bin ihr Stellvertreter und finde es außerordentlich angenehm, mich im Wesentlichen damit zu befassen, sie zu unterstützen in ihrer Arbeit als Fraktionsvorsitzende von CDU und CSU und auch als Parteivorsitzende der CDU Deutschlands. Es ist immer gut, wenn man sich auf Stellvertreter verlassen kann. Ich habe keinerlei eigenen Ambitionen damit verbunden, sondern habe das Amt, was ich über Jahre angestrebt habe – ich bin ja sozusagen der jüngste Ministerpräsident, aber wohl mit der längsten Vorbereitungszeit, einer langen Oppositionszeit –, und bin jetzt das, was ich werden wollte, habe daran große Freude und möchte lange Ministerpräsident in Niedersachsen sein. Und die Probleme sind so groß, dass ich auch in aller Bescheidenheit sage: Ich werde noch für längere Zeit hier in Niedersachsen gebraucht.
Birke: Vielen Dank, Herr Ministerpräsident, für dieses Gespräch.