Mittwoch, 17. April 2024

Archiv


Wunder der Menschwerdung

Nein, als Glückskind des Lebens lässt sich Hercule Barfuss wahrhaftig nicht bezeichnen. Im Gegenteil scheint er geradewegs dazu geschaffen, sowohl die Unerträglichkeit als auch die Unmöglichkeit des Daseins vorzuführen. Und diese Vorführung kann leicht den Gedanken provozieren, wie gut es doch ist, dass Worte hinter der Gewalt unmittelbarer Anschauung meistens zurückbleiben. Denn die erste Begegnung mit dem Romanhelden Hercule Barfuss ist schlichtweg schreckenerregend. Diese Erfahrung macht schon der Königsberger Arzt Doktor Götz, der das unglückliche Wesen in einer Winternacht des Jahres 1813 durch eine Notoperation aus dem Körper seiner sterbenden Mutter befreit. Das Gesicht des Kindes ist zerrissen und entstellt durch eine riesige Hasenscharte, die Zunge gespalten, der Schädel riesengroß, die Arme hingegen sind nur kurze Stummel. Ganz zu schweigen von den Gebrechen, deren ganzer Umfang erst ein Jahrhundert später erkennbar wird.

Hajo Steinert | 28.11.2004
    Während der Obduktionen, die nach seinem Tod durchgeführt wurden, fand man eine Menge verwirrender physiognomischer Paradoxa. Sein Herz zum Beispiel war überdimensioniert, doppelt so groß wie bei einem normalen Menschen, obwohl er ein Zwerg war. [...] Der Arzt schrieb, er habe ‘gegen jede Wahrscheinlichkeit gelebt’, mit einem Herzen, das in seiner frühen Kindheit hätte stehen bleiben müssen, mit nur einer Niere, mit nur einer funktionierenden Lunge, den Bauch voller Krebsgeschwülste, die den damaligen Fachleuten zufolge beinah ein halbes Jahrhundert alt waren. Die faszinierendste Entdeckung bei der Autopsie aber betraf das Gehörorgan: Der Vestibularapparat, der das Gleichgewichtszentrum eines Menschen bildet, fehlte ganz. Eigentlich hätte er nicht in der Lage sein dürfen, zu gehen oder sich überhaupt zu bewegen.

    Muss man noch hinzufügen, dass der Mann weder hören noch reden konnte, also taubstumm war? Trotzdem lebte er ganze hundertundein Jahre, und das nicht etwa als elender Pflegefall in der Obhut irgendeiner wohltätigen Institution, sondern als geheimnisvoll begabter, tatkräftiger, wehrhafter und leidenschaftlicher Zeitgenosse. Was nichts anderes heißt, als dass es in Carl-Johan Vallgrens Roman noch um viel mehr geht als allein um die "Geschichte einer ungeheuerlichen Liebe", von welcher der Titel spricht. Es geht um nichts Geringeres als um den noch viel erstaunlicheren Fall eines Lebens gegen alle Wahrscheinlichkeit.

    Vallgrens Roman handelt von der Menschwerdung eines anfangs einfach nur beklagenswerten Geschöpfes und zwar im doppelten Sinn: Hercule Barfuss bildet sich trotz seiner zahllosen Behinderungen zu einem vielseitig tätigen Menschen aus und zugleich durchläuft er dabei den Emanzipationsprozess, der sich zwischen den Anfängen des neunzehnten und dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts vollzog. Was jedoch keineswegs heißt, dass Vallgrens Roman auch den Titel tragen könnte: Wie der behinderte Mensch allmählich zu Bürger- und Menschenrechten kam. Denn obwohl diese thematische Linie keineswegs zu unterschätzen ist, dominieren in der Romanhandlung doch ganz andere, weniger gesittete, viel mehr effektbetonte - um nicht zu sagen: reißerische - Akzente. So muß der Königsberger Geburtshelfer Doktor Götz nach dem Schrecken über das Aussehen des Neugeborenen gleich noch einen zweiten Schock verkraften, als er die Augenlider des Knaben öffnet.

    ... plötzlich hörte der Junge auf zu keuchen und betrachtete ihn ohne ein Blinzeln, ohne ein Zittern, mit so festem Blick, dass der Doktor zurückprallte. Götz begriff nicht, wie, aber auf irgendeine Weise sah der Junge direkt in ihn hinein oder stieg sogar in ihn hinein, wie ein Parasit in einen Menschenkörper eindringen kann, ohne dass es bemerkt würde. Er war da, ohne Sprache, seiner eigenen Existenz kaum bewußt, er war da wider alle wissenschaftlichen Gesetze, und das Schlimmste war, er las im Bewußtsein des Doktors dessen allergeheimste Gedanken.
    Zitternd bis ins Mark übergab er das Kind Madame Schall.
    ‘Der Priester hat recht’, murmelte er. ‘Das ist kein Mensch. Das ist ein Kind des Teufels.’


    Im Hause von Madame Schall ist das schaurige Knäblein zunächst gut aufgehoben. Dort nimmt man es mit den Abweichungen von der Norm nicht so genau und mit den gestrengen Maßstäben der Kirche schon gar nicht. Schließlich nennt Madame Schall das führende Bordell von Königsberg ihr eigen. Hercules Mutter, die durch seinen Riesenschädel bei der Geburt tödlich verletzt wurde, gehörte zum Personal. Nun wird ihr Kind fürsorglich aufgenommen.

    Und das ist keine üble erste Adresse für einen Helden, wie ihn Carl-Johan Vallgren hier entwirft. Denn wie gesagt: Die Geschichte des Hercule Barfuss hat an reißerischen Elementen einiges aufzuweisen, und deren Herkunft ist nicht von schlechten Eltern. Dämonische Kräfte, vernunftwidrige Geheimnisse, diabolische Grausamkeiten, phantastische Begebenheiten, überirdische Liebesleidenschaft - nichts von all dem, was den Lebensweg von Hercule Barfuss entscheidend bestimmt, lässt sich so ganz der diesseitigen Wirklichkeit zurechnen. Fast alles entstammt vielmehr im engeren oder weiteren Sinn dem großen dämonisch-phantastischen Repertoire des englischen Schauerromans, der Schwarzen Romantik, des E.T.A.Hoffmann etcetera.

    Was unter anderem den Reiz hat, dass Vallgren damit seinen 1813 geborenen Helden mit motivgeschichtlicher Kennerschaft auch kulturhistorisch in jener Zeit verwurzelt. Höchst wahrscheinlich übrigens, dass dabei als Erfolgsmodell außerdem noch ein neueres Vorbild Pate gestanden hat, nämlich Patrick Süskinds Roman "Das Parfüm".

    Jedenfalls war auch das Zentralmotiv von Vallgrens Roman ein Faszinosum des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts: La belle et la bête, die Schöne und das Monster. Die Liebe, welche den Dreh- und Angelpunkt in Hercules Leben darstellt, ist deshalb eine "ungeheuerliche", weil sie genau solch ein Paar verbindet - den schrecklich Missgestalteten mit der vollendeten Schönheit. In derselben Nacht als Hercule im Königsberger Bordell zur Welt kommt, wird im Nebenzimmer ein Mädchen geboren.

    Solange Hercule sich erinnern konnte, hatte er das Mädchen, das das Schicksal in seiner Unergründlichkeit am selben Abend wie ihn hatte zur Welt kommen lassen, angebetet. Es war eine Liebe, die sich in den Anfängen der Zeit verlor, als die Welt noch keine Konturen hatte.

    Psychologische Erklärungen für diese Liebe darf man also nicht erwarten. Das allzumenschliche Maß des psychologischen Realismus gehört nicht zu den Leidenschaften des vierzigjährigen Vallgren, den man in seiner schwedischen Heimat mit dem nicht leicht zu verkraftenden Ehrentitel eines "neuen Strindberg" versehen hat. "Der Kontrakt des Spielers" heißt einer seiner Romane, der 1999 ins Deutsche übersetzt wurde. Darin handelt sich der Held in einer faustischen Wette die Unsterblichkeit ein, mit der Folge, dass er die Nöte und Gewalttaten des Zwanzigsten Jahrhunderts, vom Ersten Weltkrieg über den Holocaust bis zum irischen Bürgerkrieg durchmachen muss.

    Hercule Barfuss dagegen durchquert das Neunzehnte Jahrhundert. Allerdings mit dem Unterschied, dass in seinem Fall die großen Geschichtsdaten kaum eine Rolle spielen. Seine Odysse beginnt in dem Moment, als er die geliebte Henriette aus den Augen verliert. Eines Tages ist es für das Mädchen so weit, den Bordelldienst anzutreten, und dabei gerät sie ausgerechnet an den schwer perversen Senatspräsidenten Klaus von Kiesingen. Hercule stellt den Freier bloß, um Henriette zu beschützen. Daraufhin schließt der mächtige Mann das Etablissement und sinnt auf Rache. Die Belegschaft wird in alle Winde zerstreut.

    Hercule hat vorerst Glück. Er kommt in einem Kloster unter, wo er trotz seiner Taubheit und der verkürzten Arme meisterhaft die Orgel spielen lernt - mit seinen Füßen, die ihm die Hände ersetzen. Noch wichtiger aber wird seine Fähigkeit, die Gedanken anderer Menschen sowohl zu lesen als auch zu lenken. Das allerdings versetzt die Gläubigen in Aufruhr und ruft die Heilige Inquisition auf den Plan. Bei einer Reise nach Rom wird sein klösterlicher Mentor von den Glaubenswächtern des Vatikans umgebracht, Hercule kann entkommen.

    Für eine Weile geht es nun auf den gewundenen, zufälligen Wegen des Schelmenromans durch die Welt. Zusammen mit anderen Monstern, wie sie sich selbst nennen, verblüfft Hercule in der Zirkusarena das Publikum, bis ihn die Schergen der Inquisition erneut ausfindig machen und die Gemeinschaft der Ausgestoßenen in Flammen aufgehen lassen. Aufgrund seiner Fähigkeit, die Gedanken anderer zu belauschen, kann Hercule entkommen. Ironischerweise fällt er dann aber an seiner nächsten Station auf eine hochstaplerische Gräfin mit Swedenborg-Tick herein. Ganz abgesehen davon jedoch, benutzt der Autor Vallgren die halbseidene Dame mit einigem Vergnügen dazu, ein wenig über die Schweden als solche herzuziehen.

    Die hervorstechendsten Eigenschaften der Schweden, behauptete sie immer, seien Neid, Herrschsucht und Karrierismus. Ständig seien sie mit verderbten Gewohnheiten befasst, Titeljagd, Schnapstrinken und Kopulieren.

    Diese Tiraden erinnern an ein anderes von Vallgrens bereits ins Deutsche übersetzten Büchern, an den 2001 veröffentlichten Roman "Für Herrn Bachmanns Broschüre". In Form eines langen fiktiven Briefes steigert sich der Held dort in eine verächtliche Erregung über seine Landsleute hinein, die in ihrem Verurteilungsfuror gelegentlich durchaus eines Thomas Bernhard würdig wäre.

    Doch zurück zu Hercule Barfuss, dessen Sorgen andere sind. Schließlich taumelt er nicht nur durch die Welt wie ein umhergeworfener Schelm, sondern er sucht nach Henriette. Gefunden jedoch wird er von ihr, in Berlin, im Rinnstein. Nachdem sie ihrerseits von einem modern denkenden, wohlhabenden Manufaktur-Unternehmer aus dem Elend errettet wurde, kann sie nun mit dem Einverständnis des großmütigen Ehemannes den geliebten Hercule bei sich aufnehmen.

    Hercule war erschüttert von der Intensität der Gefühle, die all die Jahre der Entbehrung hindurch in ihnen beiden weitergelebt hatten, der Glut, mit der sie einander gegen Mitternacht suchten, ihre Art, ohne Worte miteinander zu sprechen, und der Energie, die sein Dasein strahlen ließ, wenn er Henriette nur sah. Ihre Liebe enthielt alles, denn sie war größer als das Leben.
    Sie bildeten eine vollkommene Einheit. In der ersten Zeit trennten sie sich nur, um noch zu schlafen oder um allein für sich die Lebensgeschichte des anderen zu verarbeiten. Er sollte sich an diese Zeit als an die praktische Anwendung der Idee vom Ursprung der Liebe erinnern, wie sie in Platos ‘Symposion’ beschrieben ist: Jeder von ihnen war die fehlende Hälfte des anderen, und beide verschmolzen erneut miteinander.


    Tatsächlich: Nicht nur Hercules körperliche Beschaffenheit hat mit den profanen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit sowenig zu tun wie seine übersinnlichen Fähigkeiten, auch die "ungeheuerliche Liebe", die ihn mit Henriette verbindet, bezieht ihre Plausibilität aus anderen Sphären. Angesichts dieses wundersamen Verhältnisses hat der Autor wohl selbst nicht so genau gewusst, wie sich das im Einzelnen erzählerisch glaubwürdig darstellen lässt. Jedenfalls bleibt Vallgren auch in dieser Hinsicht dem Geist seiner Vorbilder auf dem Feld der romantischen Phantastik treu: Das Unerhörte bedarf weder der psychologischen Beglaubigung noch der rationalen Begründung.

    Trotzdem ist dabei eine Einbuße mit Sicherheit in Kauf zu nehmen. Denn das, was einmal ästhetische Entdeckung und Kunstleistung war, das schrumpft in der heutigen literarischen Wiederholung eben doch zusammen auf das kleinere Format des Bildungszitates und des unterhaltsamen Spiels. Dabei allerdings erzielt Vallgren zweifellos eine ganze Menge reizvoller Effekte.

    So erscheint Platons Liebesmythologie im Hinblick auf Hercule natürlich besonders treffend. Als die zornigen Götter die aufbegehrenden Kugelmenschen zerrissen, entstanden ja nicht nur zwei Menschen, die hinfort sehnsüchtig nach ihrer anderen Hälfte suchten. Diese Zerrissenen waren darüberhinaus traumatisch Verletzte, die nach Heilung strebten. Nach Heilung durch Liebe, wie sie auch der körperlich vielfach verletzte Hercule zusammen mit Henriette erfährt.

    Doch damit nicht genug. Vallgren hat noch öfter ins Archiv gegriffen und der postmodernen Versuchung zum Zitieren nachgegeben. Hercules große Liebe heißt Henriette Vogel. Sie trägt also den Namen jener Dame, mit der zusammen Heinrich von Kleist Selbstmord beging. Das ist, obwohl dabei ein kleiner Interpretationsgewinn herausspringen mag, doch eher irritierend. Genauso verhält es sich im Falle eines Brüderpaares, unter dessen Regiment Hercule jahrelang in einem infernalischen Irrenhaus zu leiden hat. Die beiden tragen den Namen Moosbrugger, wie der berühmte Mörder aus Musils "Mann ohne Eigenschaften". Das ist gewiss eine sinnige, vielsagende Anspielung. Gleichzeitig aber wirken solche Zitatrequisiten doch auch leicht als pure Versatzstücke, die er Erzählung einen Effekt hinzufügen, ihr dafür aber ein Stück an Eigengewicht wegnehmen.

    Darin besteht überhaupt die Gratwanderung, die Vallgren mit seinem Roman absolviert. Er will seine Leser packen, erschüttern, fesseln und zum Staunen bringen und benutzt dabei natürlich sehenden Auges und mit viel Geschick vorwiegend Mittel aus zweiter Hand. Was für ihn einnimmt, ist, dass er nie in schiere Plattheiten abstürzt. Als Direktor und Regisseur seines postmodernen Erzähltheaters macht er sogar eine ausgesprochen gute Figur. So kann es den Lesern schon allein den Atem rauben, mit welcher Kaltblütigkeit er seine Figuren mitsamt ihrer Liebe in schnellem Wechsel durch alle Höhen und Tiefen, Nöte und Hoffnungen jagt.

    Vornehmlich natürlich durch die Nöte und Tiefen, weil die schließlich viel spannender sind als schlichte Liebesseligkeit. Mit der es denn auch schnell wieder ein Ende hat. Henriette bringt ein Kind der Liebe zur Welt, das ihr Ehemann glücklicherweise für sein eigenes hält; das Liebespaar plant die Flucht nach Amerika; und dann schlägt schon das Schicksal zu. Den Häschern der Inquisition, die Hercule nach wie vor verfolgen, unterläuft im Dunkel der Mordnacht eine Verwechslung und sie verüben ihr blutiges Handwerk an Henriette.
    Womit nun über eine gehörige Erzählstrecke der Schauerroman wieder zu seinem Recht kommt. Hercule begibt sich auf Rachefeldzug gegen alle, die jemals ihm oder Henriette Übles angetan haben. Und man müsste lügen, würde man verhehlen, dass der Autor die schaurige Mission in ihren schrecklichen Einzelheiten wesentlich plastischer vergegenwärtigt als die in wenigen großen Worten abgehandelte Liebe. Dazu trägt die dämonisch-gespenstische Methode, mit der Hercule vorgeht, nicht wenig bei. Wie sollte der arme taubstumme Wicht mit seinem Körper von einem Meter Höhe sich seiner mächtigen, trickreichen und kräftigen Feinde auch anders erwehren als durch übersinnliche Zauberei? Mit anderen Worten: Hercule dringt in die Gedanken seiner Gegner ein, manipuliert telepathisch ihre Handlungen und macht sie so selbst zum Instrument ihres Untergangs. Den abscheulichen Senatspräsidenten von Kiesingen etwa schickt er aufs Dach seines Hauses, wo er, kurz bevor er sich hinunterstürzt, noch einmal an all seine Missetaten erinnert wird.

    Dann, ohne Vorwarnung, begann er Stimmen ich sich zu hören: die Stimme eines zehnjährigen Mädchens, das er früher einmal ertränkt, das Röcheln der Prostituierten, der er in einem Bordell in Königsberg die Brust abgeschnitten, und das Keuchen des Mädchens, das ihrerseits ihn vor vielen Jahren in einem Hotel in Danzig mit einem Messer verletzt hatte. Dann Lachen, hysterisches Lachen, das Fauchen einer wahnsinnigen Katze und das Wimmern des Abtes, als dieser am Richtplatz vom Gefangenenkarren gestiegen war.
    Er fragte sich, ob er dabei war, den Verstand zu verlieren.


    Hercules Rachefeldzug erklärt sich jedoch - und das ist wieder eine der Finessen des Romans - nicht nur aus seinen persönlichen Erlebnissen. Er besitzt auch einen historischen Stellenwert. Denn die Peiniger, mit denen Hercule abrechnet, repräsentieren zugleich jene kirchlichen, feudalen und weltlichen Mächte, die dem menschlichen Fortschritt und der Gerechtigkeit am hinderlichsten entgegenstanden. Nach ihrer Beseitigung wird der Weg frei zu jenen utopischen und sozialreformerischen Horizonten, die gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts immer größere Bedeutung erlangten. In diesem Sinne erlebt Hercule in Wien einen weiteren Wendepunkt. Er läßt den Haß hinter sich und öffnet sich wieder Liebe und Leben. Den Anstoß dazu gibt ihm sein ehemaliger Zirkuskamerad Barnaby Wilson, der seinerseits mithilft, die Ideen des Sozialismus zu verbreiten.

    In Amerika, erzählte Wilson, gab es schon einen Ort, wo die Gehörlosen in der Mehrheit waren und wo sie ihr Leben im Geist der Freiheit selbst bestimmten. Es war eine Insel an der Küste von Massachusetts: Martha’s Vineyard. Dort sprachen fast alle in der Gebärdensprache miteinander; auch die, die hören konnten, lernten erst die Gebärdensprache und dann Englisch als zweite Sprache. Falls Hercule das Geld für eine Passage nach Amerika zusammensparen könne, solle er dorthin fahren; vielleicht sei Martha’s Vineyard sein Ort auf der Welt?

    So soll es dann auch kommen. Hercule lässt die düsteren Seiten des neunzehnten Jahrhunderts hinter sich, und unversehens sieht man sich als Leser aus den Sphären der Schauerromantik und der "Elenden", wie Victor Hugo sie beschrieb, versetzt in die lichten Regionen von Menschlichkeit, Gerechtigkeit und sozialem Reformgeist. Gut möglich, dass es einen schwedischen Autor braucht, um einen solchen Sprung zu schaffen.
    Was aber ist das nun - alles in allem genommen - für ein Roman, mit dem Vallgren sich ganz offensichtlich vorgenommen hat, seine Leser zu fesseln und zu verblüffen, gewiss aber auch ein wenig zu erschüttern und mit edlen Gedanken zu erfüllen? In Schweden erhielt er für das Buch den bedeutenden, nach Strindberg benannten August-Preis, den interessanterweise Per Olof Enquist einige Jahre zuvor ebenfalls für einen historischen Roman bekommen hat.

    Von Enquists sprödem, konsequent nachforschendem Erzählen hebt sich Vallgrens Stil jedoch als gelegentlich durchaus fulminantes narratives Illusionstheater ab. Die ganze Handlungsdramaturgie mit ihren starken Kontrasten und effektvollen Schauplatzwechseln ist höchst unterhaltsam und soll es auch sein. Die Geschichte des Jahrhunderts dagegen wird eher kursorisch und stichwortartig abgehandelt. Dafür gehen manche Überlegungen zur Gebärdensprache fast schon ins Philosophische. Kurz: Carl-Johan Vallgrens "Geschichte einer ungeheuerlichen Liebe" kann sich sehen lassen als spannender, thematisch origineller Unterhaltungsroman mit ganz unverwechselbaren Qualitäten.

    Carl-Johan Vallgren
    Geschichte einer ungeheuerlichen Liebe
    Insel Verlag, 377 S., EUR 19,80