Wunder im Trümmerland

Im Münsterland schreibt der Wirtschaftswissenschaftler Alfred Müller-Armack in den vierziger Jahren auf, welche Schlüsse aus den Erfahrungen des Zusammenbruchs und der folgenden Jahre zu ziehen sind. Er konzipiert eine neue Ordnung. Ihr Name: Soziale Marktwirtschaft.

von Stephanie Rapp und Ursula Welter |
    "Die beiden Alternativen, zwischen denen sich die Marktwirtschaft bisher bewegt, die rein liberale Marktwirtschaft und die Wirtschaftslenkung sind innerlich verbraucht, und es kann sich für uns nur darum handeln, eine neue dritte Form zu entwickeln, die sich nicht als eine vage Mischung, als ein Parteikompromiss, sondern als eine aus den vollen Einsichtsmöglichkeiten unserer Gegenwart gewonnene Synthese darstellt."

    Friedrich Nowottny:
    "Als der Krieg zu Ende war, war erst einmal nichts Erkennbares an Ordnung, an staatlicher Ordnung, an ziviler Ordnung. Und das ging von ganz oben bis unten in die Gemeinden und betraf am Ende jeden Menschen, der irgendwo um Lebensmittelkarten anstehen musste. Ich zögere zu sagen, das war das, was man in den Jahren danach die Stunde Null genannt hat, denn ich glaube, die Stunde Null im Lebensablauf und im Geschichtsablauf gibt es nicht, weil immer Bewegung im Spiel ist. Es war – die ersten Monate nach dem Krieg – eben der Versuch, am Leben zu bleiben. Das zu organisieren, was man zum Leben brauchte."

    Der Wirtschaftsjournalist und spätere Intendant das Westdeutschen Rundfunks Friedrich Nowottny:

    "Das war mühsam, das war zeitaufwendig und erforderte ungeheure Beweglichkeit. Und man musste auch versuchen, Tauschgeschäfte zu machen, aber da ich zu den 12 Millionen Flüchtlingen gehörte, die aus Oberschlesien versuchten, im Westen Boden unter die Füße zu bekommen, war das nicht so ganz einfach. Wir hatten nicht viel zu tauschen. Na ja gut, ich habe Schlagzeug gespielt in einer verrauchten Kneipe für 5 englische Zigaretten am Abend. Das war eine tolle Sache. Eine Zigarette kostete damals zwischen 5 und 7 Mark. Und wenn man genügend zusammen hatte, konnte man für 250 Mark ein halbes Pfund Butter kaufen."

    Die Wirtschaftsordnung jener Zeit heißt: Ware gegen Ware. Der Wert der Reichsmark verfällt.

    Friedrich Nowottny:
    "…und ich erinnere mich noch, ich bekam eines Tages zwei Zentner Weizenmehl geliefert, und meine Mutter, meine Schwester und ich wohnten so beengt, dass wir nicht wussten wohin mit dem Weizenmehl. Also stellten wir den Zwei-Zentner-Sack, der sehr groß war, unter einen Tisch in dem einzigen Zimmer, in dem alle zusammen hausten, und der Tisch stand schräg. Und meine Mutter hat jeden Tag irgendeinen Strudel gebacken mit der dazugehörigen Marmelade, die ich auch auf dem Schwarzmarkt erworben hatte, und zwar so schnell und so lange, dass wir nicht nur alle dicke Köpfe bekamen von dem ewigen Weizenmehl und Süßzeug, sondern dass dann auch eines Tages dieser bekannte Tisch wieder im richtigen Lot war."

    Wochenschau 1948:
    "Mit der Währungsreform wurde über Nacht auch das Obst reif. Auch hier blüht das Geschäft. Die Auswahl ist groß, die Bedienung freundlich. Es gibt mit einem Male wieder Dinge, von denen man bisher nur im Flüsterton sprach, die nur unter dem Ladentisch veräußert wurden. Jetzt ist Geld wieder alles."

    Ludwig Poullain:
    "So weiß ich, dass ich aus der Sparkasse mal herauskam mit meinem ersten in D-Mark verdienten Geld und vor der Sparkasse auf dem Marktplatz einen Obsthändler fand, bei dem ich mir ein Pfund Kirschen kaufen konnte."

    Ludwig Poullain, der spätere Chef der Westdeutschen Landesbank, ist in dieser Zeit Sparkassenangestellter.

    Ludwig Poullain:
    "…als nach der Währungsreform der Markt funktionierte … hat mir persönlich nicht nur die Freiheit des Handelns in meinem wirtschaftlichen Geschehen, in meinem Beruf gebracht, sondern hat mir eigentlich auch die Komponente des freiheitlichen Denkens und Handelns in der Politik nahe gebracht. … die Köstlichkeit, oder die Kostbarkeit, frei handeln zu können in der Wirtschaft, einen Beruf zu ergreifen, den ich gerne möchte, meinen Weg zu gehen, dorthin zu gehen, meine Stelle zu wechseln, Positionen zu wechseln, alles dieses habe ich ja in meiner Jugendzeit nicht erlebt."

    Friedrich Nowottny:

    "Es gab sehr schnell mehr zu essen, als in der Vergangenheit, und zwar nicht Ware gegen Ware, sondern D-Mark gegen Ware. Das lief am Schnellsten, der Rest dauerte. Was nicht ausschloss, dass plötzlich in Lederwarengeschäften Taschen aus der Kriegszeit aus irgendeiner Ecke hervorgeholt wurden, die im Fenster standen und auch andere Waren da waren. Oder dort, wo schnell produziert werden konnte, in der Backwaren-Industrie, bei den Konditoren. Wir wohnten gegenüber einer Keksfabrik, das war fabelhaft, da gab es plötzlich wieder Dinge zu kaufen, die es vorher nicht gegeben hatte. Aber alles andere dauerte. Es dauerte auch deshalb, weil natürlich die Engländer die die britische Zone regierten, zu Hause selbst große Versorgungsschwierigkeiten hatten. Es war ja nicht so, dass die Siegermächte vom ersten Tag nach dem Krieg in Saus und Braus leben konnten."

    Den Mut, die Bezugsscheine aus dem Verkehr zu ziehen, hat Ludwig Erhard. Weil er schon 1944 Mitverfasser einer wirtschaftspolitischen Denkschrift ist, und die Amerikaner darin gelesen haben, leitet er in deren Auftrag die "Sonderstelle Geld und Kredit" in der Zweizonenverwaltung.

    Ludwig Poullain:
    "Ich habe Ludwig Erhard sehr intensiv wahrgenommen. Bezugsscheine auf Seite zu werfen und zu sagen: das Angebot und die Nachfrage wird es richten. Das war eigentlich seine große, gewaltige Tat, nämlich den Mut dazu zu haben. Und es gab ja ein großes Geschrei der Korrekturen, das ginge nicht und es ging ja auch lange nicht, es war lange nicht gegangen, nicht nur im 3. Reich nicht, bei Hitler nicht, auch schon vorher hatte es nicht recht funktioniert. Und dass er die Nerven behalten hat, gegen alle Anfeindungen und auch gegen Rückschläge – es kam der Korea-Krieg erinnere ich mich, plötzlich wurde der Zucker knapp – und plötzlich schien alles nicht zu funktionieren. Und es funktionierte dann doch, als man das durchsetzte. Das habe ich bewundert…"

    Ludwig Erhard, 1948:
    "Die Resonanz, die dieser Übergang zu freieren Formen der Wirtschaft in unserem Volke gefunden hat, beweist nur, wie gründlich satt es dieser staatlichen Bevormundung ist. Wir waren auf dem besten Wege, die Demokratie zu Tode zu kommandieren und die demokratischen Grundrechte unseres Volkes zu einer Schimäre werden zu lassen."

    Rolf E. Breuer:
    "Das wesentliche an Erhards Politik war sicherlich die Betonung auf Wachstum durch Wettbewerb als Grundlage der zukünftigen Entwicklung der Bundesrepublik. Das war ein Teil des Demokratieverständnisses jener Zeit und insbesondere des Demokratieverständnisses von Ludwig Erhard – da spielte die Freiheit für den Bürger in jeder Hinsicht eine ganz ausschlaggebend große Rolle, nicht nur für den Wirtschaftsbürger."

    Der Deutsche Bank-Manager Rolf E. Breuer.

    Rolf E. Breuer:
    "…das, was wir heute als soziale Hängematte bezeichnen war keineswegs Teil der Vorstellungen von Ludwig Erhard… - natürlich ging er davon aus, dass der Bürger seinen Anteil hat, und je nach Leistungsfähigkeit mehr oder weniger – das heißt, er wusste schon , über was wir heute immer wieder streiten, dass der Staat eine gewisse Umverteilungsfunktion hat. Er muss denen, die es leisten können, mehr wegnehmen als denen, die nichts haben … Dieses Funktionieren war durchaus Teil der Soziale Marktwirtschaft von Ludwig Erhard aber hatte mit dem Versorgungsstaat von heute bei weitem nichts zu tun."

    Ludwig Erhard, selbst Ökonom und Wirtschaftsminister im ersten Kabinett Adenauer , holt 1952 einen Wissenschaftler ins Team. Alfred Müller-Armack:

    Alfred Müller-Armack:
    "Wären wir nicht in der Lage gewesen, in verhältnismäßig kurzer Zeit den wirtschaftlichen Aufbau zu bewältigen in der Bundesrepublik, wäre sicherlich die Entwicklung in der Bundesrepublik eine politisch völlig andere gewesen."

    Die Ideen Alfred Müller-Armacks von einer Sozialen Marktwirtschaft prägen die Erhard’sche Politik.

    Jürgen Dormann:
    "Der Name Müller-Armack ist in meinem Leben sehr früh erschienen, Anfang der 50er Jahre, als ich begann, mich für politische Fragestellungen zu interessieren, und da ich aus einem Elternhaus komme, das eine lange hanseatische Tradition hat, und wir über wirtschaftliche Fragen offen diskutierten, sind wir natürlich auf die Bemühungen der Regierung Adenauer zu der Zeit und die Bemühungen Erhards und Müller-Armacks oft gestoßen."

    Jürgen Dormann ist lange Jahre Chef des Chemiekonzerns Hoechst, später hilft er, den Elektronikkonzern ABB zu sanieren:

    "…ich würde … nicht sagen, dass ich ein Schüler von Müller-Armack bin. Das Gedankengut, wenn wir das in den breiteren Zusammenhang stellen von Müller-Armack in Verbindung mit den Ordoliberalen, mit Walter Eucken, mit Hayek, mit Röpke, dann würde ich sagen, das liegt mir, die liberale Wirtschaftsordnung verbunden mit Demokratie ist für mich untrennbar und ist Teil meines geistigen Rüstzeuges."

    Das Spannungsverhältnis von Marktfreiheit und sozialem Ausgleich prägen die westdeutsche Wirtschaftsverfassung:

    Jürgen Dormann:
    "Das Soziale im Sinne der "Sozialen Marktwirtschaft" von Müller-Armack war zu der Zeit die Integration der Flüchtlinge, der Wohnungsbau, erste Grundlagen der Rentenversicherung. Es war nicht die Absurdität der Überbetonung des Sozialen, was uns dazu geführt hat, dass wir heute im internationalen Wettbewerb in Deutschland in einer Situation sind, wo wir Veränderungen durchsetzen müssen, ohne dass es der Politik und uns allen - ich schließe mich da durchaus mit ein - gelungen wäre, rechtzeitig die Gesellschaft auf die Veränderungen, die notwendig sind, vorzubereiten. … Wir sehen ja, was die Konsequenzen sind. Voila."

    Die Nachkriegsordnung entspringt wesentlich der Auffassung, dass keines der bis dato erprobten Wirtschaftskonzepte die Probleme gelöst hat. Planwirtschaftlichen Tendenzen, wie es sie anfänglich auch in der CDU gibt,
    werden durch marktwirtschaftliche Ideen ersetzt.

    Solche Ideen hatte der Liberale Walter Eucken schon während des Krieges im Freiburger Kreis formuliert. 1948 schreibt Eucken in der Neuen Zürcher Zeitung:

    "Die Wirtschaftspolitik ist an einem toten Punkt. Weder die zentrale Wirtschaftsplanung noch das laissez-faire mit seinen Trusts und Monopolen haben sich bewährt."

    Und doch – es dauert fast ein Jahrzehnt, bis die Bundesrepublik ein Kartellgesetz erhält:

    Friedrich Nowottny:
    "Die Diskussion um das Kartellgesetz hat sich ja jahrelang hingezogen. Und der damalige Präsident des BDI, wie auch der BDA-Präsident, die spielten in der politischen Diskussion so eine Art Hauptrolle, weil sie genau wussten, worum es ging. Sie wollten verhindern, dass durch das Kartellgesetz Größenordnungen in der sich neu konstituierenden Wirtschaft verhindert werden, von denen sie glaubten, dass sie geschaffen werden müssten. Fritz Berg war der berühmte Gegenspieler von Adenauer, der damalige BDI-Präsident, in dieser Frage. Und der hat sich immer wieder durchsetzen können, auch mit dem BDA-Präsidenten Pauls. Die haben sich beide immer wieder durchsetzen können und haben das Kartellgesetz verzögert, verzögert, bis an den Punkt, an dem Ludwig Erhard am Ende seiner Möglichkeiten angekommen war. Und wenn ich das richtig erinnere, ist dieses Kartellgesetz in der Tat erst ganz zum Schluss von Erhards Zeit als Bundeswirtschaftsminister in Kraft getreten."

    Ein Gesetz, mit dem Grenzen gesetzt werden. Der langjährige Allianz-Chef, Henning Schulte-Noelle, sieht in der geistigen Vorarbeit Walter Euckens zur neuen Wettbewerbsordnung grundsätzliche Bedeutung:

    "Ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu etablieren, das der Würde des Menschen den richtigen Platz einräumte und den Menschen erlaubte, ein Leben in Würde zu leben. Das – wie gesagt – in dieser feinen Ausbalancierung zwischen der persönlichen Freiheit und den Ansprüchen, die natürlich dann auch ein Staat als Ordnungssystem an den Einzelnen stellen muss."

    Ein Ordnungssystem, in dem der erste Kanzler der Bundesrepublik, Konrad Adenauer, die soziale Komponente nicht zu kurz kommen lassen will.
    Zweistellige Wachstumsraten ermöglichen Wohltaten: Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Kindergeld, Mutterschutz, Lastenausgleich, Subventionen für die Landwirtschaft. Vor allem aber: Die Anhebung der Renten:

    Wochenschau, 1957:
    "Ja…so sah es im Jahre 1956 aus für Heinrich Faber. 199 Mark und 60 Pfennig Rente erhielt er. Das war mehr als mancher andere bekam. Seine Frau und er konnten davon leben, konnten ihre kleine Wohnung bezahlen und das Essen, das sie brauchten. Aber nicht mehr – dazu langte es nicht."

    Ludwig Poullain:
    "Ich erinnere mich, …da war ich junger Sparkassen-Direktor in Solingen, …und ich damals zu einer Sitzung der so genannten Arbeitsgemeinschaft rheinischer Großsparkassen mitfahren durfte, und Herr Butschkau, der damals Präsident des deutschen Sparkassenverbandes war, flammend gar nicht zu Fachfragen … sprach, sondern einen flammenden Appell an alle richtete, sich dagegen zu wehren, dass die Rente dynamisiert würde. Und zwar eher damals aus völlig anderen Gründen als etwa die heute dagegen sprechen könnten, sondern er fürchtete um die Stabilität der Währung. Dass hier ein Dynamisierungsfaktor hineinkäme, der einen inflationären Charakter hätte."

    Kritik an der Finanzierbarkeit des Projekts schlägt Konrad Adenauer in den Wind , die Rente wird angehoben und dynamisiert, – die absolute Mehrheit für die Union bei den Bundestagswahlen 1957 gibt dem Taktiker im Kanzleramt recht.

    Die Rentner sind zufrieden, andere sind es nicht. Der Jesuitenpater Oswald von Nell-Breuning etwa, spricht von der "so genannten" Sozialen Marktwirtschaft.
    Die neoliberale Grundannahme, dass der Markt alles regle, teilt der Nestor der Katholischen Soziallehre nicht.

    Nell-Breuning:
    "Ein bekannter Journalist drückte das früher einmal so aus: Nell-Breuning ist ein unbequemer Mann. Und dann zählte er auf, für wen alles ich unbequem sei. Das ergab eine ziemlich lange Reihe von Gegensatzpaaren, so z.B.: Unbequem für die Unternehmer, aber auch unbequem für die Gewerkschaften."

    Der ehemalige Benediktiner-Mönch Anselm Bilgri:
    "Und bei dem Wort Marktwirtschaft, da leuchten ja bei einem der Arbeitnehmerschaft nahe stehenden Menschen, und das war ja Nell-Breuning einwandfrei, also sofort die roten Lampen auf… Und er hat vielleicht auch das Wort sozial deshalb abgelehnt, weil es halt nur so als Feigenblatt erscheinen konnte, um eben dann eine doch sehr kapitalistische Marktwirtschaft zu verdecken. Seine Idee damals … Kapital in Arbeitnehmerhand. … Also, in späteren Schriften hat er dann gesagt, dass er eigentlich schon sehr dafür ist, dass die Verantwortung des Arbeitgebers auch ganz maßgeblich wahrgenommen wird, auch von einer Unternehmerpersönlichkeit, aber zum Wohle des gesamten Unternehmens. Also, die Mitarbeiter auch mitreden dürfen. Und ich denke … das ist sicher auch so auf den Einfluss der katholischen Soziallehre zurück zu führen. Das hören ja manchmal die Gewerkschaften nicht so gerne. Und da war er sicher auch kritisch gegenüber sowohl der Unternehmerschaft, wie den Gewerkschaften gegenüber."
    Oswald von Nell-Breuning ist kritisch in alle Richtungen. Er nennt die Deutschen saturiert und egoistisch:

    Friedrich Nowottny:
    "Nell-Breuning hat Äußerungen gemacht, die damals gültig waren und die auch heute noch gültig sind. Der Mensch ist, wie er ist. Und keine politische Partei ist in der Lage, und keine christliche Gemeinschaft ist in der Lage, das grundlegend zu verändern. Vieles von dem, was im Krieg, in der Not des Krieges, in der Not der Bombennächte gewachsen sein mag an Nachbarschaftsempfinden, an Hilfsbereitschaft, das ist natürlich verflogen im Laufe der Zeit."

    Die Nachkriegszeit ist die Zeit der Quereinsteiger. Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack tauschen das Katheder der Hochschule mit der Politik, und in dieser Tradition folgt ihnen noch einer: Karl Schiller.

    Karl Schiller:
    "Die Politik hat dafür zu sorgen, und zwar durch zusätzliche, rechtzeitige, aber dosierte und sanfte Maßnahmen, damit das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage erhalten bleibt."

    Edzard Reuter, der langjährige Daimler-Chef:
    "Ich glaube, der Schiller hat es gut verstanden, er war ein sehr geschickter, natürlich sowieso, da braucht man nichts sagen, ein hochintelligenter Mensch… der schnell kapierte, wie die Fäden gezogen wurden. Und deswegen hat er relativ, ich betone relativ, wohl wenig Schwierigkeiten gehabt bei diesem Berufswechsel, den er da vorgenommen hat. Er hat aber auch Schwierigkeiten gehabt. Er sprach in einer Sprache, die nicht die Sprache des normalen Politikers oder der normalen Politikerin war. Er trug auch einen gewissen akademischen Anspruch, um es mal höflich zu sagen und nicht den Ausdruck den Anspruch einer gewissen intellektuellen Arroganz vor sich her immer wieder, und das machte es ihm nicht leicht. Aber: er war gleichzeitig ganz schnell anerkannt als jemand, dem man kein X für ein U vormachen konnte. Weder Wissenschaftler, noch Politiker, noch Medienvertreter konnten dem irgendwas erzählen auf seinem Gebiet, wo er drauf reinstolpern würde als Falle. Und deswegen ist ihm das schon ganz gut gelungen. Aber er hat nie – ganz besonders natürlich auch in der SPD, seiner Partei – nie das erzeugt, was man Nestwärme nennt. Erzeugt, oder empfunden. Er war nie einer von denen."

    Das Spezialgebiet des Wissenschaftlers Karl Schiller ist die Konjunkturforschung, das Markenzeichen des Politikers wird das "Stabilitäts- und Wachstumsgesetz" ,das für Preisstabilität, außenwirtschaftliches Gleichgewicht, hohen Beschäftigungsstand und angemessenes Wachstum sorgen soll. Dieses "magische Viereck" hatte schon Ludwig Erhard im Sinn, Karl Schiller setzt es als Wirtschaftsminister um.

    Ganz für sich allein in Anspruch nehmen kann er die Idee der "Konzertierten Aktion" - regelmäßige Treffen von Tarifpartnern, Regierung und Bundesbank.

    Friedrich Nowottny:
    "Karl Schiller hat es verstanden, aus diesen Veranstaltungen, ich habe über 25 Konzertierte Aktionen berichtet, richtige publizistische Events zu machen.
    Und so war das bei den konzertierten Aktionen auch, ein mühevolles Unterfangen, das den Spielraum der Gewerkschaften eingeengt hat, auch dadurch, dass so eloquente Männer wie der Präsident des Sparkassen- und Giroverbandes, Ludwig Poullain, nach diesen Veranstaltungen immer ein dankbarer Interviewpartner war. Poullain und Schiller, das waren Pingpong-Spieler, die an derselben Platte standen, aber das Doppel spielten, und nicht etwa gegen einander angetreten waren. Dann die Arbeitgeber-Präsidenten, die schon Mühe hatten, sich in diese neuen Abläufe einzugewöhnen. Oder die damaligen IG-Metall-Vorsitzenden, die auch Teil dieser konzertierten Aktion waren. ….. Das war, wie Friedensverhandlungen in Nachkriegszeiten. Der hat die nicht eher raus gelassen, bis jemand sagen konnte: ich habe fertig … das waren andere Zeiten. Und so schlecht waren die nicht."