Wunder im Trümmerland - Die Paten der Sozialen Marktwirtschaft

Bereits 1942 skizziert Walter Eucken gemeinsam mit den Ökonomen Constantin von Dietze und Adolf Lampe eine Wirtschafts- und Sozialordnung, die als Vorstufe für die Soziale Marktwirtschaft nach dem Krieg gilt. Betriebe und Haushalte sollen frei planen und handeln, den Rahmen dafür setzt der Staat: Er sorgt für die Wirtschaftsverfassung und ein funktionierendes Geldsystem.

von Stephanie Rapp und Ursula Welter |
    Henning Schulte-Noelle:
    "… darzustellen …, dass die Freiheit des Einzelnen sich nicht nur in einem hemmungslosen Wettbewerb, grenzenlosen Wettbewerb austoben konnte, sondern, dass es auf der anderen Seite – deswegen Ordoliberalismus – auch ein Ordnungsprinzip gab, damit auch andere Menschen ihr Leben menschenwürdig leben konnten, das war glaube ich eine große Leistung, die Walter Eucken zuzuschreiben ist."

    Für Henning Schulte-Noelle, den langjährigen Allianz-Chef, ist Walter Eucken eine zentrale Figur der deutschen Nachkriegsordnung. Einer, der als Wirtschaftstheoretiker Herausragendes geleistet hat und einer, der den Nazis widerstand. Dass ihn dennoch unter den Regierenden in Bonn kaum jemand als Opponent gegen die Nazis wahrnahm, habe mit den deutschen Verdrängungskünsten nach dem Krieg zu tun, sagt der Wirtschaftsjournalist und spätere Intendant des Westdeutschen Rundfunks, Friedrich Nowottny über den Wissenschaftler Walter Eucken:

    "Das waren Männer, die theoretische Überbauten konstruiert haben, möglichst regen- und hagelsichere Schirme und Dächer konstruieren konnten, unter denen die Pflänzlein wachsen durften, die sie mit gepflanzt haben, für die sie den geistigen Dünger geliefert haben. Er hat sich ja dann bald zurückgezogen, sehr zurück gezogen und sich ganz in seiner Wissenschaft vergraben. Er war einer der großen Denker der damaligen Zeit. Sicherlich bedeutender, manchmal möchte ich sagen, als Erhard und andere, aber er war eben der, der im Stillen wirkte."

    Edith Eucken-Erdsiek:
    "Er war groß, 1,90 Meter, sehr schlank, sehr geprägt von 5 Kriegsjahren und gar nicht intellektuell … Er liebte einen zu necken, er ist sehr auf seine Kinder eingegangen und er war gerne fröhlich. Aber Leute, die ihn von ferne kannten, sahen nur diesen sehr distanzierten Friesen, der er war, und haben ihn von dieser Seite vielleicht nicht immer kennen gelernt."

    Als Privatdozent für Nationalökonomie in Berlin lernt Edith Eucken-Erdsieck ihren Mann kennen. Die beiden heiraten 1920. Das Massenelend nach dem ersten Weltkrieg prägt den Sohn des Philosophen und Literatur-Nobelpreisträgers von 1908, Rudolf Eucken.

    Edith Eucken-Erdsiek:
    "Sein Anliegen war, die Bedingungen für ein freies und menschenwürdiges Dasein mitgestalten zu helfen. Er war sehr betroffen erstmal durch den Kriegsausgang, vor allem nachher durch die Inflation auch, und er hat erlebt, wie der ganze Mittelstand da also doch seine Ressourcen verlor. Dann die Arbeitslosigkeit, all diese Dinge. Und er sah die Folgen dieser wirtschaftlichen Dinge als höchst schwerwiegend an. Er war nicht einverstanden mit der Politik der Reichsbank, die zu der Inflation geführt hat … aber er sagte manchmal zu mir, wenn er sich morgens rasierte, dann sagte er: "ach, die kleinen Leute, denen geht es aus. Das muss man doch vermeiden, das ist doch furchtbar". Also, das war etwas, was ihn außerordentlich stark beschäftigte."

    Bereits 1942 skizziert Walter Eucken gemeinsam mit den Ökonomen Constantin von Dietze und Adolf Lampe eine Wirtschafts- und Sozialordnung, die als Vorstufe für die Soziale Marktwirtschaft nach dem Krieg gilt.

    Silvester 1949 schreibt Walter Eucken in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:

    "Als man nach dem ersten Weltkrieg neu zu ordnen begann, wurden Experimente gewagt, deren Folgen man nicht absah. Man experimentierte mit neuen Währungsformen, Marktregelungen, zentraler Planung … Wir sind imstande, aus diesen Erfahrungen zu lernen und sie für die Zukunft zu nutzen."

    Walter Eucken fordert einen freiheitlichen Ordnungsrahmen, der private Willkür ebenso verhindert wie Machkonzentration in zentralen Verwaltungsstellen. Betriebe und Haushalte sollen frei planen und handeln, den Rahmen dafür setzt der Staat: Er sorgt für die Wirtschaftsverfassung und ein funktionierendes Geldsystem. Denn, so schreibt Walter Eucken:

    "… ob Devisen bewirtschaftet werden oder nicht, geht jeden Arbeiter unmittelbar etwas an."

    Die Preise sollen den Wirtschaftsprozess lenken, und damit sie diese Funktion ungehindert wahrnehmen können, plädiert Walter Eucken für Konkurrenz und Leistungswettbewerb. Denn, so schreibt er 1948 in der Neuen Zürcher Zeitung:

    ":..ob es sich um mittelalterliche Handwerker oder um Händler des 16. Jahrhunderts oder um die Menschen von heute handelt – stets waren und sind sie bemüht, aus dem Konkurrenzkampf herauszukommen und eine Monopolstellung zu gewinnen."

    Entsprechend groß sind die Gegensätze der ordoliberalen Denkschule an der Seite Ludwig Erhards einerseits und der Industrieverbände andererseits, als es um die Kartellgesetzgebung nach dem Krieg geht.

    Die Spitzenfunktionäre von BDI und BDA setzen sich immer wieder durch, das Kartellgesetz tritt verspätet und verwässert in Kraft. Auch müssen die deutschen Unternehmer nach Jahren der Zwangswirtschaft den Wettbewerb erst lernen. Friedrich Nowottny nennt das Beispiel Volkswagen:

    "Damals hatte VW eben eine ganz starke Position auf dem Markt der preiswerten Automobile. Er hat alles niedergemacht, dieser Mann namens Nordhoff von Wolfsburg aus, was Konkurrenz hätte sein können … Es gab ein NSU-Automobil, es gab ein BMW-Automobil, Isetta, das sehr gefragt war … es gab, nicht zu vergessen, die Leukoplast-Bomber von Borgward, die sozusagen der Einstieg in den Kleinwagenmarkt waren. Die hat VW natürlich alle nieder gemacht …"

    Jürgen von Manger (aus der Programmnummer "Der Kleinaktionär"):
    "Ja hallo, wer ist da, ist da Volkswagenwerk? Jawoll. Hier ist Herr Adolf Tegtmeier aus Gelsenkirchen. Sie, ich möchte bitte sofort Herr Nordhoff sprechen. Wie bitte? Nein, ich bin nicht Herr Nordhoff, machen Sie doch die Ohren auf. Ich möchte Herr Nordhoff sprechen, aber ein bisschen dalli, Frollein. Hier spricht der Aktionär Tegtmeier aus Gelsenkirchen. Merken Sie sich das bitte mal gefälligst."

    Das Kabarett wendet sich auf seine Weise den Dingen zu. Während die Sozialdemokraten in der Ära Adenauer die hohen Gewinne der Kapitalgesellschaften kritisieren, setzt die Union auf die "Volksaktie", den breit gestreuten Aktienerwerb. "Eigentum für alle" ist der Wahlkampfslogan der CDU 1957, Privatisierungen von Preussag und VW stehen am Anfang.
    Neue Freiheiten für jeden Einzelnen in einer neuen Ordnung – keine Selbstverständlichkeit, erinnert sich Henning Schulte-Noelle:

    "Das hatte damals eine ganz andere Größenordnung und war viel weniger selbstverständlich natürlich für die Generation, als das für uns heute der Fall ist. Heute sagt jeder: das Gut Freiheit ist ein wichtiges Gut, aber das ist keine Bemerkung, die großes Echo auslösen würde, weil es so selbstverständlich geworden ist. Aber ganz anders natürlich die Situation nach 45. Und deswegen war es glaube ich so wichtig, dass Leute wie Eucken aufgrund ihrer ganzen wissenschaftlichen Arbeit dafür dann Grundlagen gegeben haben."

    Für Walter Eucken gehören Freiheit und Verantwortung zusammen. Diesem Grundsatz folgt er auch in der Nazizeit. Seit 1927 lehrt er an der Universität Freiburg, dort wird wenig später Martin Heidegger Rektor, und dennoch formieren sich Widerstandskreise, die im Hause Eucken ein- und ausgehen:

    Edith Eucken-Erdsiek:
    "Die Freiburger Schule, die hier in Freiburg gegründet wurde, da gehörte dazu der Prof. von Dietze, der Franz Böhm, der Grossmann-Doehrt und auch Schüler meines Mannes. Außerdem aber waren einige Herren dabei, die nicht in dem Sinne Freiburger Schule waren, aber widerstandsmäßig mit uns in der gleichen Gesinnung verbunden waren. … Ich habe in dem Kreis auch Goerdeler erlebt. Im Zusammenhang mit der Bekanntschaft mit Goerdeler sind ja dann einige Freiburger Professoren fortgeschleppt worden, mit Handschellen usw. Das war Dietze, Lampe, Gerhard Ritter. Mein Mann wurde zwei Tage … unter Folterandrohung bei der Gestapo verhört, und sie haben ihn da gelassen. Obwohl er ihnen einiges gesagt hat, was zu seiner Verhaftung hätte führen können."

    Walter Eucken hält seine Vorlesungen unbeirrt und setzt sich für seine jüdischen Kollegen ein:

    Henning Schulte-Noelle:
    "…sich für Nicht-Arier, Halb-Arier in der Zeit auch gerade im Universitätssystem einzusetzen, war mit Sicherheit mutig, so viele scheint es auch nicht gegeben zu haben Und dann noch den Schritt weiter zu gehen und tatsächlich mit aktiven Widerstandskreisen Kontakt zu halten; das war in der Tat sehr mutig, kann man sehr, sehr respektvoll sagen."