Wunder im Trümmerland - Die Paten der Sozialen Marktwirtschaft

Während der Nazi-Zeit darf der regimekritische Jesuit, Oswald von Nell-Breuning, weder forschen noch publizieren. Nach dem Krieg zählt er zu den Kritikern der neuen Wirtschaftsordnung. In der Ära Adenauer beklagt vor allem der katholische Flügel, die Union verkomme zu einer reinen Wirtschaftspartei.

von Stephanie Rapp und Ursula Welter |
    "Als der ORDO – bzw. Neo-Liberalismus nach dem Zusammenbruch 1945 seinen Siegeslauf antrat, glaubte er erwarten zu dürfen, die katholische Soziallehre werde im begeistert folgen und mit fliegenden Fahnen in sein Lager übergehen; auf Vorbehalte, ja auf grundsätzlichen Widerspruch bei ihr zu stoßen, war für ihn nicht nur völlig überraschend, sondern eine bis heute nicht verschmerzte Enttäuschung," schreibt der Jesuitenpater Oswald von Nell-Breuning 1975, ein Mann des 19.Jahrhunderts, geboren 1890 in Trier.

    Oswald von Nell-Breuning:
    "In den ersten Jahren war ich vor allem bei der katholischen Arbeiterbewegung Westdeutschlands tätig. Dadurch kam ich in Verbindung mit den Aufgaben des Wohnungsbaus und der Siedlung. In der Nachkriegszeit nahmen vor allem die Gewerkschaftsbewegung in der Bundesrepublik und wichtige, mit ihr zusammenhängende Sachfragen, wie insbesondere die Mitbestimmung, einen großen Teil meiner Arbeitskraft in Anspruch. Besonders eingehend habe ich mich mit Fragen der Einkommenspolitik und im Zusammenhang damit, der breiten Vermögensstreuung - sowie auf einem ganz anderen Gebiet - des Familienlastenausgleichs - befasst. Viel Zeit erforderte meine Mitarbeit an wissenschaftlichen Sammel- und Nachschlagewerken, so z.B. dem Staatslexikon der Görres-Gesellschaft. Und ganz am Rande bemerkt, als Professor habe ich nebenbei auch noch meine Lehrtätigkeit ausgeübt, an der
    Philosophisch-theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt/Main, an der Universität Frankfurt und an der Akademie der Arbeit in Frankfurt/Main."

    Oswald von Nell-Breuning im Mai 1965. Zu diesem Zeitpunkt ist der Nestor der Katholischen Soziallehre 75 Jahre alt.

    Zitator:
    1911 - Oswald von Nell-Breuning schließt sich dem Jesuitenorden an
    1921 - Priesterweihe
    1928 - Promotion über : "Grundzüge der Börsenmoral"

    Während der Nazi-Zeit darf der regimekritische Jesuit, Oswald von Nell-Breuning, weder forschen noch publizieren. Nach dem Krieg zählt er zu den Kritikern der neuen Wirtschaftsordnung. In der Ära Adenauer beklagt vor allem der katholische Flügel, die Union verkomme zu einer reinen Wirtschaftspartei.

    Friedrich Nowottny:
    "Erhard war ja Protestant, Adenauer war der kämpferische Katholik mit einer langen Lebenserfahrung … und die haben sozial so interpretiert, wie sie beide … glaubten, dass die Lebensbedingungen in einer Sozialordnung sich so darstellen müssten, dass die Aktiven und die Inaktiven in dieser Arbeitswelt mit Blick aufeinander nicht Neidkomplexe entwickelten. Und das war so durch die soziale Ordnung, die Adenauer vor allem mit späterer Unterstützung von Erhard geschaffen haben. Mit der Rentenreform, mit der Gesundheitsreform, mit dem Familienrecht, auch mit dem Steuerrecht, das damals schon verwirrend genug, aber immer noch übersichtlich war, verglichen mit heute. Das genügte Menschen wie Nell-Breuning natürlich nicht, weil sie der Familie einen noch überragenderen Stellenwert gegeben haben, als die Politiker in der Lage waren, einer Familie den Stellenwert zu geben."

    Mindestens so wichtig wie die Familienpolitik, die Friedrich Nowottny,der spätere Intendant des Westdeutschen Rundfunks heraushebt, ist Oswald von Nell-Breuning das Verhältnis von Arbeit und Kapital. Bereits 1931 wirkt er an der Formulierung der Sozialenzyklika "Quadragesimo Anno" von Papst Pius XI. mit. Darin wird das Recht auf privates Eigentum bestätigt, aber auch betont, dass Eigentum verpflichtet. Auch dürfe der Staat die Arbeitenden nicht durch Steuern und Abgaben überlasten. Vor allem aber führt Nell-Breuning als Mitautor des Papstwortes das "Subsidiaritätsprinzip" ein, das später in ganz Europa zum Maßstab wird: Wo die kleinsten Einheiten entscheiden können, sollen sie es tun. Wo sie der Hilfe bedürfen, schalten sich die größeren Einheiten unterstützend ein:

    Anselm Bilgri:
    "Die Kirche hat ja ihre drei Prinzipien, die ganz besonders ja Oswald von Nell-Breuning herausgearbeitet hat: das Personalitätsprinzip, es geht um die Würde des Menschen, das Subsidiaritätsprinzip, das heißt, die kleineren Einheiten haben Vorrang vor den größeren Einheiten und dann als drittes das Solidaritätsprinzip, dass also Menschen sich solidarisch miteinander sehen, dass man das Gemeinwohl hat. Das … was man unter dem Wort Gemeinwohl versteht. Und alles Wirtschaften, das dem widerspricht, das wird die Kirche ablehnen."

    Der Anselm Bilgri, den ehemaligen Benediktiner-Mönch und jetzigen Unternehmensberater ist Oswald von Nell-Breuning das "soziale Gewissen der katholischen Kirche".

    Anselm Bilgri:
    "Der Mensch ist also (nicht) … weder ein Faktor, bloßer Faktor des Wirtschaftens und des Ökonomischen, … der Mensch ist das Bild Gottes. Das ist eine ungeheuer hohe Würde … und deswegen kann man den Menschen nirgendwo einfach verinstrumentalisieren, er darf nicht Zweck für etwas werden, er darf nicht zu einer bloßen Figur auf dem Schachbrett werden, die entweder der Staat oder, im kleinen Bereich, ein Unternehmer hin und her schieben, wie sie es wollen, sondern er hat eine eigene Verantwortung sich selbst gegenüber. Und es muss immer dieser Ausgleich zwischen dem Gemeinwohl und dem Recht des Individuums gesucht werden."

    Oswald von Nell-Breuning spricht - lange unversöhnlich - von der so genannten "Sozialen" Marktwirtschaft. Er kritisiert die Arroganz, mit der Neoliberale in den Anfängen ihre Wirtschaftsordnung anpriesen. Auch laufe im Wirtschaftskreislauf nicht alles nach Naturgesetzen und damit gut für den Menschen. 1975 signalisiert Oswald von Nell-Breuning dann eine gewisse Verständigungsmöglichkeit zwischen Neoliberalismus und Katholischer Soziallehre. Das Denken in Ordnungen heiße, dass die Wirtschaftspolitik sich einen Maßstab setze, und dass ….

    "… in der Marktwirtschaft Eigeninteresse und Erfordernisse des Gemeinwohls im weiten Umfang übereinstimmen."

    Die Planwirtschaft überfordere den Menschen moralisch, die Marktwirtschaft aber funktioniere auch noch bei weniger hohem Stand der Moral. Damit traut Nell-Breuning dem Markt eine gewisse Selbstregulierungskraft zu.
    Und doch: Er thematisiert die möglichen Ungleichgewichte, legt den Finger in die Wunde. Den Gewerkschaften ist er enger Berater und Kritiker zugleich:
    Werbefilm der IG-Metall:
    "Am Samstag gehört der Vati mir…"

    Weg von der Sechs-Tage-Woche, weg von 55 Stunden - Arbeitszeitverkürzung ist Mitte der 50er Jahre das große Thema.

    Wochenschaubericht 1959:
    "Nach einer Umfrage, die die Grundlage für unseren Bericht über den freien Sonnabend bildet, beschäftigen sich 31 Prozent mit ihren Kindern, einige machen sich im Garten nützlich, aber manche pfeifen auf die Erholung und arbeiten wie an anderen Tagen – sozusagen "schwarz". 47 Prozent haben irgendein Hobby und 27 Prozent machen es sich zu Hause gemütlich. Viele Ärzte halten übrigens das verlängerte Wochenende für Unsinn. Sie plädieren für einen zweiten Urlaub. Doch soweit sind wir noch nicht."

    Oswald von Nell-Breuning bescheinigt den Deutschen Egoismus und Saturiertheit. Anstatt ihr Glück in Äußerlichkeiten, im Konsum zu suchen mahnt er sie, mehr auf innere Werte zu blicken.

    Anselm Bilgri:
    "… ich denke, das ist so das Idealbild eines Jesuitenpaters, der natürlich auch keine größeren Reichtümer hat, sondern noch als 100-Jähriger in einer bescheidenen Zelle da in Frankfurt, in der Jesuitenresdidenz gewohnt hat. Aber, das macht ihn dadurch auch liebenswürdig und authentisch. Also, Oswald von Nell-Breuning war bis an sein Lebensende ein Unbequemer, der sich auch nicht vor irgendeinen Karren weder einer Partei, noch eines Unternehmerverbandes, einer Gewerkschaft spannen ließ, sondern überall sehr laut und klar und deutlich seine kritischen Anfragen angebracht hat."

    Im August 1991 stirbt Oswald von Nell-Breuning in Frankfurt am Main -
    er wird 101.

    Anselm Bilgri:
    "Was von ihm bleiben muss, gerade in der jetzigen Zeit der sich globalisierenden Wirtschaft, ist dieser Vorrang des Menschen vor dem Kapital und vor den Zahlen."