Wunder im Trümmerland - Die Paten der Sozialen Marktwirtschaft

Nach dem Sturz Ludwig Erhards wird aus der schwarzen eine schwarz-rote Regierung. Wirtschaftsminister der Großen Koalition wird Karl Schiller. Karl Schiller aktualisiert auf seine Weise das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft. Die Klaviatur der Konjunkturpolitik spielt er unter anderem 1967 mit dem Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums, dem so genannten Magischen Viereck.

von Stephanie Rapp und Ursula Welter |
    Lore Lorenz in ihrem Lied "Bundesmodenschau":
    "…und erneute Aufmerksamkeit, Laufsteg frei für das nächste Kleid!
    Das Modell Konjunktur wird an heißen Tagen von den Bonner Damen bevorzugt getragen, weil es in keiner Weise beengt. Es lässt sehr viel Spielraum nach unten und hängt an hauchdünnen Trägern aus schwarzem Kredit, die man beliebig verkürzt, wenn es zieht. Der Unterbesatz aus buntem Diskont, kann heraufgesetzt werden, wenn es sich lohnt. Die Qualität des Modells ist es nicht was wirkt, wichtig ist, dass es Vieles verbirgt … einen Tusch … und erneute Aufmerksamkeit."

    Konjunktur unter schwarzen Vorzeichen persifliert Lore Lorenz mit ihrem Song
    "Bundesmodenschau". 1966, nach dem Sturz Erhards, wird aus der schwarzen eine schwarz-rote Regierung. Wirtschaftsminister der Großen Koalition wird Karl Schiller.

    Karl Schiller:
    "Marktwirtschaft ist ohne die Freiheit der Konsumenten und Produzenten - ist ohne die Leistung der Arbeitnehmer und Unternehmer - und ohne die soziale Verantwortung aller - auf Dauer nicht lebensfähig."

    Friedrich Nowottny:
    "Als Politiker war er schon ein Original. Er war sein Leben lang der ökonomische Professor, der es verstanden hat, wie kein anderer vor und wie kein anderer nach ihm, das Thema Wirtschaft zu einem Thema der Massen zu machen. Das will was heißen."

    Friedrich Nowottny kennt Karl Schiller aus zahlreichen Interviews für den "Bericht aus Bonn":

    "Also, ich muss Ihnen sagen, es war gut, gut vorbereitet zu sein, wenn man zu Karl Schiller ging. Um sich keine Blöße zu geben. Und, er hatte ein kühles Auge. Obwohl er immer darum bemüht war, eine Zuwendung zu signalisieren, waren seine Augen immer sehr kühl und sehr kritisch und auf Distanz bedacht."

    Edzard Reuter:
    "… zum Beispiel im Bericht aus Bonn immer wieder aufgetreten, er hat immer wieder versucht, zu erklären und zu erläutern. Das ist aber eben eine Überschätzung seiner Möglichkeiten und Rollen gewesen. Es ist keine Konsistenz darin gewesen, er ist auch, meine ich jedenfalls, dazu viel zu sprunghaft gewesen."

    Edzard Reuter, der langjährige Daimler-Chef, spielt auf den Ideenreichtum Schillers an, dessen Credo lautet: So viel Wettbewerb wie möglich, so viel Planung wie nötig. Karl Schiller aktualisiert auf seine Weise das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft. Die Klaviatur der Konjunkturpolitik spielt er unter anderem 1967 mit dem Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums, dem so genannten Magischen Viereck:

    Zitator:
    - Preisniveaustabilität
    - hoher Beschäftigungsstand
    - außenwirtschaftliches Gleichgewicht
    - angemessenes und stetiges Wirtschaftswachstum

    Karl Schiller greift damit Gedanken Ludwig Erhards auf.

    Edzard Reuter:
    "… er hat schließlich … nach der Erhard-Zeit, in einem schwierigen Wandel nach dem Scheitern von Erhard als Bundeskanzler, als es zum ersten Mal in Deutschland eine Rezession gab, Schiller hat das wieder aufgefangen und hat wieder Zutrauen gegeben nach vorne. Natürlich, in der Aufgabe mit Franz-Josef Strauss zusammen, Plisch und Plum, die Legendären."

    Sein rhetorisches Talent nutzt Karl Schiller im Wahlkampf 1969. Kiesinger und Strauß haben Schillers Forderung nach Aufwertung der D-Mark zur Inflationsbekämpfung abgelehnt. Der Ökonom macht das sperrige Thema zum Wahlkampfhit zugunsten Willy Brandts:

    Friedrich Nowottny:
    "Ich habe Karl Schiller in der Aufwertungsdiskussion des Wahlkampfes 1969 erlebt, in einer Massenkundgebung, in der es um die Aufwertung ging. In Dortmund-Huckrade, dort, wo der Wahlkreis von Karl Schiller war. Da standen 25.000 Menschen auf einem Platz, und Karl Schiller - hoch und ganz weit weg auf seinem Podest stehend - erklärte den Freundinnen und Freunden und den Damen und Herren (Genossinnen und Genossen ging ihm nur schwer über die Lippen) erklärte er, wie das mit der Aufwertung war. Ich habe noch nie 25.000 Menschen so still und konzentriert zuhören sehen, wie auf diesem Platz in Huckrade."

    Willy Brandt:
    "Ich nehme die Wahl an."

    Direkt nach der Wahl wird die Aufwertung vollzogen, Karl Schiller verteidigt sie im Bericht aus Bonn sogleich als mutigen Schritt:

    "Die eigentliche Konzertierte Aktion, Herr Nowottny, jenes dauernde Gespräch zwischen Unternehmern und Gewerkschaftlern, der Regierung, der Bundesbank, den Sachverständigen, kann überhaupt nur funktionieren, wenn die Regierung ihrerseits an den "runden Tisch" der kollektiven Vernunft mit einem Stabilitätsprogramm auftritt und an ihn herantritt … und der Eckpfeiler dieses Stabilitätsprogramms ist nun einmal diese Aufwertung um 8,5 Prozent."

    An den Tisch der Konzertierten Aktion holt Karl Schiller auch den WestLB-Chef und Präsidenten des Sparkassen- und Giroverbandes, Ludwig Poullain.
    Schiller, so sagt dieser, habe nicht zuletzt das SPD-Parteiprogramm auf Marktwirtschaftskurs gebracht:

    "Godesberg war ja ein großer Teil Schiller. Der wirtschaftspolitische Teil. Und selbstverständlich war Schiller der Umsetzer dann auch, der gefragte Mann, der es tun musste und ihnen ja auch den Erfolg gebracht hat."

    1971 plädiert ein Teil der SPD für eine höhere Besteuerung der Unternehmen und dafür, die Grenzen der Belastbarkeit zu testen. Karl Schiller mahnt den Parteitag am 7. Dezember:

    "Genossinnen und Genossen, ich bitte bei diesem Punkt: Lasst die Tassen im Schrank. 58 Prozent für die Aktiengesellschaften sind zu hoch in der Bundesrepublik. Wir kommen wettbewerbsmäßig unter’n Schlitten."

    Willy Brandt gibt seinem Superminister, der inzwischen auch das Finanzressort übernommen hat, Flankenschutz und plädiert dafür, die Unternehmen zwar nicht zu schonen, aber auch nicht über Gebühr zu belasten:

    "Wir müssen die Kuh melken … für `ne ganze Menge der Dinge, die wir uns vorgenommen haben. Das heißt, die Kuh muss in guter Verfassung gehalten werden… und was noch wichtiger ist, wir müssen dafür sorgen, dass sie auf der Weide oder im Stall bleibt ... und nicht woanders landet. Das ist der Punkt."

    In der Frage der Unternehmensbesteuerung kann sich Karl Schiller zwar durchsetzen. Und doch: Mit seinen Sparplänen scheitert er und wirft als Minister das Handtuch. Im September 1972 gibt er auch sein SPD-Parteibuch zurück.

    Edzard Reuter:
    "…er war eigentlich nach dieser Bonner Zeit irgendwo ein gebrochener Mann. Ein trauriger, gebrochener Mann. Das war nicht jeden Tag …, aber im Großen und Ganzen war er müde und enttäuscht und ich glaube schon, man kann sagen, ein gebrochener Mann …, er war nie mehr irgendwo zu Hause. Da schließt sich irgendwo der Kreis."

    1972 macht Karl Schiller zusammen mit Ludwig Erhard Wahlkampf für die CDU. Erst 1980 tritt er wieder in die SPD ein.

    Edzard Reuter:
    "Die Frage, ob und warum Schiller nach seinem Rücktritt dann auch gleich aus der SPD ausgetreten ist, glaube ich erklärt sich ausschließlich aus dem Thema seiner Gekränktheit, seiner persönlichen Gekränktheit, die er gehabt hat, dass niemand zu ihm hingegangen ist. Ich denke, soviel kann ich auch aus seinen Erzählungen sagen, er hat sich wirklich massiv darüber beklagt, wie Willy Brandt ihn behandelt hat nach seinem Rücktritt. Dass der nicht mal ein Wort gesagt hat: ‚Du, ich hab Verständnis für Dich, und pass mal auf, und jetzt fahr erst mal in Ferien und dann reden wir weiter’, das ist nicht geschehen. Da war er sauer drüber … und er musste aus seiner Sicht einen neuen Anfang machen."

    Friedrich Nowottny:
    "Er ist still gestorben, fast unauffällig gestorben, und ich bedaure, dass man seinem Andenken und der Erinnerung an ihn im deutschen Bewusstsein keinerlei Raum mehr schenkt, denn er war ein moderner Denker, der im Grunde genommen auf der Basis von Ludwig Erhard dachte und versuchte, den Begriff von der sozialen Symmetrie in einer Welt Wirklichkeit bleiben zu lassen, in der durch die Konstruktionsfehler der sozialen Ordnung, die in den 50er Jahren eingeführt wurde, die Mittel zur Dotierung der Verpflichtungen des Staates immer geringer wurden."