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Wunder und Zauber der Oper

Über Opern wurden immer schon viele Worte gemacht. Den Zauber, das Magische im musik-theatralischen Kunstwerk beschwört Jean Starobinski, der inzwischen 87-jährige Professor für französische Literatur in Genf, in dem großen Essayband "Die Zauberinnen". Und Jens Malte Fischer versammelt Opernaufsätze über vorzugsweise weniger bekannte Werke des Genres, Titel: "Vom Wunderwerk der Oper".

Von Holger Noltze |
    Er fängt wahrhaftig bei Adam und Eva an, und das ist kein Wunder, wo es Jean Starobinski doch um das Wesen der Verführung geht. Im ersten Satz gleich flüstert die Schlange, "ihr werdet sein wie Gott". Vom ganzen Paradies aber ist dem Menschen, der sich als nur zu verführbar erweist, bloß die Oper geblieben. Aus der Ferne tönen ihre Sirenengesänge herüber. Verborgen unter Plüsch und Quatsch und auch manch faulem Zauber lässt sich an der Oper, da wollen wir Starobinski gern folgen, eine ganze Geheimgeschichte der Träume und Sehnsüchte, der Aufschwünge und Abgründe erzählen. Das, wovon der Opernführer nichts weiß, auch die musikologische Analyse von Strukturen nichts - ein Knäuel von Motiven, bis zur Unentwirrbarkeit verknotet und verfilzt, eben weil die ordnend aufräumende Vernunft hier nicht maßgeblich ist: hier singt, in ihren guten Momenten, das Unterbewusste selbst; oder besser, um der psychologischen Begrifflichkeit zu entgehen: das Uneingestandene. Wo das Licht der Logik auf Dämmerstufe herabgesetzt ist, werden im Halbdunkel die Schatten lebendig, und von der beleuchteten Szene fallen sie auf unsere inneren Projektionsflächen, die wir da im Parkett sitzen, erlösungsbedürftig nach wie vor, aber leider zunehmend taub und blind.

    Bevor wir uns nun aber einschwingen in ein süffiges Lamento über vielfach verpasste Bildungsgelegenheiten, erinnert Starobinski daran, dass die Oper selbst von Anfang an der Versuch der Wiederherstellung von etwas Verlorenem war:

    "Die richtige Art, das antike Theater aufzuführen, war die große Herausforderung, die diese Musiker und Dichter anzog. Sie hatten den Wunsch, so könnte man glauben, dass die Gestalten des Mythos, die als Gemälde und Skulptur schon stumm ihre Paläste und Gärten zierten, auch zu lebendigen Leibern und tönenden Stimmen würden."

    Damit das gelang, waren nun eben nicht allein alle Künste zum kumulativen Zusammenwirken aufzubieten, sondern nichts Geringeres als Zauberkräfte: Als "Darstellung einer wunderbaren Handlung", zitiert noch der Artikel "Opéra" in Diderots und d'Alemberts aufgeklärter "Encyclopédie" La Bruyère, der die Eigenart des Kunstwerks Oper darin sah,

    "die Geister, die Augen und Ohren in einer gleich bleibenden Verzauberung zu halten."

    Hier waren alle Mittel recht, und auch vorhanden, wenn der absolutistische Souverän sich selbst als Opernheld in Szene setzte. Wozu auch der Maschinenzauber gehörte. Schön zeigt Starobinski, wie eindrucksvoll krachend dann die Fassadenschlösser und sonstigen Truggebilde zum Einsturz kommen, als Rousseau die Bühne freiräumte für die Momente der wahren Empfindung. Die Reiche der Zauberinnen, der Armidas und Alcinas, müssen untergehen - im Untergang aber singen sie ihre schönsten Lamentos.

    Wer Starobinskis eleganten Verknüpfungen folgt, wer dranbleibt, wenn er seinen Erzählfaden lustvoll umwegig zwischen Genesis und Gegenwart spannt, wo wir mit einem Fingerschnipp vom Wunderholz der Zauberflöte zu Wotans Speer vor und Orpheus Leier retour durch die Zeiten katapultiert werden, dem kann bisweilen schwindlig werden. Fabelhaft ist Starobinskis Gelehrsamkeit, die, weil ihr zu allem immer noch was einfällt, eine ganz eigene Kurzschrift der Anspielungen entwickelt. Zwischen Tassos Gerusalemme liberata und Rousseau und Rameau, Fénelons Aventures de Télemaque und Mozarts Idomeneo geht es fix, doch zu Starobinskis Methode einer "verlebendigenden Lektüre" gehört nicht nur ein einschüchternd weiter Horizont der Stoff- und Ideengeschichte, sondern immer auch der Blick aufs sprechende Detail. Mit gleicher Begeisterung folgt er der genau disponierten Zirkulation der Gegenstände im Figaro, etwa dem komplizierten Weg der Nadel, und wenn die Gärtnerstochter Barbarina ihr "L'ho perduta" singt, dann hört Starobinski dahinter, daneben, darunter eben nicht nur Glucks "J'ai perdue" (mon Euridice nämlich), sondern auch die gleiche Formel in Rousseaus Devin du village. Zum Charme des Buches gehört, dass es nicht die Pointe sucht, nicht mit dem Nachweis von Quellen und Einflüssen zu imponieren sucht; Starobinskis Lektüren erschließen Möglichkeitsräume des Verstehens.

    Zum Schluss geht es noch einmal auf große Tour durch das Schattenwesen der Musik und Literatur des 19. Jahrhunderts. Starobinski hört dem Vokalisenstrom im "Ombra adorata" des Sopranisten Girolamo Crescentini hinterher, bei dessen Romeodarstellung der Kaiser Napoleon weinen musste, der den Sänger (und Komponisten dieser weltberühmten Einlagearie in Nicola Zingarellis Oper Giulietta e Romeo) nach Paris zog. Deren süße Klänge wehen nun durch Stendhals Musikbeschreibungen, brechen sich an Berlioz' Spott, verbinden auf verblüffend direkte Weise E.T.A. Hoffmann und Balzac. Die Zeit des verzierten Gesangs ist da schon vorbei. Bei Bellini hauchten Romeo und Julia, gegen Shakespeare, aber ganz nah am Kern der Kunst Oper, ihre Leben noch gemeinsam aus, und Starobinski macht, um uns an diesen dunklen Punkt zu führen, mit Worten Musik:

    "Stellen wir uns eine Grabkammer vor, wie sie die europäischen Bühnenbildner seit dem Barock von Epoche zu Epoche zu bauen sich vorgestellt haben, mit ihren Fackeln, dem Schattenwurf, Statuen, Gewölben und Nischen. Der grausige Ort bietet sich an für Gesänge von Bassstimmen. Auf diesem Hintergrund erheben sich zwei Stimmen (Julias Sopran und Romeos Mezzo in der Terz), schweben, beleben sich wieder mit einem Flügelschlag und fallen wieder, gleitend oder zitternd. Sie zeichnen die lange sanfte Melodie, die den Schmerz überwindet, weil sie ihn ausbreitet. Es ist der Augenblick, da Bellinis musikalischer Instinkt seine höchste Macht der Verführung erreicht. Er findet seinen weitesten Atem gerade da, wo die Musik sich die Aufgabe stellt, den Augenblick zu beschwören, da der Atem ausgehen wird."

    Dass Oper sein muss, das ist für einen großen alten Mann wie Jean Starobinski klar - auch für Jens Malte Fischer. Doch der Münchner Theaterwissenschaftler reflektiert gleich in der Einleitung seines Aufsatzbandes auch die aktuellen Bedingungen ihrer Ermöglichung zwischen Kostendruck und Regie-Willkür: Warum, fragt Fischer, hat keine Dramaturgie Doris Dörries fatalen Irrtum verhindert, Verdis Rigoletto in München auf den "Planet der Affen" zu katapultieren? So kämpferisch aber bleibt er nicht. Das Schwächste an Fischers Buch ist sein allzu glänzender Titel, denn er verspricht zuviel: "Vom Wunderwerk der Oper" ist da zwar allerdings, aber doch eher punktuell die Rede. Das hat damit zu tun, dass in den meisten Beiträgen eine Lanze für zweifellos zu Unrecht Übersehenes, Missachtetes gebrochen wird: für die doch vorhandenen Qualitäten voin Weills "Happy End" und Pfitzners "Armen Heinrich", für Dvoraks "Dimitrij" und die Zukunftsmusik in Busoni "Faust", den verkannten Wagneristen Alberic Magnard, für Meyerbeer und Cherubini und so fort - alles richtig, aber doch erst, wenn man sich über spezifische Wunderwerkerei der Oper schon verständigt hat. Klug rührt Fischer im Material, mal mehr, mal weniger aufschlussreich, mit kompetentem Seitenblick auf das sängerische Element der Oper, doch von den Peripherien stößt er zum Kern der Sache Wunderwerk kaum vor. Ohne den Kontext der Programmhefte und Themenbände, für die die Mehrheit der Stücke konzipiert wurden, stehen sie ein bisschen verloren da.


    Jean Starobinski: Die Zauberinnen
    Aus dem Französischen von Horst Günther
    Carl Hanser Verlag, München 2007
    326 Seiten

    Jens Malte Fischer: Vom Wunderwerk der Oper
    Paul Zsolnay Verlag, Wien 2007
    301 Seiten