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Wunder verkaufen sich blendend

In Nigeria boomen die christlichen Sekten: Gebetskreise, Sekten und Glaubensgemeinschaften sind in allgegenwärtig. Alle paar Meter wirbt ein Schild für die spirituelle Dienstleistung irgendeiner Kirche. Der Boom begann in den 80er Jahren mit dem Verfall des Ölpreises. Aus Angst vor wirtschaftlichen Niedergang, Armut, Krankheit und Hexerei suchen viele Nigerianer Zuflucht bei den christlichen Sekten.

Von Bettina Rühl | 02.06.2005
    In den Straßen der nigerianischen Großstadt Lagos werden neben den Garküchen und an den Verkaufsständen die ersten Petroleumlampen angezündet. Der Duft von Fleischspießchen und Hühnerhälften breitet sich aus. Das ist die Zeit, in der sich die Kirchen in der westafrikanischen Metropole langsam füllen - allabendlich, auch an gewöhnlichen Wochentagen.
    Während in den Kirchen jeden Abend der Teufel los ist, bleibt es im Nachtclub "Pokomiko" selbst an den Wochenenden ruhig. Statt Musik läuft der Fernseher, sein blaues Flimmern ist die einzige Lichtquelle. Im Dunkeln sitzen zwei Pärchen vor Bier und Cola; zu essen gibt es nichts, obwohl draußen ein Schild für das Restaurant des Hauses wirbt. Der Betrieb der Küche habe nicht gelohnt, sagt Babington M´ba-Jonas, der Besitzer des "Pokomiko". Er kam vor drei Jahren aus den Vereinigten Staaten nach Lagos zurück, um hier einen Club nach amerikanischem Vorbild zu errichten: Eine Kombination aus Spielhalle, Bar und Restaurant, die morgens für Kinder und ihre Eltern öffnet und erst wieder schließt, wenn die letzten Nachtschwärmer die Bar verlassen haben. Doch weil die Kunden neuerdings ausbleiben, ergänzte Babington M´ba Jonas sein Konzept:

    "Sonntags morgens feiern wir hier Gottesdienst, eine Glaubensgemeinschaft hat die Räume gemietet. Außerdem finden montags, dienstags und donnerstags Bibelstunden statt. "

    Wenigstens bei diesen Anlässen ist das "Pokomiko" gut besucht, und Babington M´ba Jonas zufrieden:

    "Es kann jedem Geschäftsmann passieren, dass er weniger Kunden hat als erwartet. Dann vermietet man seine Räumlichkeiten an unterschiedliche Interessenten. In meinem Fall ist es eben eine Glaubensgemeinschaft. Dabei geht es mir gar nicht so sehr ums Geld, ich verlange nicht viel Miete. Aber ich bin davon überzeugt, dass mein Geschäft aufblühen wird, wenn ich in meinen geschäftlichen Angelegenheiten mit Gott zu tun habe. Deshalb lasse ich sie hier ihre Gottesdienste feiern. "

    Diese Kooperation zwischen Nachtclub und Kirche ist ungewöhnlich – meistens kaufen die Kirchen die Räume, die sie brauchen, kurzerhand auf.

    Gebetskreise, Sekten und Glaubensgemeinschaften sind in ganz Nigeria allgegenwärtig. Alle paar Meter wirbt ein Schild für die spirituelle Dienstleistung irgendeiner Kirche. Jahman Anikulapo findet das beunruhigend. Der 40-Jährige ist Schauspieler, Schriftsteller und Herausgeber der Wochenzeitung "Guardian on Sunday", deren Schwerpunkt auf der Kulturberichterstattung liegt.

    "Ich erinnere mich noch daran, wie schockiert ich war, als ich zum ersten Mal begriff, was sich hier abspielt. Ich ging zum Nationaltheater, weil wir dort eine Vorstellung hatten. Auf dem Weg dorthin kam ich an einem Lagerhaus vorbei, in dem ich bis dahin immer Tiefkühlkost gekauft hatte. Ich sah, dass aus dem Lagerhaus ein Gebetsraum geworden war. Der Pastor predigte, Nigeria sei von Dämonen verseucht, denn der Kommerz habe die Seele der Nigerianer zerstört – wir seien zu sehr hinter Geld her. Man könne die Dämonen nur austreiben, wenn alle Orte, die zu Konsum und wirtschaftlicher Aktivität verführen, von den Glaubensgemeinschaften übernommen würden. Diese Art Lehre breitete sich aus. Statt eigene Gebäude zu errichten, übernahmen die Kirchen einfach alle Lagerhäuser. "

    O-Ton Jahman Anikulapo: "Ihre zweite Angriffswelle richteten die Kirchen gegen Theater und Kinos. Bis dahin konnten wir immer Filme aus Indien und Hollywood sehen. Aber plötzlich gab es das alles nicht mehr, denn diese Produktionen wurden mit einem Bann belegt. Die Kinos hatten keine Einnahmen mehr und mussten schließen. Inzwischen haben die Kirchen alle Kinos und Theater übernommen. Wir konnten beobachten, wie die Glaubensgemeinschaften systematisch alles besetzten: die Unterhaltungsbranche, das kulturelle Leben, den sozialen Raum – das alles war ihren Angriffen ausgesetzt. "

    Der Boom von Freikirchen, Gebetskreisen und Glaubensgemeinschaften begann in den 80er Jahren mit dem Verfall des Ölpreises - Nigeria lebt fast ausschließlich von Einnahmen aus dem Erdölexport. Weil die Staatseinnahmen dramatisch zurückgingen, musste die Regierung schließlich ein Strukturanpassungsprogramm des Internationalen Währungsfonds akzeptieren. Es hatte die üblichen Folgen im sozialen Bereich: Zu Tausenden wurden Nigerianer entlassen, das Gesundheits- und das Bildungswesen wurden zu Grunde gespart. Dabei kam durch den Erdölexport immer noch reichlich Geld ins Land, doch die Dollarmilliarden verschwanden in den Taschen der herrschenden Elite. In ihrer Not suchen die Nigerianer nach Erklärungen für den wirtschaftlichen Kollaps ihres einst reichen Heimatlandes. Immer häufiger heißt diese Erklärung: Hexerei. Der Ethnologe Johannes Harnischfeger beobachtet diese Entwicklung mit Staunen:

    "Wir wissen, dass in vorkolonialer Zeit und auch in der Kolonialzeit selber Hexerei häufig kein so starkes Problem war. Viele Beobachter sind überrascht davon, wie sehr die Menschen mehr und mehr in Panik geraten, weil sie annehmen, dass ihre engsten Angehörigen, ihre Nachbarn, insgeheim als Hexen Schaden gegen sie aushecken. Das ist ein Phänomen, auf das wir nicht vorbereitet waren, weil wir immer dachten, Hexerei ist ein Bestandteil dieser traditionellen, dörflichen Lebenswelt und wird sich langsam verflüchtigen, wenn die Menschen in Großstädte ziehen, wenn sie westliche Bildung genießen und sich so etwas wie ein aufgeklärtes Weltbild durchsetzt. "

    Stattdessen haben immer mehr Menschen Angst vor den so genannten "Mächten der Finsternis": vor Zauberern, Hexen und dem Teufel persönlich. Weil sie vor diesen Mächten Schutz suchen, breiten sich christliche Gebetskreise, Kirchen und Glaubensgemeinschaften in rasantem Tempo aus. Das sei kein Zufall, meint der nigerianische Soziologe Asonzeh Ukah:

    "Ich glaube, dass die Kirchen für den zunehmenden Glauben an Hexerei verantwortlich sind. In den meisten afrikanischen Gesellschaften ist dieser Glaube Teil der traditionellen Kultur, aber die neuen Pastoren verbreiten diese Idee jetzt ganz massiv. Sie vermarkten sozusagen eine Krankheit, um die Medizin gegen diese Krankheit verkaufen zu können. Aber damit die Leute sich für diese Medizin interessieren, müssen die Kirchen natürlich predigen, dass Hexerei eine reale Bedrohung darstellt. "

    Das haben sie so gründlich getan, dass Teufelsaustreibungen mittlerweile alltäglich sind. Wer durch die Straßen von Lagos geht, kommt immer wieder an so einem Ereignis vorbei. Öffentlichkeit ist erwünscht: Die Exorzistin spricht ihren Befehl an den Dämon in ein Mikrofon: "Weiche und gib die Seele dieser Frau frei!"

    "Einige Pastoren behaupten, dass Nigeria seit 1977 Probleme habe, denn damals hätten wir Dämonen, Hexen und Zauberer aus der ganzen Welt nach Nigeria eingeladen. Denn wir veranstalteten 1977 ein internationales Festival für historisches Theater, an dem sich 52 Länder beteiligten. Sie brachten ihre Masken, ihre Kostüme und ihre Tänze mit – eben das, was zu ihrer Kultur gehörte. Einige der Pastoren nutzen die Leichtgläubigkeit der Nigerianer aus und erzählen, dass damit die wirtschaftlichen Probleme Nigerias angefangen hätten: Weil wir Dämonen aus dem Ausland importiert hätten, habe Gott Lagos verflucht. Seitdem hätten sich die Dämonen geweigert, das Land wieder zu verlassen. "
    Jeder Prediger wirbt für seine spezielle Art der spirituellen Dienstleistung: für Teufelsaustreibungen oder Heilungen, die Vermehrung des Wohlstands oder die Förderung der Karriere, Lösungen in Beziehungsfragen oder die erhöhte Fruchtbarkeit der Frauen. Für die Pastoren bewährt sich diese Strategie, meint Jahman Anikulapo.

    "Derzeit ist das Geschäft mit der Religion der Wirtschaftszweig, der in Nigeria am schnellsten wächst. Als ich noch jung war – ich bin jetzt 40 - musste man mindestens fünf, manchmal sogar fünfzehn Kilometer zurücklegen, ehe man zu einer Kirche kam. Jetzt ist das anders: Es gibt an jeder Ecke eine. Die Leute brauchen sich gar nicht mehr richtig anzuziehen, um zum Gottesdienst zu gehen: Sie binden sich einfach ein Handtuch um oder behalten den Schlafanzug an und gehen so die paar Schritte bis zur Kirche – es gab hier wirklich eine Art Explosion. "

    Die Zahl der christlichen Kirchen, Gebetskreise und Sekten wurde schon Mitte der 90er Jahre auf über Tausend geschätzt, und ständig kommen weitere dazu. Die meisten gehören zur so genannten Pfingstbewegung. Für sie ist die "Wiedergeburt im Heiligen Geist" ein zentrales Ereignis. Gemeint sind die Bekehrung zum christlichen Gott und die radikale Abkehr von dem früheren Leben.

    In unzähligen Gebetskreise oder Kirchen vertreten selbsternannte Pastoren ihre jeweils eigene Lehre.
    Kunle Songonuga ruft seine Anhänger immer erst abends zur Bibelstunde in sein Wohnzimmer – so haben die Gläubigen Zeit, tagsüber in einen Gottesdienst zu gehen, und abends bestimmte geistliche Fragen in der Bibelstunde noch einmal zu vertiefen. Heute predigt der 34-Jährige darüber, wie Christen zu Wohlstand kommen können. Das Thema ist sein Spezialgebiet: Kunle Songonuga hat sich vor zwei Jahren als "Pastor" selbstständig gemacht und die "Gemeinschaft für die Herrschaft der Gläubigen" gegründet.

    "Wir versuchen, jedes der göttlichen Prinzipien auf die drei zentralen Bereiche in unserem Leben anzuwenden: auf unsere Beziehungen, unsere Karriere, und unsere Finanzen. Unser Ziel ist Herrschaft. In einem Vers der Bibel, in der Offenbarung, heißt es: "Er hat uns zu Königen und Priestern gemacht, auf dass wir über die Erde herrschen." Ich habe diesen Gebetskreis gegründet, damit die Gläubigen zur Herrschaft ermächtigt werden. "
    Eine theologische Ausbildung hat Kunle nicht – eigentlich ist er diplomierter Betriebswirt. Doch sein Diplom half ihm im Leben nicht weiter:

    "Ich arbeitete nach dem Studium zuerst als Praktikant im Marketing-Bereich, aber das Unternehmen ging pleite, und ich stand auf der Straße. Also machte ich mich mit einem Business-Center selbstständig, aber weil ständig der Strom ausfiel, konnte ich nicht gewinnbringend arbeiten und die Rechnungen nicht bezahlen. Ich hatte das Gefühl, dass man in Nigeria nicht vorankommen kann und beschloss, meinen Kram zu packen und das Land zu verlassen. Ich wollte irgendwo hin, wo die Dinge funktionierten. "

    Kunle bemühte sich um ein Visum für die Vereinigten Staaten, doch ihm war klar, dass er kaum Chancen hatte, eine Einreiseerlaubnis zu bekommen.

    "Da sagte jemand zu mir: "Wenn du Christus dein Leben gibst, kannst du sogar ein Visum kriegen." Und ich dachte: "Ja, wenn er Gott ist, sollte er das für mich tun können!" Und ich bekehrte mich zu Christus. "
    Inzwischen hat Kunle seine Bemühungen um ein Visum aufgegeben und fühlt sich zum geistlichen Amt berufen. Sein besonderes Augenmerk gilt finanziellen und beruflichen Fragen. Er verspricht seinen Anhängern überraschende Karrieresprünge und plötzlichen finanziellen Segen. Asonzeh Ukah:

    "Wunder verkaufen sich gut. Wenn ein Pastor keine Wunder vorweisen kann, muss er seinen Laden schließen. Ich habe noch keinen Geistlichen getroffen, der nicht von sich behaupten würde, er könne Wunder vollbringen. Wunder verkaufen sich hier so gut, wie Sex, Pornographie und Kinderschändung in Europa oder Amerika. "

    Für die Prediger ist das ein einträgliches Geschäft. Sie berufen sich auf einen Vers in der Bibel, wonach jeder Gläubige der Kirche ein Zehntel seines Einkommens geben muss. Zusätzlich sammeln sie Kollekten und bitten außerdem um Spenden. Die erfolgreichsten unter den Pastoren fahren Luxuslimousinen und tragen maßgeschneiderte Anzüge, einer hat es bis zum Privatjet gebracht.

    "Sehr häufig sind die Kirchen wie das private Königreich der Pastoren, denn sie sind entweder selbst für die Finanzen zuständig, oder sie haben das an ihre Frauen delegiert. Die Kirchen sind also eine Art Familienunternehmen. Die Pastoren sind ihren Anhängern gegenüber nicht rechenschaftspflichtig, und der Staat interessiert sich auch nicht dafür, was sie mit ihrem Geld machen. Und schließlich bekommen die Geistlichen viele Sachwerte und viel Geld als Spenden. Darüber wird ohnehin nicht Buch geführt. "
    Jahman Anikulapo findet den wachsenden Einfluss der Kirchen in Politik und Wirtschaft zutiefst beängstigend.

    "Unserer Redaktion gehören mehrere Mitglieder unterschiedlicher Kirchen an, die nicht fernsehen dürfen, weil das Fernsehen angeblich ein Medium des Teufels ist. Zu Hause habe ich einige Kunstwerke, die mir eine Kollegin gegeben hat. Ihr Prediger hatte ihr zunächst gesagt, sie solle ihren Namen wechseln – also wechselte sie ihren Namen. Dann sagte man ihr, dass jedes Gemälde und jede Skulptur eine Repräsentation des Teufels sei. Beiläufig erzählte sie mir, dass sie ihre Gemälde wegwerfen wolle. Ich sagte zu ihr: Ehe du sie wegwirfst, gib sie bitte mir. Und sie gab mir sieben Bilder. "

    Inzwischen ist die einst reiche Kulturszene Nigerias tot. Für Jahman Anikulapo ist das ein tragischer Verlust – er lebt mit Theater, Literatur und Musik. Und wenn er die Bilderstürmerei der Geistlichen beobachtet, fürchtet er nicht nur um die Kultur.

    "Ich habe nur einige Beispiele aufgezählt, um zu zeigen, wie man das Selbstbewusstsein der Menschen zerstören kann. Wie man ihre Selbstachtung, ihren Glauben an die eigenen Fähigkeiten, ihre Wertschätzung des eigenen Erbes, den Stolz auf die Würde ihrer Person und ihre Identität untergräbt. Wenn das so weitergeht, dann brauchen wir über das Thema Entwicklung nicht mehr zu sprechen, denn diese Menschen werden sich an keinem Entwicklungsprozess mehr beteiligen. "

    Damit wäre der Teufelskreis geschlossen: In ihrer wirtschaftlichen Not suchen die Menschen Zuflucht bei den Gebetskreisen. Statt offensiv für eine politische oder wirtschaftliche Verbesserung ihrer Lage zu kämpfen, begnügen sich die Gläubigen mit dem Gebet und hoffen, dass ein Wunder ihre Armut beende.