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Wunderkind mit Violine

Für den Geiger Yehudi Menuhin war der 25. November 1927 einer der wichtigsten Tage seiner Karriere: Er spielte als elfjähriges Kind zum ersten Mal vor großem Publikum in Amerika - in der New Yorker Carnegie-Hall. Nach dem Konzert wurde er von den Kritikern als Genie und Wunderkind gefeiert.

Von Wolfram Goertz | 25.11.2007
    Am 25. November 1927 kam ein elfjähriger Junge auf die Bühne der New Yorker Carnegie Hall, er trug samtene Kniehosen, weiße Strümpfchen, ein weißes Sportblouson - und eine Geige. Die war für den Knirps offenbar schwer zu bedienen, denn kaum hatte er das Podium betreten, reichte er das Instrument dem Konzertmeister des New York Symphony Orchestra, damit der die Stimmung überprüfen und gegebenenfalls die Wirbel festziehen konnte; dazu fehlte dem Jungen noch die Kraft. Auf dem Programm stand das Violinkonzert D-Dur von Ludwig van Beethoven, und als der Junge jene ersten Solo-Takte gespielt hatte, wusste das Publikum, dass es ein Wunderkind hörte. Dieser 25. November gilt als Markstein in der Karriere des Geigers Yehudi Menuhin.

    Der deutsche Dirigent Fritz Busch gab an diesem Abend gleichfalls sein New Yorker Debüt, und ursprünglich hatte er den Knaben für Mozarts A-Dur-Violinkonzert eingeplant. Als er sich von ihm im Hotel aber den Beethoven vorspielen ließ, streckte er alsbald die Waffen. In seinem Memoiren schreibt Busch später:

    "Yehudi spielte so herrlich und vollendet, dass ich mich bereits beim zweiten Tutti geschlagen gab. Dies war die Vollkommenheit."

    Zu dem Jungen sagte der Dirigent am Ende dieses ungewöhnlichen Privatvorspiels, nachdem er ihn enthusiastisch umarmt hatte:

    "Mein lieber Junge, du kannst alles mit mir spielen, jederzeit und überall!"

    Menuhin befand sich ein wenig wie im Paradies, in dem es keine Zeitrechnung mehr gab. Es ging jetzt alles sehr schnell; Monate zuvor war er noch in Rumänien gewesen, hatte Unterricht bei dem großen George Enescu bekommen, und jetzt schickte er sich an, Amerika und die ganze Welt zu erobern. New York bewunderte die instinktsichere Großartigkeit, mit welcher der kleine Menuhin das schwere Werk bewältigte, wie er schon die einleitenden Oktavsprünge in den Saal meißelte, wie überwältigend er die Kadenz absolvierte, wie er auch dem langsamen Satz Farbe und Innigkeit verlieh.

    Die New Yorker Kritiker waren über die ungeheuerliche Darbietung in diesem Debütkonzert beinahe erschrocken. Der Rezensent der New York Times fasste diesen Quantensprung kindlichen Violinspiels, den er erlebt hatte, in folgende Worte:

    "Ich war mit der Überzeugung gekommen, dass ein Kind nicht besser Geige spielen könne als ein dressierter Seehund, und ich ging mit der Gewissheit weg, dass es so etwas wie einen berühmten Künstler gibt, der sehr früh beginnt. Hier muss man das abgedroschene Wort 'Genie' zitieren. Es gibt keine andere Erklärung für eine solche Leistung."

    Fritz Busch hielt die Strippen weiterhin in der Hand. Er kabelte dem Berliner Philharmonischen Orchester, dass er dort gern mit dem kleinen Menuhin auftreten wolle, und weil der junge Geiger selber eine Neigung zum Hasardieren besaß, kam der abenteuerliche Plan auf, dass in Berlin erst ein Bach-Konzert, dann das Brahms-Konzert und schließlich auch noch das Beethoven-Konzert auf das Programm gesetzt werden sollten. Diese Mammutaktion fand anderthalb Jahre später statt, allerdings mit Bruno Walter am Pult, denn Buschs Vater war kurz zuvor verstorben. Es wurde abermals ein Triumph - mit Beethovens Konzert als Finale. In diesem Moment kniete auch Europa vor der sensationellen geigerischen Begabung eines Kindes, das ein Jahrhundert-Künstler werden sollte.