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Wundervolle Wurst-Welten

Auf die polnische Wurst ist auch in Krisenzeiten Verlass. Sie bleibt immer eine würdige Botschafterin ihres Landes und bringt das Ausland auf den Geschmack. Vielen Polen hat sie den geschäftlichen Start im Westen ermöglicht.

Von Ernst-Ludwig von Aster und Wojtek Mroz; Redakteur am Mikrofon: Norbert Weber | 20.06.2009
    Als die Republik Polen am 1. Mai 2004 der Europäischen Union beitrat, war die Skepsis vor allem unter der Landbevölkerung groß. Doch die Sorge vieler Bauern, dass Polens Landwirtschaft der höher subventionierten Konkurrenz der alten EU-Staaten nicht gewachsen sein könnte, hat sich als unbegründet erwiesen. Denn trotz des schwierigen EU-Marktes mit Überproduktion und starker Konkurrenz behaupten sich die polnischen Erzeugnisse sehr gut. Die hohe Qualität und der geringe Einsatz von Chemikalien und Kunstdünger machen die Exporterfolge der polnischen Agrarprodukte aus.

    Vor allen Dingen polnische Wurstwaren haben mit dem EU-Beitritt Karriere gemacht. Hier gelang die Wende von der sozialistischen Einheitswurst zu der qualitativen Vielfalt beispielhaft. Und so wundert es nicht, dass jeder angehende Koch in seiner Ausbildung lernt, wie man Würste macht. Bei den rund 240 Wurstsorten, die in Polen auf dem Markt sind, stellt sich immer wieder die Qualitäts- und die Geschmacksfrage. Auch im Hotel Wroclaw in Breslau.

    Wenn es um die Wurst geht, geht es in Polen um die Ehre - Der Chefkoch im Breslauer Hotel Wroclaw

    Drei Köche wenden Schweinefilets in großen Pfannen. Auf dem Herd köchelt ein Fond: Vorbereitungen für das Mittagessen in der Hotelküche. Tadeusz Hupa, die hohe Kochmütze auf dem Kopf, steht etwas abseits, vor sich eine große, achteckige Edelstahlplatte.

    "Das hier geben wir unseren Gästen zum Frühstück", sagt Hupa. Der großgewachsene Mittvierziger, in dunkler Hose und weißer Kochjacke zupft eine orangefarbene Rose zurecht, die in der Mitte der Platte aus einem Salatarrangement emporragt. Drum herum liegen aufgefächert Wurstscheiben, mal gerollt, mal geschichtet:

    "Auf der Platte haben wir Cabanossi, polnische Krakauer, Truthahnfilet, gebratenes Rückenfleisch."

    Ein Wurst-Kunstwerk, Tag für Tag neu arrangiert vom Chef persönlich.

    "Das sind alles rein polnische Produkte, die wurden hier im Land hergestellt nach polnischen Rezepten."

    Der Kollege, der nebenan die Schweinefilets wendet, hört zu, nickt zustimmend. "Wenn es um die Wurst geht, geht es in Polen um die Ehre", sagt der Chefkoch und erzählt dann leidenschaftlich von der letzten großen Aktion, die in seiner Küche veranstaltet wurde.

    "In unserem Hotel wurde die längste Blutwurst der Welt hergestellt, von unseren schlesischen Kollegen. Wir Köche haben dabei geholfen. Die Blutwurst war fast 250 Meter lang. Alles musste mit der Hand gemacht werden, auf traditionelle Art innerhalb von einer Stunde."

    Wursttradition und Weltrekord, Werbung für den Wurst-Standort Polen. Küchenchef Hupa greift zum schweren Schlüsselbund und bittet darum ihm zu folgen. Vorbei an den großen Kühlräumen geht es zum Lastenfahrstuhl Richtung Keller.

    "Die Kunst ist es, die guten Wurstsorten auszuwählen. In Polen gibt es zum Beispiel zig Sorten von schlesischer Wurst genauso wie bei der Krakauer. Und aus diesem Sortiment muss man zwei, drei auswählen, die schmecken, die Qualität haben. Denn gute Wurst gibt es nur aus gutem Rohstoff."

    Fahl leuchten die Neonröhren im langen Kellergewölbe. Unter der Decke ziehen sich dicke Versorgungsleitungen entlang. Links und rechts sind schwere Stahltüren eingebaut. Kupa eilt den unterirdischen Gang entlang, biegt zweimal um die Ecke, bleibt vor einer der schweren Stahltüren stehen. Der Chefkoch greift in seine Brusttasche, kramt nach seiner Lesebrille. Dann beugt er sich hinunter zum Schloss und öffnet die Tür. Eine leichte Kühle schlägt uns entgegen.

    Der rund zehn Quadratmeter große Raum ist voll gestellt mit Metallregalen, die bis zur Decke reichen. Darauf hat Hupa fein säuberlich seine Wurstwaren gestapelt.

    Mit einem Lächeln geht Hupa von Regal zu Regal und zeigt sichtlich Stolz- seine Wurstwaren-Kollektion: Cabanossi, Krakauer, schlesische Weißwurst, sein kulinarisches Kapital. Seine Ware kauft er nur bei ausgewählten Produzenten, denn, wenn es um die Wurst geht, versichert er, kann er keine Kompromisse machen.

    "Vor allem die Deutschen sind von unseren Würsten begeistert. Die älteren Damen und Herren, die kennen unsere Produkte. Deren Zunge kann man nicht betrügen. Die kaufen unsere Würste, weil sie Wurstkenner sind."


    Mittlerweile hat es die polnische Wurst zu literarischen Ehren gebracht. "Klub der Wurstmenschen" heißt der Roman von Leszek Hermann, eine Realsatire zum deutsch-polnischen Verhältnis. Der Autor ist, wie könnte es anders sein, Pole. Er erzählt eine skurrile Geschichte, die tief blicken lässt.

    Am Vorabend des polnischen EU-Beitritts wird Deutschland von polnischer Wurst überschwemmt. Die deutsche Wurstlobby kocht, und außerdem gibt es eine fatale Wirkung von Krakauer und Cabanossi: Sie machen die Deutschen faul und zufrieden. Zwar wird schnell ein Importverbot verhängt, doch findige polnische Techniker versuchen, das Embargo zu umgehen, indem sie Menschen aus Wurst klonen. Diese sollen fähig sein, im Alleingang die Grenze zu überqueren, um dann in Deutschland in den Regalen und Wursttheken zu landen.

    "Als die ersten drei Prototypen des Wurstmenschen die polnische Westgrenze passieren sollten, um das Land für immer zu verlassen, fristeten die meisten Wurstverarbeitungsbetriebe in Polen ein tristes Dasein und ihre Mitarbeiter standen bereits in Schlangen vor den Arbeitsämtern. Nur ein kleiner Teil produzierte noch für den inländischen Markt, aber auch hier sank rezessionsbedingt die Nachfrage nach heimischer Wurstware. Die Hoffnungen auf ein schnelles Wirtschaftswunder hatten sich nicht erfüllt. Aus Trauer wollten die Leute nicht mehr essen. Ganz Polen versank in eine tiefe Eiweißdepression.

    Am Grenzübergang Kielbaskowo kam es nun wegen der Gedankenlosigkeit gewisser Schnurrbartträger zu einem Ereignis, das die Pläne der pfiffigen Urheber dieses kuriosen Schmuggelunterfangens durchkreuzen und im Endeffekt die Zahl der polnischen Arbeitslosen noch um einige frustrierte Mikrobiologen erhöhen sollte.

    Ein Personenwagen einheimischer Produktion, gefahren von einem schnurrbärtigen Polen, neben dem ein anderer Schnurrbartträger saß, war den deutschen Zöllner gleich suspekt

    '"Guten Tag, ihre Pässe bitte.'

    'Bitte sehr, hier sind sie.'

    'Etwas zur Abfertigung? Wurst? Kilbascha?'

    'Nein.'

    'Und was ist das?'

    'Znicze.'

    'Was? Nietzsche? Was für Nietzsche? Philosophie?'

    'Niet filozofja, sznicze für Bekannten ... Ist kaputt. Feuer auf Grab - znicze.'

    'Ja, ja. Grabkerzen heißt das auf Deutsch.'

    'Ja.'

    'Warum nur zwei Pässe?'

    (zu sich selbst)'"Scheiße wir haben die Pässe der Wurstmenschen vergessen'

    'Unsere Kollegen Stefan, Waldek und Józek haben vergessen Pass. Wir drehen um, gut?'

    'Moment bitte an die Seite fahren!'

    'Scheiße, jetzt sind wir dran. Los, lauft weg!'

    'Halt! Halt!'

    Die schnurrbärtigen Schmuggler fing man gleich an der Grenze, aber den Wurstmenschen gelang es, von einem übermenschlichen Schreck getragen, zu fliehen."

    2005 startete eine Gruppe polnischer Metzger die Internet-Seite www.wedlinydomowe.com.Wedlynydomowe, das heißt hausgemachte Räucherwaren. Die Internetseite ist heute die Plattform für polnische Wurstfreunde.

    Schlachter und Amateurwurstmacher fachsimpeln über Rezepte und Räuchermethoden, ist doch der Trend zur privaten Wurst-Produktion in Polen ungebrochen. Auch in dem kleinen Örtchen Sedlec in Westpolen, wird regelmäßig hinter einem Wohnhaus geschlachtet und gewurstet.


    Von der Fabrik- zur Privatproduktion - Der Hobbyfleischer aus Sedlec

    Zehn Würste landen auf einen Schwung in der großen hellbraunen Plastikschüssel. Dazu legt Kryzstof Sczepanski noch einen Schinken und noch ein paar weitere frische Wurstwaren. Zufrieden nickt der Kunde, den der Hobbymetzger gerade bedient, packt die Plastikschüssel an den Henkeln und geht langsam zu seinem Wagen. Da wartet sein Sohn, der ihm hilft. die schwere Plastikschüssel in den Kofferraum zu hieven.

    "Das ist Blutwurst, aus Blut und Graupen, die berühmte polnische Blutwurst. Ich bringe mein Fleisch immer hierher, weil die Würste hier einfach super schmecken."

    Langsam verschwindet der Wagen in der Dämmerung. Krzystof Szczepanski winkt zum Abschied. Dunkelblaues Sweatshirt, weiße Baseballkappe, schwarze Jeans, schwere schwarze Gummistiefel, so steht der 35-Jährige vor einem kleinen Flachbau. Die kleine Lampe über dem Eingang taucht den Hünen in ein fahles Licht.

    "So eine Wurst kauft man nicht in einem Geschäft. Man bringt mir ein Schwein. Und aus diesem Schwein mache ich die Wurst. Aber ich verkaufe sie nicht. Ich kassiere nur für meine Arbeit."

    Szczepanskis Privatschlachterei liegt etwas abgelegen direkt hinter einem Einfamilienhaus. Ein kleiner Trecker mit einem Anhänger rollt auf den Hof, darin grunzt ein Schwein. Langsam rangiert der Landwirt rückwärts, bis der Hänger vor dem Tor des Flachbaus zu stehen kommt. Breitbeinig wartet im Innern ein Helfer, eine schwere Axt in den Händen, das stumpfe Ende nach unten gerichtet. Vier Schläge, dann zuckt die Sau auf dem Fliesenboden. Ein schneller Schnitt durch die Kehle, dann strömt das Blut über die weißen Kacheln.

    "Heute werden wir zwei Schweine verarbeiten, das macht rund 40 Kilo Wurst, 20 Kilo pro Schwein, dazu Schinken, Sülze, und was sonst noch übrig bleibt, wird als Fleisch mitgenommen"

    Ein Helfer gießt eimerweise heißes Wasser über den Tierkörper, der Bauer beginnt die Borsten abzuhobeln, Sczepanski krempelt die Ärmel seines Sweatshirts hoch, greift zu Wetzstein und Schlachtermesser.

    "An meinen Händen kann man sehen, dass ich den Metzgerberuf liebe. 18 Jahre habe ich in einer Fleischfabrik gearbeitet. Dann habe ich mich entschlossen, mich selbständig zu machen und keine wurstähnlichen Produkte mehr herzustellen. Ich wollte echte Wurst machen. Da gibt es viel zu tun. Und davon kann man leben."

    Von der Fabrik- zur Privatproduktion. Statt anonymer Massenware persönliche Wurstmacherei. Die Kunden kommen teilweise Hunderte von Kilometern um ihr Schwein abzuliefern.

    Routiniert fährt Sczepanskis rechte Hand mit dem Messer durch das Schweinefleisch. Die linke Hand packt das Fleischstück, wirft es in eine der fünf Plastikwannen, die auf dem Boden stehen.

    "Das sind die abgeschnittenen Reste. Hier sind die mageren Teile, hier die mit mehr Fett, da die Knochen, die Schwarte und hier die Köpfe."

    In der Ecke stehen zwei Kutter zum Zerkleinern des Fleisches, an der Wand zwei große Kessel zum Kochen, auf der einen Arbeitsbank die Fleischberge, auf der anderen eine alte grüne Waage, auf der rechten Waagschale zwei Knoblauchknollen, auf der linken eine Schachtel Light- Zigaretten. Sczepanski legt das Messer beiseite, greift zur Zigarettenschachtel und geht nach nebenan, in den Vorraum zur Räucherkammer.

    "Meine Rezepturen habe ich noch niemandem verraten. Ich helfe manchmal den Kollegen, aber was den Geschmack ausmacht, wird nicht verraten."

    Sczepanski öffnet die Tür der Räucherkammer. Zahlreiche Würste hängen über Metallstangen. Zischend tropft ihr Fett auf glühende Buchenholzscheide. Ein wurstig würziger warmer Rauch zieht angenehm in die Nase. Szepanski lächelt, seine Tagesproduktion, Wurst für Wurst Handarbeit, hergestellt aus einem Schwein, für einen Kunden, Wurst direkt. So einfach ist das.

    "Ich bin der Meinung, dass Wurst keine Konservierungsstoffe braucht. Gut gemachte Wurst kann ein Jahr an der Luft hängen. Sie wird dann hart wie ein Stein, aber sie wird nicht verfaulen. Bei mir werden aus 100 Kilogramm Fleisch 90 Kilo Wurst. So sind die Verhältnisse, wenn etwas Gutes dabei herauskommen soll. Und wenn man qualitativ gutes Fleisch verarbeitet, dann bekommt man auch Wurst mit gutem Geschmack."


    "Immer häufiger waren Gerüchte über eine sensationelle Erfindung der polnischen Räucherwarenindustrie über die Oder gesickert, und aufgrund diverser Hinweise vermutete man, dass es sich bei den Flüchtlingen um Wurstwesen handeln müsse, die dem Appetit der Bewohner des kleinen und nicht weit von der Grenze gelegenen Städtchens Pommern zum Opfer gefallen waren. Schließlich konnte die gegen den Import polnischer Wurstware abgedichtete Grenze jeden noch so ruhigen Bürger in schiere Verzweiflung und den Wahnsinn treiben. Die Ermittlungen übernahm die SOKO 'Wurst' der Polizei von Brenzlau, doch diese fand lediglich große, hauchdünne Darmstücke tierischer Herkunft in der Nähe der Autobahn. Wie die genetische Analyse ergab, handelte es sich um ein Material, aus dem die äußere Hülle der Wurstmenschen gemacht sein konnte."

    Rund 23 Prozent des polnischen Exports von Agrarprodukten und Nahrungsmitteln gehen heute nach Deutschland. Vornehmlich sind es jedoch Milchpulver, Geflügel und Beeren. Denn die traditionelle Kielbasa, die gute polnische Wurst, ist im Ausland in Vergessenheit geraten. Und so haben die Wursthersteller erkannt, dass es ohne breit angelegte Werbemaßnahmen für ihre Produkte kaum eine Chance gibt, bei den großen Handelsketten ins Geschäft zu kommen.

    Deshalb soll nun den zahlreichen Touristen und Geschäftsreisenden die polnische Wurst schmackhaft gemacht werden. So finden in regelmäßigen Abständen im Breslauer Hotel Wroclaw so genannte Kulinarik-Messen statt. Dort präsentieren vor allem schlesische Hersteller ihre Spezialitäten. Regionales Tourismusmarketing geht durch den Magen, und die Breslauer erfreuen sich steigender Beliebtheit, nicht zuletzt weil aus ihrer Stadt einer der bekanntesten Wurstexperten kommt, der für seine attraktiven Verköstigungen bekannt ist.


    Die polnische Wurst als Botschafter des Landes - Der Wurstvermarkter aus Breslau

    Janusz Akelashek schiebt seinen massigen Körper in dem grünen Ledersessel zurecht. Dann richtet er sich schnaufend auf und stützt sich dabei mit den Ellenbogen auf die Armlehnen, hält hilfesuchend Ausschau nach der Kellnerin. "Hallo Mäuschen, ich trinke noch ein Bier, aber auf 50 Prozent", ruft er der jungen Frau zu, die sich ein Lächeln nicht verkneifen kann und dabei zustimmend nickt. Sie kennt das schon. Akelashek ist Stammgast hier, plant kulinarische Veranstaltungen, richtet Kochbuch-Messen aus. Der 62-Jährige beugt sich nach vorne über einen Wurstteller. Mit dem dicken Daumen und dem fleischigen Zeigefinger bedient sich Akelashek an einer Scheibe Wurst, riecht kurz daran, dann hält er sie gegen das Licht

    "Das ist hervorragende Schinkenwurst. Die ist ein Verkaufsschlager in Amerika und in Deutschland. Diese Wurst hat kein Gramm Fett. Das ist eben erstklassige polnische Wurst."

    Die dünne Scheibe Wurst verschwindet in Akelasheks Mund. Seine Zunge fährt schnell über Ober- und Unterlippe. Von links nach rechts. Dann greift er zum nächsten Wurststück.

    "Das hier sind Cabanossi. Die gute polnische Cabanossi muss knusprig sein. Diese Sorte hier wird nach Großbritannien exportiert. Die sind ein bisschen dicker. Die Briten mögen das lieber so. Wie hübsch sie doch ist. Aaah, und dieser Geruch."

    Wie ein Gourmet zelebriert Akelashek den Wurstverzehr, während die Kellnerin die bestellte Flasche Bier serviert. Dass der 62-Jährige ein Fachmann in Sachen Wurst wurde, kommt nicht von ungefähr. Es wurde ihm quasi in die Wiege gelegt, denn sein Vater war Chef einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft.

    "Obwohl es ein staatlicher Betrieb war, hat mein Vater qualifizierte Metzger beschäftigt. Da haben 600 Leute gearbeitet. Und die haben leckere Würste gemacht. Eigentlich kenne ich nur zwei Sorten von Wurst: ganz schlechte und erstklassige Qualität."

    Akelashek dreht seinen massigen Körper zur Seite und beugt sich nach vorne, greift zu einer schweren schwarzen Umhängetasche. Daraus holt er ein dickes Buch, welches er auf dem Tisch ausbreitet.

    "!Hier haben wir die Krakauer- Sorten. Sie wissen, früher hatte der König seinen Sitz in Krakau Und für den wurde die beste Wurst gemacht, Krakauer Schinkenwurst. Hier haben wir die Thoruner Wurst, sie wissen schon, Kopernikus. Und das hier ist die berühmte Knoblauchwurst. Die ist in ganz Europa bekannt.""

    Sein Mobiltelefon klingelt. Eine Journalistin möchte einen Termin vereinbaren. Sie möchte sich mit ihm über polnische Esskultur unterhalten. Doch Akelashek will sich jetzt nicht unterbrechen lassen und vertröstet sie auf später.

    "Unter den Kommunisten gab es eine Wurst die hieß 'einfache Wurst' Der damalige Erste Sekretär Gomulka der sagte, für die Arbeiter sollte eine einfache Wurst gemacht werden."

    Die polnische Proletarier-Wurst, produziert nach Dekret. Grobschlächtig aber lecker, sagt Akelashek, manchmal aber ein bisschen fett. Ein neueres Kapitel der Wurstgeschichte, die aber in Polen schon vor Urzeiten begann

    "Während des Treffens von Otto III und dem polnischen König Boguslaw, das im Jahr 1000 in Gniezno stattfand, da wurde polnische Wurst serviert. Damals haben die Polen schon Wurst gemacht. Ich glaube, dass die Freundschaft zwischen dem polnischen König und dem deutschen Kaiser vor über 1000 Jahren auch auf die polnische Küche zurückzuführen war."

    Die polnische Wurst als Botschafterin des Landes, Akelashek meint das ernst. Schließlich hat er schon mit Franz Josef Strauß polnische Wurst verzehrt und auch mit Helmut Kohl. Den Pfälzer bewundert er noch heute. Ein großer Mann, sagt er, mit großem Appetit.

    Akelashek bestellt noch ein Bier, beugt sich wieder über seinen Wurstteller, fixiert das Angebot und greift dann zielsicher eine Scheibe heraus. Fett glänzend schimmert sie zwischen Daumen und Zeigefinger. Akelashek schnuppert kurz daran, nickt zufrieden.

    "Das ist eine Wurst, die grenzt an eine Bauernwurst. Ein Bauer nimmt so ein Stück Wurst, dazu noch einen Teller Zurek, dann beglückt er erst seine Frau und geht dann noch die Wiese mähen","

    sagt es und schiebt sich mit einen kleinen Grinsen die Wurstscheibe in den Mund.


    ""Einem der Wurstmenschen war es gelungen, mit der Hilfe eines zufällig getroffenen Polen nach Berlin zu kommen, wo er sich bei einer polnischen Organisation meldete, die sich seit mehr als zwanzig Jahren um die Belange ihrer Landsleute kümmerte. Der polnische Schulzenrat - so hieß diese Organisation - begann sofort zu handeln.

    Schnell gelang es, die wahre Identität des Neuankömmlings zu bestimmen. Man kombinierte die Presseinformationen über die Vorgänge an der Grenze mit den Gerüchten über die Kreaturen aus Wurst. Nicht ohne Rührung befand man, dass die Herkunft des Individuums in strikter Beziehung zu einer schmackhaften polnischen Wurstsorte stehen müsse, die nach einer uralten Burgstadt, der Wiege Polens, benannt war. Es handelte sich um den aus unbehandelter Krakauer Wurst generierten Großen Wurstmenschen!

    Man muss dazu sagen, dass das Aussehen des Wurstwesens kein größeres Interesse der Passanten auf der Straße hervorrief, als es zum Beispiel beim bekanntesten polnischen Beau, Pawel Delag, dem der Wurstmensch sogar etwas ähnlich sah, der Fall gewesen wäre. Trotz gewisser Voraussetzungen dazu, hatten die Glieder des Wurstmenschen weder die Gestalt von Wiener Würstchen, noch ähnelte seine Haut der einer trockenen Krakauer. Nichts dergleichen. Er sah genauso aus, wie ein viel versprechender Mann aussehen sollte."

    Rund neun Prozent der europäischen Schweinefleischproduktion kommen aus Polen. Knapp 19 Millionen Schweine zählten die Statistiker in polnischen Ställen, Nachschub für den heimischen Wurstmarkt. Denn traditionell wird in Polen die Wurst aus Schweinefleisch hergestellt. Rund 2500 Unternehmen produzieren auf dem polnischen Markt, die drei größten mit mehreren 1000 Angestellten gehören zu internationalen Nahrungsmittelkonzernen.

    Doch die Garanten der Wurstvielfalt sind die Familienbetriebe. Ihr Spektrum reicht von der Drei-Mann-Schlachterei bis hin zum 1000-Mann-Betrieb. Einer von ihnen ist unweit von Poznan in dem kleinen Örtchen Borek beheimatet.


    Wachstum dank Wurstwirtschaft - Der mittelständische Unternehmer Wojciech Mroz

    Zwei große Kühltransporter warten vor der riesigen Halle. Zwei kleinere sind gerade dabei. rückwärts an die Ladeluken zu rangieren. Sie transportieren Schweinehälften für die Wurstproduktion.

    "Ich war drei Jahre alt, mein Vater war Fleischer von Beruf. Unter den Kommunisten konnten wir privat kaum etwas machen. Er war bei einer staatlichen Metzgerei angestellt. Aber nach der Arbeit sind wir rumgefahren und haben Schlachtungen gemacht. Und ich erinnere mich: Meine erste Schlachtung war bei einem Priester der Gemeinde Borek."

    Wojciech Mroz steht auf dem Hof vor den Lkw. 50 Jahre ist das her, seine erste Schweineschlachtung.

    "Danach bin ich zusammen mit meinem Vater durch den Schnee nach Hause gegangen, mit einer Tasche Wurst vom Priester. Ich war sehr stolz: Vater und Sohn zusammen nach getaner Arbeit."

    Schwarz-Schlachtung beim Schweine-Priester, für den jungen Mroz war das ein prägendes Erlebnis. Er studierte Agrarwirtschaft, und wann immer er nach Hause kam, half er seinem Vater bei der Wurstproduktion. 1980 kaufte er dann von seinem Onkel fünf Hektar Land und schaffte sich ein paar Schweine an, um Wurst für den Eigenbedarf zu produzieren. Mitte der 80er-Jahre war er dann zu Besuch bei einem Verwandten in Hamburg. Im Gepäck hatte er einige Würste aus seiner Privatproduktion.

    "Der erste Export nach Deutschland lief mit der Fähre Pommerania nach Hamburg. Da haben wir einige Kilo Wurst aus unserer Eigenproduktion mitgenommen. Die haben wir in Hamburg verkauft. Für zehn Kilogramm Wurst haben wir damals so viel bekommen, wie bei uns zwei Schweine kosteten. Das war ein gutes Geschäft."

    Das war Mroz' Einstieg in die Wurstwirtschaft. Als er wieder zuhause in Borek war, kaufte er weitere Schweine dazu und baute seine Wurstproduktion aus, Jahr für Jahr.

    Der 53-Jährige eilt an den Lkw vorbei Richtung Produktionshalle, im Gehen streift er sich einen weißen Hygiene-Kittel über das derbe Cordsakko.

    "Angefangen haben wir damals mit einer Wurstproduktion von 50 Kilogramm täglich und einer einzigen Arbeitskraft. Heute produzieren wir 60 Tonnen Fleischwaren und schlachten rund 1000 Schweine pro Tag. Ein Teil kommt aus unseren Beständen, ein Teil von Landwirten aus der Umgebung."

    Im Sekundentakt füllt eine Maschine den Kunstdarm mit Wurstmasse. Ein Fließband transportiert die Wurst weiter zu den Arbeiterinnen, die verschließen die Enden der schlesischen Weißwürste dann mit kleinen Holzstücken: Hightech und Handarbeit bei der Wurstproduktion

    "Mein Geschäft ist Landwirt, Mäster, Schlachter, Verarbeiter, Verkäufer - das ist ein geschlossenes System."

    Eigene Schweine, eigenes Getreide, eigene Wurst, eigene Geschäfte - das Wurst-Imperium des Wojciech Mroz, alles aus einer Hand. 4000 Hektar Land hat er mittlerweile rund um das Örtchen Borek gekauft. Und er kauft immer weiteres hinzu, um unabhängig zu bleiben, wie er sagt, im harten Wurstgeschäft.

    "Viele Firmen produzieren Produkte, die nichts mit dem traditionellen polnischen Geschmack zu tun haben. Bei mir ist das anders. Ich bin aufgewachsen mit dem Geschmack der polnischen Wurst. Die kenne ich von zuhause, von meinem Vater. Und ich mag Wurst."

    Darum macht er beim Preiskampf der Großproduzenten nicht mit und setzt stattdessen lieber auf Qualitätsprodukte, die er auch im Ausland zu vermarkten versucht. In der Packstation arbeiten gut 20 Mitarbeiter; kleben Etiketten auf Wurstpackungen, verstauen diese dann in Kartons, packen diese auf Paletten. Vier Tonnen Wurst gehen an diesem Tag nach London, weitere vier Tonnen zu einem Großhändler ins Ruhrgebiet.

    "Ich würde gerne mehr in Deutschland verkaufen. Der Geschmack der Deutschen ist ähnlich wie der der Polen. Und Deutschland ist ein großes Land, wo man viel verkaufen kann."

    Doch der Auslandsmarkt ist schwierig, der Preisdruck durch die großen Handelsketten genauso groß wie in Polen. Deshalb schickt Mroz statt der Wurst lieber seine Wurstmacher gen Westen.

    "Im letzten Jahr arbeiteten 220 meiner Fleischer in Deutschland. Dieses Jahr sind es 320. Die verdienen dort gutes Geld. Nach einer bestimmten Zeit kommen sie dann wieder zu mir zurück, dann gehen die nächsten. Und ich glaube, das ist gut für die Firma und die Arbeiter. Ich bin doch Realist: Soviel wie in Deutschland kann ich hier nicht bezahlen."

    Schlachten für Euro in Deutschland, Wurst produzieren für Zloty in Polen. Das ist Metzger-Management a la Mroz. Der 53-Jährige nickt zufrieden, beugt sich über einen Wurstkarton und holt eine Packung polnische Weißwurst heraus und steckt sie in die Kitteltasche: seine Wurst-Ration fürs Wochenende.

    "Bei mir zuhause ist es Tradition, am Sonntag zum Frühstück warme Wurst zu essen. Alles Würste, die wir produzieren, von Dampfwurst bis zur Weißwurst, werden in einem großen Kessel warm gemach, und zwar reichlich. Jeden Sonntag um neun wird dieses Frühstück von mir vorbereitet. Und allein deshalb möchte ich, dass der Geschmack der polnischen Wurst erhalten bleibt."


    Einst war Russland der wichtigste Abnehmer von polnischem Fleisch und polnischer Wurst, bis es vor gut einem Jahr zu einem Eklat kam: Russland bezichtigte polnische Produzenten, Waren mit gefälschten Veterinär-Dokumenten geliefert zu haben, also Gammelfleisch, und verhängte einen Einfuhrstopp. Der Konflikt um die russischen Importverbote wurde zum Testfall für die europäische Solidarität, denn Polen protestierte dagegen, indem es mit seinem Veto die Ratifizierung des EU- Partnerschaftsvertrags mit Russland blockierte.

    Natürlich werden in Polen auch Würste mit geringerer Qualität produziert, denn zwischen den großen Handelsketten tobt ein erbitterter Preiskampf. Und standardisierte Rezepturen sorgen bekanntlich für kalkulierbare Kosten.

    "Wasser zum Schneiden", so lästern Wissenschaftler über einige dieser Billigwürste. Doch der polnische Verbraucher, so scheint es, stemmt sich gegen den Trend zur Massenwurst.


    Von inneren Werten und wässrigen Würsten - Der Wurstforscher der Landwirtschaftlichen Akademie Breslau

    Eine Probe nach der anderen kratzt die Laborassistentin aus der Petrischale, befördert sie in ein Reagenzglas, beschriftet es, stellt es in die Halterung. Im Hintergrund surren die Kühlaggregate, rotieren die Zentrifugen. Neonröhren an der Decke tauchen den Laborraum in ein kaltes Licht. Professor Tadeusz Szmanko kommt herein, grüßt kurz, wirft einen Blick auf den aktuellen Probenplan

    "Die Produzenten, obwohl sie in verschiedenen Regionen sind, produzieren Würste mit gleichem Geschmack. Wir haben es untersucht: die Produkte haben die gleichen Werte."

    Tadeusz Szmanko nickt bestimmt. Der untersetze Mittsechziger mit dem markanten Backenbart steht im weißen Kittel im Labor der landwirtschaftlichen Akademie in Breslau. Die Qualitätsbestimmung von Lebensmitteln, vor allem aber von Fleischwaren, das ist sein täglich Brot.

    "Wenn in der Wurst Fleisch ist, dann ist es ein gutes Produkt. Aber wenn Sojaeiweiß drin ist und dazu noch ein paar Komponenten, die das Wasser binden, dann haben wir keinen natürlichen Fleischgeschmack mehr. Es gibt chemische Substanzen, die verstärken zum Beispiel den Brühegeschmack. Es gibt Zutaten, die machen aus 100 Prozent Rohstoffen 140 Prozent Wurst."

    Mit Schaudern denkt Szmanko da an ein Produkt, das in Polen hergestellt wurde, auf Bestellung, wie er sagt, um dann weiter nach Osten exportiert zu werden.

    "Es war die billigste Wurst, eine Dampfwurst. Ich kann ihnen sagen, wie einfach es ist, billige Wurst zu produzieren. Früher ging die Haut zum Gerber, jetzt haben wir die Technologie, um Haut und Schwarte mit in die Wurst zu geben. Die Haut zieht dann schön Wasser ein."

    Szmanko schüttelt den Kopf. Alles technisch machbar und essbar. Nur mit Wurst hat es nicht mehr allzu viel zu tun.

    "Ich habe hier ein Büchlein mitgebracht, wo die polnischen Würste drin vorgestellt sind. Der Autor hat 1926 über Krakauer Erzeugnisse geschrieben. Da gibt es 46 Rezepturen nur für Salami. Und warum war es so populär ? Es war die einfachste Methode Fleisch zu konservieren."

    Trocknen und Räuchern, das macht die Wurst haltbar. Und, da lächelt Szmanko, alle Spuren führen nach Krakau, an die Wiege der Wurst gewissermaßen:

    "Die ältesten Räuchereien Europas wurden in der Nähe von Krakau entdeckt, von einem Dietrich Müller, einem Deutschen. Die waren aus der Steinzeit. Und darüber schreibe ich auch."

    Wurst historisch betrachtet. Und seit Urzeiten, das steht für Szmanko fest, hat die Region um Krakau nichts von ihrer Wurstführerschaft eingebüsst.

    "Eine der besten Würste ist die Krakauer. Sie gilt als besonders schmackhaft. Und ich glaube, wenn es um Qualität geht, hat sie auch das höchste Niveau. Sie wird aus großen Fleischstücken produziert."

    Und wer mit großen Fleischstücken arbeitet, sagt der Professor, kann nicht so leicht manipulieren. Allerdings sei die Qualität der vierbeinigen Rohstofflieferanten durchaus verbesserungswürdig, urteilt der Wissenschaftler.

    "In Polen werden auch Fleischexperimente durchgeführt, zum Beispiel Hausschweine mit dem Wildschwein gekreuzt. Das Wildfleisch hat wegen seiner dunklen Farbe nicht viele Befürworter, weil es optisch nicht attraktiv ist. Das Fleisch aus der Kreuzung aber ist nicht dunkel."

    Zurück zur Natur. Halbwegs, mit dem Wild-Hausschwein.

    "Aus diesem Fleisch haben wir im Labor Würste produziert und haben dann Vertreter von der Industrie eingeladen, um es zu probieren. Und sie waren begeistert, obwohl wir alles bei uns im Institut hergestellt haben und nicht in der Fabrik."

    Ein klarer Erfolg für den besseren Geschmack, urteilt der Wissenschaftler, und ein Armutszeugnis für das heutige Hausschwein. Das ist mittlerweile bereits nach vier Monaten schlachtreif. Vor einigen Jahren dauert es noch doppelt solange

    "Es hat sich bestätigt, dass die Schweine heutzutage geschmacklos sind. Alles wurde gemacht, um aus ihnen mehr und mehr Fleisch herauszukriegen. Unsere Mischlinge hatten nicht soviel Fleisch. Und die Zeit der Mast dauerte länger."

    Weniger Fleisch und längere Mast, dafür noch bessere Wurst. Das ist eine Marktlücke. Da ist sich Tadeusz Szmanko ganz sicher.

    Die Geschichte, die Leszek Herman in seinem Roman "Der Klub der polnischen Wurstmenschen" erzählt hat ein Happy End. Die geklonten Wurstmenschen schaffen es tatsächlich, nach Deutschland zu kommen. Und sie landen nicht in der Wursttheke, sondern sie finden bei hilfsbereiten Deutschen und Polen Zuflucht - und einer von ihnen sogar die große Liebe.
    "Sie haben in Berlin einen Klub eröffnet - den 'Klub der polnischen Wurstmenschen' - und ihr Manifest formuliert. Sie sind berühmt geworden als diejenigen, die im Westen die Unvollkommenheit zur Mode gemacht haben. Dies war ein Erfolg jener Regel, die besagt: 'Wenn sich an einem perfekten Ort auf einmal zu viele Professionalisten einfinden, muss jemand den Idioten spielen, um eine große Katastrophe zu vermeiden.' Die Wurstmenschen haben diese Rolle angenommen und freuen sich, dass sie in diesem Land etwas gefunden hatten, was man noch verbessern konnte."

    In der Volksrepublik Polen hatte die Wurstvielfalt keine Konjunktur. Während die Kollektivierung der Landwirtschaft an den erheblichen Widerständen der Bauern scheiterte, setzte der Staat bei den privaten Metzgern und Schlachtern die sozialistische Doktrin um, verstaatlichte die Läden, machte die einstmals Selbstständigen zu Arbeitern. Es war die Zeit der sozialistischen Einheitswurst und die Zeit der Lebensmittelrationierungen. Doch die Wurstvielfalt überlebte im Untergrund. 1989, nach dem Ende der Volksrepublik Polen, feierte sie ihre Auferstehung. Hunderte von kleinen Metzgereien eröffneten neu und belebten die alten Traditionen.


    Von der sozialistischen Einheitswurst zur Qualitätsware - Slominskis Metzgerei

    Boguslaw Woch stützt sich mit der rechten Hand auf einen dünnen Gehstock und beugt sich weit nach vorn, bis seine Nase fast das Glas der Fleischtheke berührt. Durch die dicken Brillengläser inspiziert der 82-Jährige das Angebot und entscheidet sich dann für zwei Blutwürste. Der Rentner richtet sich auf, drückt den Rücken durch, zeigt mit dem Stock auf eines der alten Schwarz-Weiß-Fotos, das im Großformat gegenüber der Fleischtheke hängt.

    "Hier ist der Eduard mit seiner Frau. Und hier ist Opa Slominski mit den Lehrlingen."

    Alle stehen vor demselben alten Hauseingang, die Männer mit weißen Schürzen, einen Arm in die Hüfte gestemmt, mittendrin, mit markantem Schnauzer, den Blick direkt in die Kamera gerichtet: der Großvater: Gracian Slominski. 1935 steht unter dem Foto

    "Vor dem Krieg da stand er immer auf dem Markt. 'Die heiße Wurst nur bei Slominski' . Er hatte so eine Reklame, ein großes Schild. Das alles habe ich nicht vergessen."

    Schon sein Vater kaufte bei Slominskis. hier in dem kleinen Metzgerladen. "Tradition seit 1904", steht noch heute über der Fleischtheke. Slominski machte Wurst unter dem Kaiser, in der Weimarer Republik, unter den Nazis. Die politischen Systeme wechselten, Slominskis Wurst blieb, bis 1952 in Polen die Kollektivierung begann und sein Laden kurzerhand verstaatlicht wurde. Doch die Kunden sagten weiter: "Wir gehen zu Slominski."

    "Es war alles mal besser und mal schlechter in den 50er-Jahren. Aber wenn hier eine Kiste Wurst gebracht wurde, haben sich alle ganz ruhig in die Schlange gestellt."

    Eine elegante Mittfünfzigerin kommt herein, grüßt kurz Kunden und Verkäuferinnen, die Tochter der einstigen Besitzer, Zdislawa Slominski.

    "Die Firma wurde 1952 geschlossen, aber meine Mutter hat ja als Verkäuferin weitergearbeitet. Und die Kunden sagten: 'Frau Slominski, die Wurst vom Nachmittag schmeckt ja viel besser.' Die hatte mein Vater im Hinterhof gemacht. Und die wurde dann unter der Hand verkauft."

    Die Slominski-Wurst als Akt des zivilen Ungehorsams, eine Frage der Ehre, ein kulinarisches Bekenntnis gegen die Massenware, den sozialistischen Einheitsgeschmack. Doch mehr als 30 Jahre bestimmte der Staat das Angebot in dem kleinen Laden. Dann brach das System zusammen.

    "Walesa sagte: 'Nehmt die Sachen jetzt in die eigenen Hände.' Das war der Anfang des Kapitalismus in Polen. Er hat uns die Richtung vorgegeben."

    Zdislawa Slominski ist Dozentin für russische Philologie, ihr Mann Mathematiker an der Universität. Trotz ihrer akademischen Berufe entschließen sie sich nach der politischen Wende, die Tradition der Metzgerei weiterzuführen.

    "Als wir angefangen haben, da lebte mein Vater noch. Und er war dagegen, dass wir es machen wollten. Er sagte immer: 'Ihr schafft es nicht, ihr habt doch keine Ahnung.' Und immer wieder sagte er: 'Ich bitte Sich, mach alles, nur keine Wurst.'"

    Zdislawa Slominski ließ sich dennoch nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Sie stellte einen Metzger ein und reaktivierte ihren Vater, der einige Rezepte beisteuerte, obwohl er kritisch blieb bis zu seinem Tod.

    "Mein Mann als Philosoph und Mathematiker sagte: 'Die Wurst zu machen ist keine Philosophie. Man muss nur die richtigen Rezepte haben, auf Sauberkeit achten und die richtigen Leute finden.'"

    Die haben sie gefunden und das Geschäft nach und nach ausgebaut. Heute beschäftigen sie knapp 100 Angestellte, haben Filialen in Breslau und Danzig, außerdem einige kleine Geschäfte im deutsch-polnischen Grenzgebiet.

    "Es war leicht, alle wussten, wir sind die Wurst. Für uns war es leicht etwas zu verkaufen, besonders in dieser Region. In Polen hat 1989 niemand außer uns versucht, für seine Produkte mit dem eigenen Namen zu werben."

    Wurst-Wirtschaftswunder, Zukunft dank Tradition. Ihr Vater wäre heute stolz auf den Betrieb, sagt Zdislawa Slominski. In den letzten Jahren hat sie mit ihren Produkten fast alle polnischen Preise gewonnen, die es als Auszeichnung für Qualitätswürste zu gewinnen gibt.


    Literatur: Leszek Herman, "Der Klub der polnischen Wurstmenschen", Ullstein Verlag, 2004; Übersetzung: Adam Gusowski und Michal Szalonek