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Wunderwurm aus dem Meer

Biologie. - Schneiden wir uns in die Hand oder verlieren wir Blut bei einem Unfall, gleichen Stammzellen den Verlust aus. Doch ganze Organe oder Gliedmaßen können sie nicht ersetzen. Ganz anders im Tierreich: Manche Spezialisten können aus wenigen Restteilen ganze Körper regenerieren.

Von Michael Lange |
    Er lebt an den Küsten der Meere, überall auf der Welt: Der Plattwurm Macrostomum. Er ist nur einen Millimeter lang, fast durchsichtig und mit bloßem Auge kaum zu sehen. Peter Ladurner vom Institut für Zoologie und Limnologie der Universität Innsbruck züchtet ihn im Labor.

    "Das ist ein sehr ursprünglicher Plattwurm. Die zeichnen sich dadurch aus, dass sie sehr einfach gebaut sind. Alle Organsysteme sind sehr einfach, das Nervensystem ist einfach, die Reproduktionsorgane, das Muskelsystem ist einfach. Aber sie zeichnen sich wie alle Plattwürmer dadurch aus, dass sie ein totipotentes Stammzellensystem haben. "

    Das heißt: im Körper der Plattwürmer gibt es Stammzellen, aus denen bei Bedarf ein ganzer, neuer Wurm entstehen kann. Mit dem Messer ist der Wurm nicht umzubringen, wunderte sich schon vor 75 Jahren der spätere Nobelpreisträger Thomas Hunt Morgan. Er hatte den winzigen Wurm in über 200 Teile zerschnitten und ebenso viele neue Würmer erhalten. Geklonte Würmer – erzeugt mit nichts als einer scharfen Klinge. Diese Regenerationsfähigkeit macht Plattwürmer einzigartig in der gesamten Tierwelt. Peter Ladurner will wissen, wie sie das machen.

    "Das basiert auf dem Stammzellen-System von diesen Tieren. Jedes Teil hat Stammzellen, und diese Stammzellen beginnen sich zu teilen und sorgen dafür, dass alle anderen Zelltypen – Nervenzellen, Muskelzellen, Hautzellen, Darmzellen – wieder gebildet werden, und auch die Keimzellen. "

    Es entstehen übrigens Keimzellen beider Geschlechter. Denn Plattwürmer sind Hermaphroditen. Jedes Tier ist zugleich Männchen und Weibchen. Je nach Umwelt und je nach Bedarf bildet ein Plattwurm viele oder wenige Eizellen, große oder kleine Hoden. Welche Rolle die Stammzellen dabei spielen, muss noch untersucht werden. Die Innsbrucker Zoologen haben nun begonnen, die einzelnen Stammzellen im ganzen Tier zu markieren und ihre Entwicklung zu verfolgen. Eines steht bereits fest: die Stammzellen bleiben lebenslang flexibel, sie behalten ihre Teilungsfähigkeit und warten überall im Wurm auf ihren Einsatz. Aber diese Alleskönner-Zellen bergen auch Risiken.

    "Man kann sagen, dass im Prinzip ein Stammzellen-System, das totipotent ist, auch sehr gefährlich sein kann. Ein Fehler im System, wenn etwa eine Stammzelle eine fehlerhafte Teilung durchläuft, kann zu Krebs führen, und das ist dann sehr gefährlich. "

    Die Teilung und die Entwicklung der Zellen müssen ständig durch Erbanlagen kontrolliert werden. Deshalb haben sich die Zoologen in Innsbruck die Gene ihrer Plattwürmer genauer angeschaut. Erste Erkenntnisse zeigen: Die Erbanlagen, die die Stammzellen der Plattwürmer steuern, sind keineswegs so einzigartig wie die Fähigkeiten der Tiere.

    "Die Gene, die wir bei unseren Würmern anschauen, findet man auch in den Stammzellen-Systemen beim Menschen. Und weil diese Tiere sehr einfach gebaut sind, kann man sie sehr gut als Modell-Organismen verwenden, um die Stammzellen-Differenzierung und die molekularen Grundlagen zu untersuchen. "

    Einige Stammzellenforscher haben das bereits begriffen. Im Büro von Hans Schöler im Max-Planck-Institut für Molekulare Biomedizin hängt das "Vorbild Plattwurm" als Poster an der Wand.

    "Wir wollen versuchen, diese zu verstehen, um dann zu sehen, ob wir mit dem Wissen auch für regenerative Prozesse im Menschen Nutzen ziehen können. Denn das ist etwas, das kann ja der Mensch nicht. Wenn wir uns jetzt einen Finger abschneiden, dann wächst ja kein Finger nach. Das können dann bestimmte Amphibien oder diese Plattwürmer. Aber der Mensch kann das nicht. Und da ist dann die Frage: weshalb können wir das nicht? "

    Mediziner wollen vom Plattwurm lernen, wie Regeneration funktioniert. Ihr Ziel ist es, zerstörtes Gewebe in ihren Patienten durch Stammzellen zu reparieren – so wie es Plattwürmer seit Millionen Jahren von Natur aus tun.