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Wunschdenken und Wirklichkeit im Nordkaukasus

1994 begann mit dem Einmarsch russischer Truppen der erste Tschetschenienkrieg. Die Kämpfe dauerten zwei Jahre. 1999 begann der zweite Krieg. Moskau hat ihn vor geraumer Zeit als "beendet" bezeichnet. Die Menschen in Tschetschenien sehen das anders. Nun finden am kommenden Sonntag Parlamentswahlen in dem vom Krieg gebeutelten Land statt.

Von Isabella Kolar |
    Tschetschenen wollen tanzen und nicht kämpfen, ihr Ziel ist Frieden und nicht Krieg - vor kurzem machte mit dieser indirekten Botschaft der "Zug der Freundschaft" aus Tschetschenien auf seinem Weg kreuz und quer durch Russland auch in der Hauptstadt Moskau halt. Eine Idee der Moskau-loyalen tschetschenischen Regierung, umgesetzt vom weltbekannten tschetschenischen Tanzensemble "Vajnach". In bunten Samtgewändern wirbelten seine Tänzerinnen und Tänzer über die Bühnen der russischen Hauptstadt. Sultan Karujew ist einer von ihnen:

    "Wir wollen den Menschen in Russland und anderswo zeigen, dass wir keine Terroristen und Banditen sind, wir wollen ihnen unsere Kultur zeigen, was wir für Leute sind und wie wir fühlen. Dass wir den Krieg nicht lieben und im Frieden mit unseren Nachbarn leben wollen. "
    Sultan ist inzwischen zurückgekehrt in seine Heimat, nach Grosny, in die Hauptstadt Tschetscheniens. Tatjana Lokschina, Nordkaukasus-Beobachterin der Helsinki-Föderation, reist seit Jahren regelmäßig nach Tschetschenien. Sie wird auch zu den Parlamentswahlen am kommenden Sonntag wieder nach Grosny fahren. Vor vier Wochen war sie das letzte Mal dort. Ihr Eindruck:

    "Wenn man jetzt nach Tschetschenien reist, dann fallen einem natürlich erst einmal bestimmte äußere Anzeichen von Verbesserung auf. In Grosny sind die Straßen voller Autos, viele Menschen auf den Straßen, gut gekleidete junge Leute, geöffnete Geschäfte und Cafes - das heißt, es gibt eine gewisse Illusion von Normalität. Wenn man aber etwas die Augen hebt, dann sieht man, dass nur die Erdgeschosse dieser Häuser repariert worden sind, alles darüber ist zerstört. Diese Normalität ist nur eine sehr dünne Schicht über der Willkür und dem schrecklichen Geschwür des Krieges, das jeden Moment unvorhersagbar wieder aufbrechen kann. "
    Von einer ständig präsenten Atmosphäre der Angst und des Misstrauens berichten alle, die Tschetschenien in den letzten Wochen besucht haben. Einen Guerilla-Krieg nennen Experten das, was sich zur Zeit in der russischen Teilrepublik abspielt. Anna Politkovskaja, kreml-kritische Tschetschenien-Expertin, kennt die Beteiligten:

    "Die Menschen in Tschetschenien leben unter dem Joch ganz verschiedener Formen des Terrorismus: da ist der Terrorismus der tschetschenischen Rebellen, die ihre eigenen Leute terrorisieren, wenn diese - wovor Gott sie bewahren möge - in irgendwelchen staatlichen Strukturen arbeiten. Aber irgendwo müssen sie ja arbeiten! Dann ist da der Terrorismus der föderalen russischen Streitkräfte, d.h. der Staatsterrorismus, der sich in erster Linie gegen die Bürger und erst in zweiter gegen die Rebellen richtet. Und die dritte Form heute ist der Terrorismus der so genannten Moskau-treuen tschetschenischen Strukturen, d.h. der Leute um Kadyrow. Im Augenblick geht von denen die größte Gewalt aus. Die Tschetschenen selbst formulieren das so: ‚Grausamere Leute als unsere "Eure" gibt es heute in Tschetschenien nicht. "
    Das personifizierte Endprodukt der vom russischen Präsidenten Putin seit 2002 entwickelten Idee von der Tschetschenisierung des Konflikts ist Vizepremier Ramsan Kadyrow. Er ist der starke Mann im heutigen Tschetschenien. Seine Todesschwadronen, die "Kadyrowzi", terrorisieren die Zivilbevölkerung Tag und Nacht mit so genannten "satschistki", den gefürchteten Säuberungsaktionen. Ramsan Kadyrow darf sich "Held Russlands" nennen. Diese Auszeichnung erhielt er kurz nachdem sein Vater, Präsident Achmat Kadyrow, ermordet worden war. Der Krieg hat ihn reich gemacht, er herrscht über das gesamte Benzin- und über Teile des Erdölgeschäfts in der zutiefst korrupten Nordkaukasus-Republik.

    Und auch die russischen Streitkräfte in Tschetschenien leben vom Krieg: ihre kriminelle Erwerbstätigkeit wird inzwischen auch von offiziellen Funktionsträgern bestätigt. Ihre makaber-einträglichen Verdienstquellen: Säuberungsaktionen, reger Handel mit Waffen, mit Entführten, sogar mit Leichen.

    Vor kurzem, im September, mußte Putin im russischen Fernsehen einräumen, dass die Armee unfähig sei, in Tschetschenien für Sicherheit zu sorgen. Die Wahlen am 27. November seien ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung:

    "Um das Problem zu lösen ist eine politische Regelung in Tschetschenien das Wichtigste. So viele Menschen wie möglich sollten sich an diesem Prozess beteiligen. Ich glaube, dass die Parlamentswahlen in Tschetschenien hier eine große Bedeutung haben. Ich finde, dass dort Menschen mit den unterschiedlichsten politischen Überzeugungen ihren Platz finden müssen, um alle strittigen Fragen offen, zivilisiert und ohne Gewalt zu lösen. "
    Zu dieser Einsicht benötigte der Kreml immerhin mehr als ein Jahrzehnt. 1994 begann mit dem Einmarsch russischer Truppen der erste Tschetschenienkrieg, für viele der nicht wieder gut zu machende Sündenfall Russlands im Kaukasuskonflikt. Die Kämpfe dauerten zwei Jahre. 1999 begann der zweite Krieg. Moskau hat ihn vor geraumer Zeit als "beendet" bezeichnet. Die Menschen in Tschetschenien sehen das anders. Tatjana Lokschina:

    "Bis heute verschwinden Menschen in Tschetschenien. Bis heute finden unglaublich viele Hinrichtungen statt. Bis heute werden Menschen gefoltert. Junge Leute werden mitten in der Nacht von irgendwelchen Bewaffneten geholt. Man nimmt einen jungen Mann, sie foltern ihn sehr grausam, oft mit Elektroschocks, sie verprügeln, vergewaltigen ihn. Und man stellt ihnen ziemlich abstrakte Fragen: "Was weißt du über die Rebellen? Wen kennst Du?" - Man verlangt, dass sie Namen nennen und natürlich nennen sie dann welche. Sie geben Leute an, die überhaupt nichts getan haben. Die werden dann geholt und auch die nennen dann wieder irgendwelche Namen... Das ist so ein schrecklicher Teufelskreis. "
    Folter, Willkür, Tod und Leid ständig vor Augen, Hoffnungslosigkeit, eine reale Arbeitslosigkeit von über 80 Prozent in Tschetschenien und die desolate wirtschaftliche Lage - dieser Zustand garantiert den tschetschenischen Rebellen ständigen Zulauf. Verhindert werden soll aus Sicht Russlands eine Abspaltung Tschetscheniens und ein möglicher Dominoeffekt, der andere russische Teil-Republiken zur Nachahmung inspirieren könnte. Terrorakte wie in Naltschik in Kabardino-Balkarien vor anderthalb Monaten und wie in Beslan vor über einem Jahr zeigen, dass dieses Kalkül Moskaus bisher nicht aufgegangen ist.

    Experten warnen vielmehr vor einem sich abzeichnenden Flächenbrand im Kaukasus. Wladimir Putin versuchte sich in diesem Konflikt von Anfang an als starker Mann und entschlossener Kriegsherr zu profilieren. Härte als Reaktion ersetzt mangelnde Strategie. Die Bilanz bis heute: Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial hat hochgerechnet, dass in beiden Kriegen bislang 75.000 Zivilisten und 14.000 Militärs getötet worden sind. Die Parlamentswahlen am kommenden Sonntag markieren den vorläufigen Schlusspunkt eines Prozesses, der mit einem weithin als gefälscht bezeichneten Verfassungsreferendum begonnen hatte und im August 2004 mit ebenso fragwürdigen Präsidentschaftswahlen weiterging, die Alu Alchanow, der Kandidat Moskaus, gewann. Dass am nächsten Sonntag wieder gefälscht werden wird, glaubt auch Alexander Malaschenko, Kaukasus-Experte vom Moskauer Carnegie-Institut. Allerdings weiß er, dass diesmal auch der eine oder andere unabhängige Kandidat zugelassen wird:

    "Es gibt eine gewisse Hoffnung, dass im Unterschied zu den letzten Wahlen die Menschen auf regionaler Ebene die Chance haben werden, für diejenigen Kandidaten zu stimmen, die sie wirklich wollen. Das heißt nicht, dass das überall passieren wird. Kadyrow übt großen Druck aus. Doch es ist im Interesse des Kreml, eine Opposition zu Kadyrow zu haben. Denn wenn es in Tschetschenien niemanden gibt, der ihn offen kritisieren darf, dann kann er den Kreml und Putin selbst in eine Sackgasse führen. "
    Memorial-Mitarbeiterin Tatjana Kasatkina teilt diesen Optimismus nicht. Sie war Augenzeugin bei den jüngsten Wahlen:

    "Wir sind diese Straßen entlang gelaufen und haben geschaut, wer in die Wahllokale kommt. Und wir haben gesehen: Es waren Wahlen - ohne Menschen. An bestimmten Orten haben sie die Leute bedroht: "Wenn Du nicht kommst, kann es sein, dass es dich schon morgen nicht mehr gibt." - Das heißt: entweder haben sie die Leute gezwungen - oder die Wahlscheine gleich für sie ausgefüllt. In einer Atmosphäre der Angst können selbstverständlich auch keine demokratischen Wahlen stattfinden. Das sind "Potemkinsche Dörfer". "
    Offizielle westliche Beobachter sind bei diesen Wahlen nicht anwesend. Die EU verweist auf die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit. Für die OSZE, die sich Ende 2002 aus dem Nordkaukasus verabschiedet hat, handelt es sich um regionale Wahlen, für die sie - ganz abgesehen von den Sicherheitsbedenken - nicht zuständig sei. Tatjana Lokschina von der Helsinki-Föderation erfuhr schon vor vier Wochen in Grosny, wie das Endergebnis der Wahl auszusehen hat:

    "Es ist bekannt, dass die Putin-Partei "Einiges Russland" 80 Prozent bekommen wird. Das haben mir die Vertreter der Partei in Grosny selbst gesagt. Auf der anderen Seite geht die rechts-zentristische Partei SPS davon aus, dass sie - wie mit dem Kreml vereinbart - mindestens 6,5 / maximal acht Prozent bekommt. Und die liberale "Jabloko"-Partei stellt sich auf 6 bis sieben Prozent ein. Das heißt: Alles ist schon vorher bekannt und wie immer: Gewählt hat der Kreml. "
    Alu Alchanow, tschetschenischer Präsident von Putins Gnaden, wertet die bevorstehenden Wahlen dennoch als den Abschluss eines gelungenen Normalisierungs- und Demokratisierungsprozesses in seiner Republik:

    "Eine soziologische Untersuchung, die in Tschetschenien vor den Parlamentswahlen durchgeführt wurde, hat gezeigt, dass auf dem ersten Platzsozial-ökonomische Fragen stehen. "
    Darin weiß Alchanow sich einig mit dem Amtsprecher des russischen Aussenministeriums Michail Kaminin, der gegenüber dem Deutschlandfunk folgende schriftliche Erklärung abgab:

    "Die Situation in der Republik normalisiert sich allmählich. Wer das Gegenteil behauptet, kennt entweder die Situation in Tschetschenien nicht oder will die positiven Veränderungen nicht sehen... Die Durchführung von Wahlen beweist geradezu, dass dort politische Prozesse stattfinden, auf deren Fehlen sich unsere Kritiker so oft beziehen. "

    Wahr ist: Die Kritiker sind weniger geworden. Seit dem 11. September 2001, den Terroranschlägen in den USA, vertritt Russland die Auffassung, die tschetschenische Unabhängigkeitsbewegung sei Bestandteil des organisierten internationalen Terrorismus. Viel deutet darauf hin, dass einige tschetschenische "Warlords" mit El Kaida zusammenarbeiten. Saudi-Arabien, so heißt es, unterstützt arabische Söldner finanziell und hilft über religiöse Stiftungen und Wohltätigkeitsvereine. Aber auch aus Jordanien und anderen Staaten des Mittleren Ostens soll Hilfe nach Tschetschenien gelangen.

    Doch die Ausmaße dieser Kooperation werden von russischer Seite deutlich übertrieben. Die meisten Tschetschenen kämpfen nicht für die Errichtung eines islamischen Gottesstaates sondern für die politische Unabhängigkeit ihrer Republik. Nur ein geringer Teil der Kämpfer besteht aus fundamentalistischen Eiferern. Die aber werden von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt. - Tschetschenien-Expertin Anna Politkowskaja:

    "Ich weiß, dass es radikale Muslime gibt. Es gibt sie in Tschetschenien, in Inguschetien, in Kabardino-Balkarien und in Nordossetien. Ob sie unter dem Einfluss von Bin Laden stehen, ist mir nicht bekannt. Da ich ab und zu mit ihnen rede, weiß ich, dass für ihre politischen Ziele internationale Muster nicht ausschlaggebend sind. Sie sprechen in der Regel nicht davon, dass auch ihr Kampf Teil des Kampfes aller Muslime dieser Welt sei, um den Islam durchzusetzen. Sie argumentieren etwa so: "In unserer Republik hat es die und die Gewalt gegen Glaubensbrüder gegeben, das lassen wir nicht zu, wir werden kämpfen." - Es handelt sich also eher um eine nach innen gerichtete Argumentation. "
    Doch Moskaus Stigmatisierung des gesamten tschetschenischen Widerstands als Brutstätte fundamentalistischer Terroristen entlastet Putins Russland von westlichem Druck, nach einem Kompromiss suchen zu müssen. Der bislang letzte ernsthafte Partner auf der anderen Seite, Aslan Maschadow, 1997 frei und legitim gewählter Präsident der Tschetschenen, ist im März dieses Jahres liquidiert worden. Alles deutet auf den russischen Inlandsgeheimdienst FSB als Urheber.

    Maschadow sei Opfer seiner ständig demonstrierten Gesprächsbereitschaft geworden, klagen seine Anhänger. Sein vom tschetschenischen Untergrund ernannter Nachfolger Abdul Sadulajew, gilt als wesentlich weniger kompromissbereit. Nicht zuletzt nahm er den Top-Terroristen Schamil Bassajew als Vize-Premier in seine Gegenregierung auf. Apti Bisultanow, im Exil lebender Schriftsteller und Sozialminister Sadulajews, macht den Standpunkt der Rebellenführung klar:

    "Die ungeheuerliche Gewalt, mit der Russland jetzt bald im siebten Jahr auf dem Territorium Tschetscheniens und im gesamten Nordkaukasus vorgeht, diese ungeheuerlichen Verbrechen, sind der Grund für entsprechende Antworten. "
    Seine Meinung zu den Parlamentswahlen ist eindeutig:

    "Das sind von Okkupanten veranstaltete Wahlen. Wahlen auf einem okkupierten Territorium. Wahlen auf einem Territorium, auf dem sich bis zu 100.000 Soldaten befinden. Jeder Meter Erde ist voller Minen. Wahlen in einer faktisch geschlossenen ausgebrannten Zone, in der die Menschen keine Wahl haben. Von was für Wahlen kann man sprechen, in einem Gebiet, wo gekämpft wird, wo täglich Leute sterben, wo die Gewalt anhält. Dieses Land ist faktisch eine Leichengrube und ein Konzentrationslager. "

    Svetlana Ganuschkina, die im Rat des russischen Präsidenten für Menschenrechte sitzt, vermutet auch persönliche Gründe des russischen Präsidenten hinter dem Krieg im Nordkaukasus:

    "Putin leidet, wie mir scheint, unter einer gewissen Islamophobie. Er hat mir zweimal selbst gesagt, dass wir die Situation in Tschetschenien nicht verstehen, weil dort nämlich in Wirklichkeit ein islamisches Kalifat drohe. Dies begreift er offenbar als reale Gefahr für Russland und für sich persönlich. Hier liegt eine Ursache für den Kampf gegen den Islam in Russland. "
    Zwar haben verschiedene europäische Institutionen wie die Parlamentarische Versammlung des Europarates, die OSZE und die EU periodisch versucht, politischen Druck auf Russland auszuüben. Doch Russland hat das Thema Tschetschenien in internationalen Gremien stets erfolgreich abblocken können. Ob US-Präsident Bush, der britische Premier Blair oder auch der ehemalige Bundeskanzler Schröder - der Westen ist sich einig im Kampf gegen den Terrorismus. Er steht fest an der Seite Russlands, diesem für ihn so wichtigen Energielieferanten.
    Moskaus Definition vom Krieg in Tschetschenien als einer "inneren Angelegenheit" Russlands erfährt keinen Widerspruch, obwohl die UNO sich in anderen Weltgegenden beständig aufgerufen fühlt, sich aus humanitären Gründen in innere Angelegenheiten einzumischen: Etwa in Somalia, Angola, Mozambique, oder im Kosovo. Nur für Tschetschenien scheint dies nicht zu gelten. Die USA haben den Kaukasus zwar 1996 zu ihrer "strategischen Interessenzone" erklärt, gemeint sind dabei aber wohl nur die Ölvorkommen im kaspischen Raum sowie die strategischen Ressourcen in Zentralasien. Die Menschenrechte in Tschetschenien haben dort offenkundig keinen Platz. Doch gerade dort gebe es nicht nur Gründe, sondern auch rechtliche Grundlagen für die internationale Staatengemeinschaft, aktiv zu werden, sagt Tatjana Lokschina:

    "Russland hat zahlreiche Abkommen auf dem Gebiet der Menschenrechte unterzeichnet. Russland hat die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert. Alle Verbrechen in Tschetschenien verstoßen gegen deren Inhalt. - Russland hat das Abkommen der Vereinten Nationen über bürgerliche und politische Rechte ratifiziert. Wir können in diesem Fall von schwersten Verstößen dagegen sprechen. Ich bin davon überzeugt, dass die Vorgänge in Tschetschenien den Charakter eines inneren bewaffneten Konfliktes aufweisen - und dann ist natürlich die Genfer Konvention anzuwenden. Das ist dann nicht mehr eine innere Angelegenheit der Russischen Föderation. Das ist die Angelegenheit aller Partner Russlands im Rahmen der entsprechenden internationalen Abkommen. "
    Die russischen Kritiker des Tschetschenienkrieges und die Tschetschenen selbst fühlen sich vom Rest der Welt vergessen, verraten und verkauft. Sergej Kowaljow war zu Beginn des ersten Tschetschenienkrieges selbst einmal Menschenrechtsbeauftragter der russischen Regierung unter Präsident Boris Jelzin. Seine Kritik an der Politik des Westens ist deutlich und bitter:

    "Ihr erlaubt, dass in Tschetschenien die Macht gewaltsam übernommen wird und ein Volk zu Sklaven gemacht wird. Ihr erlaubt, dass unschuldige Menschen getötet werden. Ihr erlaubt euch, einen Menschen als euren verehrten Partner und Verbündeten anzusehen, der diese Politik organisiert. Einen Menschen, der es verdient hätte auf der Anklagebank zu sitzen. Der ehemalige jugoslawische Präsident Milosevic sitzt doch, oder? Ist dort kein Platz für Putin? "
    Ziel der russischen Politik ist es, die weltweit etwa 340.000 tschetschenischen Flüchtlinge wieder in ihre Heimat zu repatriieren - als Beweis für die vermeintlich normalen Zustände dort.

    Tatjana Lokschina von der Helsinki-Föderation glaubt nicht an von oben initiierte Projekte wie den tschetschenischen "Zug der Freundschaft", dessen Tänzer und Sänger kürzlich auch die russische Hauptstadt besucht hatten. Die Nordkaukasus-Expertin ficht seit Jahren den mühsamen Kampf der Petitionen, Hintergrundgespräche und öffentlichen Anklagen auf den Korridoren von Washington, Strassburg und Brüssel. Sie tut es, obwohl sie im tiefsten Innern eigentlich schon überzeugt ist: Der Kampf um die Wahrheit über Russlands Krieg im Nordkaukasus - er ist nicht zu gewinnen. Genauso wenig wie der Krieg selbst - am Ende wird es nur Verlierer geben.

    "Jedes Mal wenn ich nach Tschetschenien fahre und mir ansehe, was dort passiert, spüre ich endlose, schreckliche, blutige Gewalttätigkeit. Ein Ende all dessen ist heute nicht abzusehen. Dieser ganze Krieg ist eine Geschichte der verpassten Chancen, eine Geschichte der tragischen Fehler. Wenn aber zu viele Fehler gemacht worden sind, dann wird die Situation so schlimm, dass nur ein Wunder sie verbessern kann. "